I.

Das hatte gerade noch gefehlt. Ich griff nach meinem Pelz, warf ihn mir im Gehen um und eilte mit dem Gedanken hinaus: „Sie hat mich gebeten, zu ihm zu gehen, aber wo finde ich ihn jetzt?“

Doch neben allem anderen beschäftigte mich eine Frage, vor der meine Gedanken betroffen stillhielten: „Weshalb glaubt sie, daß jetzt etwas anderes eingetreten sei und er sie jetzt in Ruhe lassen werde? Natürlich deshalb, weil er Mama heiraten wird. Aber was war das: freute sie sich nun darüber, daß er Mama jetzt heiraten kann, oder war sie, im Gegenteil, gerade deshalb unglücklich? Und deshalb vielleicht der hysterische Anfall? Warum kann ich nun diese Frage nicht entscheiden?“

Ich führe diesen zweiten Gedanken, der mich damals plötzlich durchzuckte, hier absichtlich wortgetreu an, damit ich ihn nicht vergesse: er ist zu wichtig. Dieser Abend war wirklich schicksalsschwer, und unwillkürlich fängt man an eine Vorherbestimmung zu glauben an: noch war ich keine hundert Schritte auf dem Wege zu Mamas Wohnung gegangen, als ich plötzlich mit demjenigen zusammenstieß, den ich suchte. Er faßte mich an der Schulter und hielt mich fest.

„Du bist’s!“ rief er erfreut und gleichzeitig wie in größter Überraschung. „Denke dir, ich war soeben in deiner Wohnung,“ sagte er schnell, „ich suchte dich, ich fragte nach dir – nur dich allein brauche ich jetzt von der ganzen Welt! Dein Beamter hat mir da Gott weiß was alles vorgeredet, aber du warst nicht da, und so ging ich wieder; und ich vergaß sogar, dir sagen zu lassen, daß du nach deiner Rückkehr unverzüglich zu mir kommen solltest. Aber wirst du’s glauben: ich ging doch in der felsenfesten Überzeugung fort, das Schicksal könne doch nicht so blind sein, dich mir nicht entgegenzuführen, gerade jetzt, wo ich deiner mehr denn je bedarf! Und da bist du auch richtig der erste, der mir begegnet! Komm, gehen wir zu mir: du bist noch niemals bei mir gewesen.“

Mit einem Wort, wir hatten uns gegenseitig gesucht, und jedem von uns war etwas Ähnliches begegnet. Wir gingen sehr eilig weiter.

Unterwegs sagte er nur in ein paar Worten, daß Tatjana Pawlowna bei Mama geblieben sei usw. usw. Er hatte mich untergefaßt und führte mich. Seine Wohnung lag nicht weit von dort, und wir langten bald an. Ja, ich war noch niemals bei ihm gewesen. Es war eine Wohnung von nur drei Zimmern, die er (oder vielmehr Tatjana Pawlowna) wegen jenes „Säuglings“ gemietet hatte. Diese Wohnung stand von Anfang an ganz unter Tatjana Pawlownas Aufsicht, und dort lebte nun die Wärterin mit dem kleinen Kinde (und jetzt auch noch Darja Onissimowna); aber eines der Zimmer – das erste, in das man unmittelbar aus dem Vorraum trat, ein ziemlich großer und mit Polstermöbeln recht gut ausgestatteter Raum – war für Werssiloff als eine Art Lese- und Arbeitszimmer eingerichtet. In der Tat sah man da auf dem Schreibtisch, im Schrank und auf den Bücherständern eine ganze Menge Bücher (die es in Mamas Wohnung fast gar nicht gab), ferner beschriebene Blätter, Briefe, zu ganzen Päckchen zusammengelegt und verschnürt, – kurzum, das Ganze machte den Eindruck eines schon lange bewohnten Raumes; und ich weiß, daß Werssiloff auch früher schon, wenn auch ziemlich selten, zeitweilig ganz in diese seine Wohnung übergesiedelt war und sogar wochenlang dort gewohnt hatte. Das erste, was meine Aufmerksamkeit auf sich lenkte, war Mamas Bildnis, das in einem schönen geschnitzten Rahmen aus kostbarem Holz über dem Schreibtisch hing – eine Photographie, offenbar eine ausländische Aufnahme, die, nach ihrem ungewöhnlichen Format zu urteilen, nicht wenig gekostet haben mußte. Ich hatte von diesem Bildnis nichts gewußt und nie etwas davon gehört; und was mich noch besonders überraschte, war die für eine Photographie ganz erstaunliche Ähnlichkeit, gerade die, ich möchte sagen, geistige Ähnlichkeit. Es war wie ein wirkliches Porträt von Künstlerhand und gar nicht wie eine mechanische Aufnahme. Als ich ins Zimmer trat, blieb ich sogleich und ganz überrascht vor diesem Bilde stehen.

„Nicht wahr? Nicht wahr?“ fragte plötzlich Werssiloff dicht hinter mir.

Er meinte damit: „Nicht wahr, wie ähnlich?“ Ich sah mich nach ihm um, und der Ausdruck seines Gesichts machte mich ganz betroffen. Er war etwas bleich, aber sein gespannter Blick brannte und strahlte gleichsam vor Glück und Kraft: einen solchen Ausdruck hatte ich noch niemals an ihm gesehen.

„Ich habe gar nicht gewußt, daß Sie Mama so lieben!“ sagte ich plötzlich selbst ganz beglückt.

Er lächelte glücklich, wenn auch in seinem Lächeln gleichsam ein Leid lag, oder richtiger, etwas schmerzlich Nachsichtiges, menschlich Höheres ... ich weiß nicht, wie ich das ausdrücken soll; aber mir scheint, daß hochentwickelte Menschen überhaupt nicht ein triumphierend glückliches Gesicht haben können. Ohne mir zu antworten, nahm er das Bild mit beiden Händen von der Wand, hielt es ganz nah vor sein Gesicht, küßte es plötzlich und hängte es dann vorsichtig wieder auf.

„Merke dir,“ sagte er, „photographische Aufnahmen sind sehr selten ähnlich, und das ist leicht zu erklären: das Original, das heißt, ein jeder von uns, ist ja auch im Leben nur äußerst selten sich selber ähnlich. Das Gesicht eines Menschen zeigt seinen charakteristischsten Zug eben nur in seltenen Augenblicken. Ein Künstler studiert das Gesicht, das er malen soll, und erhascht diesen eigentlichen Ausdruck des Gesichts, er errät sozusagen den Hauptgedanken des Menschen und gibt ihn im Bilde wieder, auch wenn das Gesicht des Betreffenden diesen Ausdruck während des Modellsitzens zumeist gar nicht hat. Die Photographie aber gibt den Menschen genau so wieder, wie er in dem einen Augenblick aussieht, und da ist es nicht ausgeschlossen, daß zum Beispiel Napoleon, in einem zufälligen Augenblick photographiert, auf der Photographie dumm aussehen könnte, und Bismarck – weichlich. Hier aber, auf dieser Photographie, hat die Aufnahme Ssonjä zufällig gerade im Augenblick ihres eigensten Ausdrucks angetroffen: in ihrer schamhaften, demütigen Liebe und scheuen, schreckhaften Keuschheit. Und sie war ja damals auch so glücklich, als sie sich endlich überzeugt hatte, daß es mich wirklich so sehr nach einem Bilde von ihr verlangte. Diese Aufnahme ist eigentlich vor gar nicht so langer Zeit gemacht, aber sie sah damals doch noch viel jünger und besser aus; dabei hatte sie auch damals schon diese eingefallenen Wangen, diese feinen Runzeln auf der Stirn und diese scheue Schüchternheit im Blick, die bei ihr jetzt mit den Jahren zu wachsen scheint – je länger, desto mehr. Wirst du’s mir glauben, Lieber: jetzt kann ich sie mir mit einem anderen Gesicht gar nicht mehr vorstellen, und doch ist sie einmal jung und reizend gewesen! Die russischen Frauen altern schnell, ihre Schönheit ist flüchtig, und das hat seinen Grund wahrlich nicht nur in einer ethnographischen Besonderheit des Typs, sondern auch darin, daß sie mit rückhaltloser Hingabe zu lieben verstehen. Die russischen Frauen geben alles auf einmal hin, wenn sie lieben, – den Augenblick und ihr ganzes Leben, die Gegenwart und die Zukunft; sie verstehen nicht, ökonomisch zu sein, sie sparen und geizen nicht, um des Vorrats willen, und so geht ihre Schönheit bald für den dahin, den sie lieben. Diese eingefallenen Wangen – das ist gleichfalls Schönheit, die für mich hingegeben ist, für meine kurze Lust. Es freut dich, daß ich deine Mutter geliebt habe, und du hast vielleicht sogar nicht einmal geglaubt, daß ich sie habe lieben können? Ja, mein Freund, ich habe sie sehr geliebt, und doch habe ich ihr nichts als Böses zugefügt ... Hier ist noch ein anderes Bildnis – sieh dir auch dies einmal an.“

Er nahm es vom Tisch und reichte es mir. Das war auch eine Photographie, nur in bedeutend kleinerem Format und in einem schmalen, ovalen Holzrähmchen – das Bild eines jungen Mädchens: ein schmales, schwindsüchtiges, doch trotz alledem schönes Gesicht, versonnen, und dabei doch bis zur Sonderbarkeit gedankenleer. Es waren die regelmäßigen Züge eines durch Generationen ausgebildeten Typs; aber sie machten einen krankhaften Eindruck: man hatte die Empfindung, daß sich plötzlich ein starrer Gedanke dieses Wesens bemächtigt hatte, der eben dadurch qualvoll war, daß er über seine Kraft ging.

„Das ... das ist jenes junge Mädchen, mit dem Sie sich trauen lassen wollten, und das an der Schwindsucht starb ... ihre Stieftochter?“ sagte ich ein wenig befangen.

„Ja, mit dem ich mich trauen lassen wollte, das an der Schwindsucht starb, ihre Stieftochter. Ich wußte, daß du ... alle diese Klatschgeschichten kennst. Übrigens, außer diesen hättest du auch nichts erfahren können. Leg’ das Bild hin, mein Freund, das war nur eine arme Irrsinnige und nichts weiter.“

„Wirklich irrsinnig?“

„Oder eine Idiotin; übrigens glaube ich, auch eine Irrsinnige. Sie bekam ein Kind vom Fürsten Ssergei Petrowitsch (infolge ihres Irrsinns, nicht aus Liebe; das ist eine der schändlichsten Taten des Fürsten). Das Kind ist jetzt hier, in jenem Zimmer, ich habe es dir schon lange zeigen wollen. Fürst Ssergei Petrowitsch darf weder herkommen noch das Kind sehen – laut unserer Verabredung im Auslande. Ich habe das Kind mit Einwilligung deiner Mutter zu mir genommen. Und gleichfalls mit Einwilligung deiner Mutter wollte ich mich damals trauen lassen mit dieser ... Unglücklichen ...“

„Ist denn eine solche Einwilligung überhaupt möglich?“ fragte ich erregt.

„O ja! Sie erlaubte es mir: eine Frau ist nur auf eine Frau eifersüchtig, diese aber war doch keine Frau.“

„Wenn sie es auch für alle anderen nicht war, für Mama war sie es! Das werde ich mein Lebtag nicht glauben, daß Mama nicht eifersüchtig gewesen sei!“ rief ich.

„Du hast recht. Das erriet ich erst, als alles schon beschlossen war, das heißt, als sie mir ihre Einwilligung gab. Aber lassen wir das. Jedenfalls kam es nicht dazu, da Lydia starb, aber vielleicht wäre es auch so nicht dazu gekommen, wenn sie am Leben geblieben wäre; deine Mutter aber lasse ich auch jetzt noch nicht zu dem Kinde. Das – war nur eine Episode. Mein Lieber, ich habe dich hier schon lange erwartet. Schon lange habe ich davon geträumt, wie wir hier zusammenkommen würden; weißt du, wie lange schon? – Schon seit zwei Jahren.“

Er sah mich aufrichtig und innig an, mit einer heißen Herzenshingabe. Ich ergriff seine Hand.

„Warum haben Sie dann gezögert, warum haben Sie mich nicht schon früher gerufen? Wenn Sie wüßten, was inzwischen ... und was nicht geschehen wäre, wenn Sie mich schon früher gerufen hätten! ...“

In diesem Augenblick wurde die Teemaschine gebracht, und Darja Onissimowna kam mit dem Kindchen, das ganz fest schlief.

„Sieh es dir an,“ sagte Werssiloff, „ich liebe es und habe es jetzt bringen lassen, damit du es siehst. So, bringen Sie es nun wieder hinaus, Darja Onissimowna. Und du setze dich hierher an den Tisch. Ich werde mir jetzt einbilden, wir zwei hätten ewig so gelebt und jeden Abend so zusammen verbracht, ohne uns jemals zu trennen. Laß mich dich ansehen: setze dich so, daß ich dein Gesicht sehen kann. Wie ich es liebe, dein Gesicht! Wie habe ich mir dein Gesicht vorzustellen versucht, als ich dich noch aus Moskau erwartete! Du fragst: warum habe ich dich nicht schon früher gerufen? Warte, das wirst du vielleicht erst jetzt verstehen.“

„Hat denn wirklich nur der Tod Makar Iwanowitschs Ihnen jetzt die Zunge gelöst? Das ist sonderbar.“

Aber wenn ich das auch sagte, so sah ich ihn doch mit viel Liebe an. Wir sprachen wie zwei Freunde, wie Freunde im höchsten und vollsten Sinn des Wortes. Er hatte mich hierher geführt, um mir irgend etwas zu erklären, zu erzählen, um etwas zu rechtfertigen; und dabei war schon alles, noch bevor er ein Wort gesagt hatte, erklärt und gerechtfertigt. Gleichviel, was ich von ihm jetzt noch gehört hätte – das Ergebnis war schon erreicht, und das wußten wir beide mit einem Glücksgefühl, und so sahen wir einander auch an.

„Nicht gerade der Tod dieses alten Mannes,“ antwortete er, „nicht dieser Tod allein; es ist noch etwas anderes, was damit zusammengetroffen ist ... Gott segne diesen Augenblick und unser Leben hinfort und auf lange! Mein Lieber, laß uns miteinander reden. Ich komme immer wieder vom Thema ab, ich will von dem einen reden und lasse mich von tausend nebensächlichen Einzelheiten ablenken. So geht es einem immer, wenn das Herz voll ist ... Doch reden wir jetzt miteinander; die Zeit ist gekommen, und ich bin schon lange in dich verliebt, Junge.“

Er lehnte sich in seinen großen Stuhl zurück und betrachtete mich noch einmal.

„Wie sonderbar, wie sonderbar sich das anhört!“ wiederholten meine Lippen, während die Seligkeit über mir zusammenschlug.

Und da, ich weiß noch, da erschien flüchtig wieder dieser eine seltsame Zug in seinem Gesicht – dieser Ausdruck von Trauer und Spott, beides zugleich, den ich schon so gut kannte. Aber er nahm sich zusammen und begann dann, gleichsam nach einer gewissen Anstrengung, langsam zu sprechen.

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