„Sieh, Arkadi, wenn ich dich früher gerufen hätte, was hätte ich dir da sagen können? In dieser Frage ist meine ganze Antwort enthalten.“
„Das heißt, Sie wollen sagen, daß Sie jetzt Mamas Mann und mein Vater sind, bisher aber ... Sie hätten wohl in betreff meiner sozialen Stellung nicht gewußt, was Sie mir sagen sollten? War es das?“
„Nicht nur darüber, mein Lieber, hätte ich nicht gewußt, was ich dir sagen sollte: da hätte ich noch über manches schweigen müssen. Und vieles davon ist beinah lächerlich und sogar erniedrigend, weil es fast wie ein Gauklerstückchen anmutet: in der Tat, wie eine richtige Jahrmarktszauberei. Nun, sag’ doch selbst, wie hätten wir denn einander früher verstehen können, wenn ich mich selbst erst heute um fünf Uhr nachmittags zum erstenmal verstanden habe, genau zwei Stunden vor dem Tode Makar Iwanowitschs. Du siehst mich mit peinlicher Verwunderung an. Beruhige dich: ich werde dir die Tatsache schon erklären; das aber, was ich dir sagte, ist vollkommen richtig; mein ganzes Leben ist Wandern und Zweifeln gewesen, und plötzlich steht, am soundsovielten des Monats um fünf Uhr nachmittags, des Rätsels Lösung fertig vor dir! Das ist doch einfach kränkend, nicht wahr? Noch gestern, ja: in der jetzt schon uralten Vergangenheit, hätte mich das noch tatsächlich gekränkt.“
Ich hörte ihn wirklich mit fieberhafter Verwunderung an: es trat wieder deutlich der frühere Werssiloffsche Zug hervor, den ich an diesem Abend um keinen Preis hätte sehen wollen, nachdem schon solche Worte gefallen waren. Plötzlich durchzuckte es mich.
„Mein Gott!“ rief ich, „Sie haben etwas von ihr erhalten ... heute um fünf Uhr?“
Er sah mich scharf an, sichtlich überrascht durch meinen Ausruf und vielleicht auch durch den Ausdruck: „von ihr“.
„Du wirst alles erfahren,“ sagte er mit einem sinnenden Lächeln, „und natürlich werde ich dir das, was du wissen mußt, nicht verhehlen, denn zu dem Zweck habe ich dich doch hergeführt; aber jetzt wollen wir das vorläufig noch etwas hinausschieben. Sieh mal, mein Freund, ich habe schon lange gewußt, daß es bei uns Kinder gibt, die bereits in der frühesten Kindheit über ihre Familie nachdenken, weil die Unschönheit ihrer Väter und ihrer Umgebung sie kränkt. Solche früh nachdenkenden Kinder habe ich schon unter meinen Mitschülern bemerkt, und damals glaubte ich, das käme alles daher, weil sie gar zu früh den Neid kennen lernen. Später freilich sagte ich mir, daß ich selbst eines von diesen nachdenkenden Kindern war, doch ... verzeihe, mein Lieber, ich bin heute erstaunlich zerstreut. Ich wollte damit nur sagen, wie sehr ich fast diese ganze Zeit über für dich hier gefürchtet habe. Ich habe dich mir immer als eines jener jungen Wesen vorgestellt, die sich ihrer Begabtheit schon bewußt sind und sich von den anderen absondern und lieber einsam sein wollen. Auch ich habe, ganz wie du, Kameraden nie gemocht. Schwer haben es diese jungen Geschöpfe, die ganz ihren eigenen Kräften und Träumen überlassen sind, und dabei von einem leidenschaftlichen, gar zu frühen und fast rachsüchtigen Schönheitsdurst besessen sind, – ja: gerade von einem ‚rachsüchtigen‘ Schönheitsdurst. Doch genug davon, Lieber: ich bin wieder abgeschweift ... Noch bevor ich dich zu lieben anfing, versuchte ich schon, dich mit deinen einsamen, menschenscheuen Träumen mir vorzustellen ... Aber genug davon, wie gesagt. Ja, wovon wollte ich eigentlich sprechen? Übrigens mußte auch dies einmal gesagt werden. Früher aber – was hätte ich dir früher sagen können? Jetzt sehe ich deinen Blick, der auf mir ruht, und ich weiß: es ist mein Sohn, der mich ansieht; ich aber hätte doch selbst gestern noch nicht geglaubt, daß ich jemals so wie heute mit meinem Jungen zusammensitzen und mit ihm reden würde.“
Er war in der Tat sehr zerstreut und dabei durch irgend etwas gleichsam erschüttert.
„Jetzt brauche ich nicht mehr zu träumen und mir Illusionen zu bauen, Sie genügen mir vollkommen! Ich werde von nun an Ihnen folgen!“ sagte ich und gab ihm meine ganze Seele hin.
„Mir folgen? Aber mein Wandern hat ja gerade aufgehört, gerade heute: du kommst zu spät, mein Lieber. Der heutige Tag ist das Finale des letzten Aktes; der Vorhang fällt. Dieser letzte Akt hat lange gedauert. Er begann schon vor sehr langer Zeit – damals, als ich zum letztenmal ins Ausland flüchtete. Ich warf damals alles hinter mich; und du sollst wissen, mein Lieber, daß ich damals auch meine Verbindung mit deiner Mutter löste und ihr das auch mitteilte. Das mußt du doch einmal erfahren. Ich erklärte ihr damals, daß ich für immer fortginge, sie würde mich niemals wiedersehen. Das schlimmste war aber, daß ich sogar vergaß, sie mit Geld zu versorgen. An dich dachte ich damals überhaupt nicht. Ich fuhr mit der Absicht fort, ganz in Europa zu bleiben, mein Lieber, und nie wieder nach Rußland zurückzukehren. Ich wanderte aus.“
„Zu Alexander Herzen? Um sich an seiner Propaganda im Auslande zu beteiligen? Sie haben doch gewiß Ihr ganzes Leben lang an irgendeiner Verschwörung teilgenommen?“ rief ich, ohne mich zurückzuhalten.
„Nein, mein Freund, ich habe mich nie an einer Verschwörung beteiligt. Bei dir aber leuchteten sogar die Augen auf, – ich liebe deine impulsiven Ausrufe, mein Lieber. Nein, ich reiste damals einfach aus plötzlicher Schwermut ins Ausland. Es war das die Schwermut des russischen Edelmanns, – ich weiß es wirklich nicht besser auszudrücken. Die aristokratische Schwermut – und nichts weiter.“
„Wegen der Aufhebung der Leibeigenschaft ... der Bauernbefreiung?“ stieß ich in atemloser Spannung hervor.
„Wegen der Leibeigenschaft? Du meinst, ich hätte die alte Leibeigenschaft herbeigewünscht? Hätte die Befreiung des Volkes nicht ertragen? O nein, mein Freund, gerade wir waren doch die Befreier. Ich wanderte aus ohne jeden Groll. Ich hatte doch bis dahin als Friedensrichter aus allen Kräften für das Gute zu wirken gesucht, hatte es ganz uneigennützig getan, und wenn ich auswanderte, geschah es nicht deshalb, weil ich für meinen Liberalismus wenig Dank sah. Wir haben ja damals alle nichts bekommen, das heißt, alle diejenigen, die von meiner Art waren. Ausgewandert bin ich eher mit selbstbewußtem Stolz als mit irgend so einem Bedauern, und nichts, das kannst du mir glauben, lag mir ferner, als der Gedanke, für mich könnte jetzt die Zeit gekommen sein, mein Leben als bescheidener Schuster zu beschließen. Je suis gentilhomme avant tout et je mourrai gentilhomme![105] Aber trotzdem war ich traurig gestimmt. Wir sind unser vielleicht tausend in Rußland, – ja, in der Tat, vielleicht nicht mehr als nur tausend Menschen; aber das genügt ja vollkommen, damit die Idee nicht stirbt. Wir sind die Träger einer Idee, mein Lieber! ... Mein Freund, ich sage dir das in der sonderbaren Hoffnung, daß du diese ganze Phantasterei verstehen wirst. Ich habe dich aus einer Laune meines Herzens zu mir gebracht: ich habe schon lange davon geträumt, wie ich dir manches sagen werde ... dir, gerade dir. Doch übrigens ... übrigens ...“
„Nein, sagen Sie es!“ rief ich. „Ich sehe wieder Aufrichtigkeit in Ihrem Gesicht ... Und sind Sie dann dank Europa wieder auferstanden? Und was war denn eigentlich Ihre ‚aristokratische Schwermut‘? Verzeihen Sie, Liebster, ich verstehe noch nicht ganz.“
„Ob ich dank Europa auferstanden bin? Aber ich fuhr doch damals hin, um Europa zu beerdigen!“
„Beerdigen?“ wiederholte ich verwundert.
Er lächelte.
„Freund Arkadi, meine Seele ist jetzt müde geworden, und mein Geist hat sich aufgelehnt. Niemals werde ich meine ersten Augenblicke damals in Europa vergessen. Ich hatte auch früher schon in Europa gelebt, damals aber war es eine besondere Zeit, und noch nie war ich in einer so trostlosen Trauer und ... mit solcher Liebe nach Europa gereist, wie in jener Zeit. Ich will dir einen von meinen ersten Eindrücken damals erzählen, einen Traum, den ich damals hatte, einen richtigen Traum ... Das war noch in Deutschland. Ich war aus Dresden abgereist und in der Zerstreutheit an der Station vorübergefahren, wo ich hätte umsteigen müssen, und so kam ich auf eine andere Bahnlinie. Natürlich wurde ich gleich auf der nächsten Station abgesetzt; es war drei Uhr nachmittags, ein heller, schöner Tag. Ich befand mich plötzlich in einem kleinen deutschen Städtchen. Man nannte mir ein Gasthaus. Ich mußte warten: der nächste Zug ging erst um elf Uhr nachts. Ich war sogar sehr zufrieden mit diesem Zwischenfall, denn ich hatte ja keine Eile, irgendwohin zu kommen. Ich wanderte, mein Freund, ich wanderte. Das Gasthaus war alt und klein, lag aber ganz im Grünen und war von Blumenbeeten umgeben, wie das in Deutschland üblich ist. Man gab mir ein enges Zimmerchen, und da ich die ganze letzte Nacht auf der Reise nicht geschlafen hatte, legte ich mich nach dem Mittagessen hin und schlief ein. Es war vielleicht vier Uhr.
„Und da hatte ich denn einen wunderlichen Traum, der um so überraschender war, als mir noch nie etwas Ähnliches geträumt hatte. In der Dresdener Galerie hängt ein Bild von Claude Lorrain, das im Katalog als ‚Acis und Galathea‘ angegeben ist – ich habe es immer ‚Das goldene Zeitalter‘ genannt, weshalb, weiß ich selbst nicht. Ich hatte es auch früher schon gesehen, und jetzt, auf der Durchreise vor drei Tagen, war es mir wieder aufgefallen. Dieses Bild sah ich nun im Traum, aber nicht als Bild, sondern als Wirklichkeit. Übrigens weiß ich selbst nicht recht, was mir da eigentlich träumte ... Ich sah jedenfalls – ganz wie es auf jenem Bilde zu sehen ist – ein Eckchen des Griechischen Archipels, und auch die Zeit war gleichsam um dreitausend Jahre zurückversetzt; ich sah blaue, schmeichelnde Wellen, Inseln und Klippen, ein blühendes Gestade, eine wunderbare Ferne, und dazu die untergehende rufende Sonne – es ist mit Worten gar nicht wiederzugeben! In diesem Bilde hat die europäische Menschheit die Erinnerung an ihre Wiege festgehalten, und der Gedanke daran erfüllte auch meine Seele wie mit Heimatliebe. Hier war einmal das irdische Paradies der Menschheit: die Götter stiegen vom Himmel herab und gingen mit den Menschen Verwandtschaft ein ... Oh, dort lebten schöne Menschen! Glücklich und schuldlos erwachten sie und schlummerten sie ein, die Wiesen und Haine waren erfüllt von ihren Liedern und ihrem Jauchzen; der große Überschuß an frischen Kräften strömte in Liebe und reiner Freude aus. Die Sonne umgab sie mit Wärme und Licht und freute sich an ihren schönen Kindern ... Welch ein wunderbarer Traum, welch eine erhabene Irrung der Menschheit! Das goldene Zeitalter ist von allen Illusionen, die die Menschheit jemals gehabt hat, die allerunwahrscheinlichste, und doch haben die Menschen für sie ihr Leben und alle ihre Kräfte hingegeben, für sie sind Propheten getötet worden und gestorben, und ohne sie können die Menschen nicht leben, ja, nicht einmal sterben! Und diese ganze Empfindung durchlebte ich gleichsam in meinem Traum; die Klippen und das Meer und die schrägen Strahlen der Abendsonne – alles das glaubte ich noch zu sehen, als ich erwachte und die Augen aufschlug, die mir buchstäblich von Tränen feucht waren. Ich weiß noch, wie froh mir zumut war. Die Empfindung eines mir bis dahin noch ganz unbekannten Glücks erfüllte mein Herz bis zum Schmerz: das war die Liebe zur ganzen Menschheit ... Es war schon Abend geworden; durch das Fenster meines kleinen Zimmers, durch die Blumen, die auf dem Fensterbrett standen, fielen die letzten grellen Abendsonnenstrahlen und überfluteten mich mit gelbem Licht. Und da, mein Freund, da wurde – die untergehende Sonne des ersten Tages der europäischen Menschheit, die ich in meinem Traum gesehen hatte, für mich, als ich erwachte, sogleich zur untergehenden Sonne des letzten Tages der europäischen Menschheit! Damals war es einem, als zöge durch die Luft Europas Sterbeglockenklang. Ich rede nicht nur vom Kriege und dem Brand der Tuilerien; ich wußte auch ohnedem, daß alles vergehen wird, das ganze Antlitz der europäischen Alten Welt – früher oder später: aber als russischer Europäer konnte ich das nicht zulassen. Ja, die Kommunarden hatten damals gerade die Tuilerien in Brand gesteckt ... Oh, du brauchst dich nicht aufzuregen, ich weiß, daß es ‚logisch‘ war, und begreife nur zu gut die Unabwendbarkeit einer Idee, die im Fluß ist; doch als Träger des höheren russischen Kulturgedankens konnte ich das nicht anerkennen, denn der höhere russische Gedanke ist – die Versöhnung aller Ideen. Und wer hätte damals einen solchen Gedanken verstehen können, wer in der ganzen Welt? Ich war allein. Ich spreche nicht von mir persönlich – ich spreche vom russischen Gedanken. Dort war Kampf und Logik; dort war der Franzose nur Franzose und nichts weiter, und der Deutsche nur Deutscher und nichts weiter, und das waren sie mit noch größerer Ausschließlichkeit und Anspannung, als sie es je zuvor im Lauf ihrer geschichtlichen Entwicklung gewesen sind; folglich hat der Franzose seinem Frankreich und der Deutsche Deutschland niemals so großen Abbruch getan, wie eben in jener Zeit! Damals gab es in ganz Deutschland nicht einen einzigen Europäer! Nur ich allein konnte allen diesen Pariser Petroleumgießern ins Gesicht sagen, daß ihre Zerstörung der Tuilerien – ein Fehler war; und nur ich allein konnte, umgeben von allen diesen nach Rache schreienden Konservativen, diesen Konservativen ins Gesicht sagen, daß die Einäscherung der Tuilerien zwar ein Verbrechen, aber dennoch vollkommen logisch war. Und das alles, mein Junge, weil ich allein, als Russe, damals in ganz Europa der einzige Europäer war. Ich spreche wiederum nicht von mir, sondern von dem russischen Gedanken im allgemeinen. Ich wanderte umher, mein Freund, ich wanderte und wußte genau, daß ich schweigen und weiter wandern mußte. Aber es war mir doch traurig zumute. Ich, mein Junge, ich kann nicht – meinen Adel nicht achten. Du lachst darüber, scheint es?“
„Nein, ich lache nicht,“ sagte ich ergriffen, „ich lache durchaus nicht. Ihre Vision des goldenen Zeitalters hat mein Herz erschüttert, und seien Sie überzeugt, ich fange schon an, Sie zu verstehen. Doch am meisten freue ich mich darüber, daß Sie sich selbst so achten. Ich beeile mich, Ihnen das zu sagen. Das hatte ich von Ihnen gar nicht erwartet!“
„Ich habe dir schon gesagt, mein Freund, daß ich deine Ausrufe sehr liebe,“ sagte er mit einem Lächeln über meinen naiven Ausruf, erhob sich von seinem Platz und begann, wohl ohne sich dessen bewußt zu sein, im Zimmer auf und ab zu schreiten. Ich erhob mich gleichfalls. Er fuhr in seinen seltsamen Bekenntnissen fort, und er sprach tief durchdrungen von seinem Gedanken: