„Ja, mein Junge, ich sage es dir nochmals, ich kann nicht anders als meinen Adel achten. Bei uns in Rußland hat sich im Laufe von Jahrhunderten ein gewisser höherer Kulturtyp herausgebildet, den man bisher überhaupt nicht gekannt hat, und den es sonst in der ganzen Welt nicht gibt: der Typ des universalen Leidens um alle. Es ist das ein ausschließlich russischer Typ, und da er sich in der höheren Kulturschicht des russischen Volkes entwickelt hat, so habe ich ganz von selbst die Ehre, ihm anzugehören. In seiner Hut ist die Zukunft Rußlands. Unser sind vielleicht im ganzen nur tausend Menschen – vielleicht mehr, vielleicht weniger – aber ganz Rußland hat vorläufig nur zu dem Zweck gelebt, um dieses Tausend hervorzubringen. Man wird sagen, das sei wenig; man wird mit Entrüstung einwenden, daß also alle unsere Jahrhunderte und soviel Millionen Menschen für dies geringe Ergebnis, für ein einziges Tausend Menschen hingegeben und verschwendet sein sollen! Doch – meiner Überzeugung nach ist das gar nicht so wenig.“
Ich hörte ihm mit größter Spannung zu. Aus ihm sprach seine Überzeugung, und ich sah auf einmal die Richtung seines ganzen Lebens. Was er von den „tausend Menschen“ sagte, zeichnete ihn selbst so plastisch! Ich fühlte auch, daß eine von außen gekommene Erschütterung den Anstoß zu seiner Mitteilsamkeit mir gegenüber gegeben hatte. Während er mir alle diese glühenden Reden hielt – liebte er mich; doch der Grund, weshalb er plötzlich zu mir zu sprechen anfing, und warum es ihn so verlangte, gerade mit mir zu sprechen, blieb mir noch immer unerklärlich.
„Ich wanderte aus,“ fuhr er fort, „und was ich auch hinter mir ließ, es tat mir um nichts leid. Was nur in meinen Kräften gelegen hat, habe ich in den Dienst Rußlands gestellt, damals, als ich hier wirken konnte; und als ich Rußland verließ, fuhr ich fort, ihm zu dienen, nur mit dem Unterschied, daß ich meine Idee erweiterte. Aber indem ich Rußland auf diese Weise diente, leistete ich ihm einen viel größeren Dienst, als wenn ich nur Russe und nichts weiter gewesen wäre, so wie damals der Franzose nur Franzose und der Deutsche nur Deutscher war. In Europa kann man das vorläufig noch nicht verstehen. Europa hat die vornehmen Typen des Franzosen, des Engländers, des Deutschen geschaffen, aber von seinem zukünftigen Menschen weiß es fast noch nichts. Und ich glaube, es will auch noch nichts von ihm wissen. Das ist auch ganz verständlich: sie sind nicht frei, wir aber sind frei. Nur ich allein in Europa, nur ich mit meiner russischen Schwermut, war damals frei ...“
„Merke dir etwas Eigentümliches, mein Freund: jeder Franzose kann nicht nur seinem Frankreich, sondern auch der ganzen Menschheit einzig unter der Bedingung dienen, daß er so viel wie nur irgend möglich Franzose bleibt; und ebenso ist es mit dem Engländer und dem Deutschen. Nur der Russe allein hat sogar schon in unserer Zeit, also schon viel früher als die endgültige Summe gezogen wird, bereits diese Gabe erhalten, eben dann am meisten Russe zu sein, wenn er am meisten Europäer ist. Und das ist der wesentlichste nationale Unterschied zwischen uns und allen anderen: in der Beziehung sind wir etwas ganz Einzigartiges! Mit einem Franzosen bin ich Franzose, mit einem Deutschen ein Deutscher, mit einem alten Griechen ein Grieche, und eben dadurch diene ich gleichzeitig Rußland am allermeisten, denn ich vertrete somit Rußlands Hauptgedanken. Ich bin ein Pionier dieses Gedankens! Damals wanderte ich aus, aber verließ ich denn deshalb Rußland? Nein, ich diente ihm weiter. Und mag ich in Europa auch nichts getan haben, mag ich auch nur ausgewandert sein, um dort umherzuwandern (und ich wußte ja schon im voraus, daß ich nichts anderes tun würde), aber auch das war schon genug, daß ich mit dem russischen Gedanken und mit meinem Bewußtsein hinfuhr. Ich brachte meine russische Schwermut dorthin. Oh, es war nicht das Blut, das damals vergossen wurde, was mich erschreckte, und nicht einmal die Zerstörung der Tuilerien, sondern alles, was darauf folgen muß. Jenen Völkern ist bestimmt, noch lange gegen einander zu kämpfen, denn sie sind noch gar zu ausschließlich Deutsche und gar zu ausschließlich Franzosen, und sie haben ihre Aufgaben in diesen Rollen noch nicht erfüllt. Und so lange tut es mir eben leid um die Zerstörung. Für den Russen ist Europa genau so teuer wie Rußland: jeder Stein Europas ist mir lieb und wert. Europa ist genau so unser Vaterland gewesen wie Rußland. Oh, noch mehr! Niemand kann Rußland glühender lieben, als ich es liebe, und doch habe ich mir nie einen Vorwurf deshalb gemacht, daß Venedig, Rom, Paris, die Schätze ihrer Kunst und Wissenschaft, daß ihre ganze Geschichte mir lieber ist als die Rußlands. Oh, diese alten fremden Steine, diese Wunder der alten Gotteswelt, diese Bruchstücke heiliger Wunder sind uns teuer, uns Russen; und sie sind uns sogar teurer als den Völkern selbst, denen sie jetzt gehören! Sie haben dort jetzt andere Gedanken und andere Gefühle, die alten Steine haben für sie den Wert verloren ... Der Konservative kämpft dort nur noch um seine Existenz, und auch der Petroleur zerstört die Tuilerien nur, weil es ihm um das Recht auf seinen Anteil zu tun ist. Nur Rußland lebt nicht für sich, sondern für eine Idee, und du wirst mir zugeben, mein Freund, daß es doch eine bedeutsame Tatsache ist, daß Rußland fast schon ein ganzes Jahrhundert entschieden nicht für sich, sondern nur für Europa lebt! Und die anderen? Oh, ihnen sind noch schreckliche Qualen bestimmt, bevor sie das Reich Gottes erlangen werden.“
Ich muß gestehen, ich hörte ihm in nicht geringer Verwirrung zu; selbst der Ton seiner Rede erschreckte mich, doch seine Gedanken machten nichtsdestoweniger den größten Eindruck auf mich. Ich fürchtete fast krankhaft, Unwahres von ihm zu hören. Plötzlich bemerkte ich mit strenger Stimme:
„Sie sagten soeben ‚das Reich Gottes‘. Ich habe gehört, Sie hätten dort im Auslande Gott verkündet und nach Büßerart Ketten getragen?“
„Meine Ketten lassen wir beiseite,“ sagte er lächelnd, „das ist etwas ganz anderes. ‚Verkündet‘ habe ich damals noch nichts, aber um ihren Gott hat es mich geschmerzt – das ist wahr. Sie verkündeten damals den Atheismus ... wenn es auch nur ein Häuflein von ihnen tat, aber die Zahl ist ja unwichtig; es waren nur die ersten Vorläufer, aber die Tat war doch der erste ausgeführte Schritt – das ist das Wichtige! Hier war es wieder ihre Logik; aber in der Logik liegt doch immer Schwermut. Ich war von anderer Kultur, und mein Herz ließ das nicht zu. Diese Undankbarkeit, mit der sie sich von der Idee trennten, dieses Auspfeifen und mit Schmutz bewerfen waren mir unerträglich. Die Schusterhaftigkeit des Vorgangs widerte mich an. Übrigens haftet der Wirklichkeit immer etwas von Schusterhaftigkeit an, selbst wenn sie aus einem noch so reinen Streben zum Ideal hervorgeht. Ich hätte das natürlich wissen müssen, aber ich war nun einmal ein anderer Typus Mensch: ich war frei in der Wahl, sie waren es nicht, und ich weinte, weinte an ihrer Statt, weinte um die alte Idee, und – vielleicht weinte ich sogar wirkliche Tränen, ohne Beschönigung sei’s gesagt.“
„Haben Sie so stark an Gott geglaubt?“ fragte ich mißtrauisch.
„Mein Freund, diese Frage war – vielleicht überflüssig. Nehmen wir an, ich hätte nicht so ganz geglaubt, aber auch dann hätte ich doch nicht umhin gekonnt, um die Idee zu trauern. So konnte ich auch nicht umhin, mir bisweilen vorzustellen, wie der Mensch ohne Gott leben würde, und unter welchen Umständen das wohl jemals möglich wäre. Mein Herz hat mir immer gesagt, daß es unmöglich ist; aber eine gewisse Zeitlang wird es vielleicht doch möglich sein ... Für mich gibt es sogar überhaupt keinen Zweifel daran, daß diese Zeit einmal kommen wird; aber da habe ich mir immer ein anderes Bild vorgestellt ...“
„Was für eines?“
Er hatte freilich zu Anfang schon selbst gesagt, daß er glücklich sei, und gewiß lag in seinen Worten viel Begeisterung: danach beurteile ich denn auch das meiste von dem, was ihm damals über die Lippen kam. Selbstverständlich kann ich mich nicht entschließen, alles hier schwarz auf weiß wiederzugeben, was wir damals sprachen, da ich diesen Menschen achte; aber ein paar Striche dieses wunderlichen Bildes, dessen Skizzierung ich ihm schließlich noch entlockte, möchte ich hier doch wiederzugeben versuchen. Vor allem hatten mich diese angeblich von ihm getragenen Ketten immer schon und die ganze Zeit vorher gequält, und da ich darüber endlich Klarheit haben wollte, ließ ich nicht davon ab: einige phantastische und sehr seltsame Ideen, die er damals aussprach, haben sich für ewig in mein Herz geprägt.
„Ich versuche mir vorzustellen, mein Lieber,“ begann er nachdenklich und mit einem eigenen Lächeln, „wie es sein wird, wenn der Kampf schon beendet und der Streit beigelegt ist. Nach den Flüchen und Verwünschungen, nach dem Auspfeifen und mit Schmutz bewerfen ist endlich eine Stille eingetreten, und die Menschen sind allein geblieben, wie sie es gewünscht hatten: die große frühere Idee hat sie verlassen; die große Quelle der Kraft, die sie bislang genährt und gewärmt hatte, ist versiegt, ist untergegangen, ganz wie die mächtige rufende Sonne auf dem Bilde von Claude Lorrain, nur daß hier damit gleichsam der letzte Tag der Menschheit anbrach. Und die Menschen begriffen auf einmal, daß sie ganz allein geblieben waren, und da empfanden sie plötzlich eine große Verwaistheit. Mein lieber Junge, ich habe mir die Menschen niemals undankbar und verdummt vorzustellen vermocht. Ich bin überzeugt, diese verwaisten Menschen würden sich sogleich enger und liebevoller zueinander drängen; sie würden sich an den Händen fassen und begreifen, daß sie jetzt ganz allein alles füreinander sind! Die große Idee der Unsterblichkeit wäre verschwunden, und man müßte sie durch eine andere ersetzen; und der ganze riesige Überschuß der früheren Liebe zu dem, der ja die Unsterblichkeit war, würde sich in allen Menschen der Natur, der Welt, jedem Atom des Seienden zuwenden. Und sie würden die Erde und das Leben unsagbar liebgewinnen – um so mehr, je mehr sie ihre eigene Vergänglichkeit und Endlichkeit erkennen würden, und lieben würden sie bereits mit einer ganz besonderen, einer ganz neuen Liebe, nicht mehr mit der früheren alten Liebe. In der Natur würden sie Erscheinungen und Geheimnisse entdecken, von denen sie sich früher nicht einmal haben träumen lassen, denn sie würden die Natur mit neuen Augen sehen, wie ein Liebender die Geliebte sieht. Sie würden nach diesem Erwachen sich beeilen, einander zu küssen, sie würden sich beeilen, zu lieben, in dem Bewußtsein, daß ihre Tage kurz sind, daß ihr Leben auf Erden alles ist, was ihnen verbleibt. Sie würden füreinander arbeiten, und ein jeder würde alles, was er hat, mit allen teilen, und schon das allein würde ihn glücklich machen. Jedes Kind würde wissen und fühlen, daß jeder Mensch auf Erden ihm Vater und Mutter ist. ‚Und sollte auch morgen mein letzter Tag sein,‘ würde ein jeder denken, wenn er die sinkende Sonne sieht, ‚was hat das zu sagen; ich sterbe, aber alle die anderen bleiben, und nach ihnen ihre Kinder‘. Und dieser Gedanke, daß die anderen bleiben und sich gegenseitig immer so lieben werden, und ein jeder sich um jeden sorgen wird, dieser Gedanke würde die frühere Hoffnung auf ein Wiedersehen nach dem Tode ersetzen. Oh, sie würden sich beeilen und nicht ablassen, zu lieben, um die große Trauer in ihren Herzen zu löschen. Für sich selbst wären sie stolz und kühn, doch wenn es sich um andere handelt, zaghaft und ängstlich; ein jeder würde um das Leben und das Glück jedes anderen bangen. Sie würden zärtlich zueinander sein und würden sich dessen nicht schämen, wie jetzt, und würden einander liebkosen wie Kinder. Sie würden einander mit tiefem und denkendem Blick ansehen, und in ihrem Blick würde Liebe und Trauer liegen ...
„Mein Lieber,“ unterbrach er sich plötzlich mit einem Lächeln, „das sind ja alles nur Vorstellungen der Einbildung, und noch dazu die unwahrscheinlichsten; aber ich habe sie mir schon gar zu oft vorgestellt, weil ich ohne sie nicht sein konnte, und so habe ich mein Leben lang daran gedacht. Ich spreche nicht von meinem Glauben: mein Glaube ist groß, ich bin Deist, philosophischer Deist, wie es alle von unserem Tausend, glaube ich, sind; aber ... aber merkwürdigerweise habe ich diese Vorstellung immer mit einer Vision abgeschlossen, ähnlich der Heineschen von Christus auf dem Meere. Ich konnte nicht umhin, ihn mir schließlich unter den verwaisten Menschen vorzustellen, wie er zu ihnen kommt, ihnen die Hände entgegenstreckt und sagt: ‚Wie konntet ihr mich vergessen?‘ Und da fällt es gleichsam wie Schuppen von den Augen aller, und es ertönt die große begeisterte Hymne der neuen und letzten Auferstehung ...
„Lassen wir das, mein Freund; und auch meine ‚Ketten‘ – es war nichts damit; du brauchst dich ihretwegen nicht zu beunruhigen. Und noch eins: du weißt, daß ich im Sprechen schamhaft und nüchtern bin, und wenn ich jetzt etwas mehr aus mir herausgegangen bin, so geschah das ... aus verschiedenen Gefühlen und weil du es warst; zu einem anderen würde ich niemals davon gesprochen haben. Das sage ich dir zu deiner Beruhigung.“
Ich war nahezu erschüttert: von der Unaufrichtigkeit, die zu hören ich gefürchtet hatte, war keine Spur zu entdecken gewesen, und mit besonderer Freude erfüllte mich die endlich einmal sichere Erkenntnis, daß er wirklich gelitten und sich gequält und zweifellos viel geliebt hatte, – das aber war für mich das Teuerste. Ganz entzückt teilte ich ihm denn auch sofort meinen Eindruck mit.
„Aber wissen Sie,“ fügte ich plötzlich hinzu, „mir scheint doch, Sie müssen damals trotz Ihres ganzen Schmerzes unendlich glücklich gewesen sein?“
Er lachte heiter auf.
„Du bist heute besonders scharfsinnig in deinen Bemerkungen,“ sagte er. „Nun ja, ich war glücklich, und wie hätte ich auch mit einem solchen Schmerz unglücklich sein können? Es gibt nichts Freieres und Glücklicheres als einen russisch-europäischen Herumstreicher, einen von unserem Tausend. Das sage ich aber keineswegs im Scherz, darin liegt vielmehr sehr viel Ernstes. Ja, meinen Schmerz hätte ich doch gegen kein anderes Glück eingetauscht. In diesem Sinne bin ich immer glücklich gewesen, mein Lieber, in meinem ganzen Leben. Und vor Glück begann ich damals, deine Mutter zu lieben, zum erstenmal in meinem Leben.“
„Wie das: zum erstenmal in Ihrem Leben?“
„Ja, wie ich sagte. Wie ich so mit meinem Schmerz und meiner unbestimmten Sehnsucht umherstreifte, begann ich sie auf einmal zu lieben, wie ich sie noch nie geliebt hatte, und da ließ ich sie sofort kommen.“
„Oh, erzählen Sie mir auch davon, erzählen Sie mir von Mama!“
„Zu dem Zweck habe ich dich ja zu mir gebracht, und weißt du,“ sagte er lächelnd, „ich fürchtete schon, daß du mir alles, was ich deiner Mutter zugefügt habe, um einer Beziehung zu Alexander Herzen oder um irgendeiner erbärmlichen Verschwörung willen verziehen hättest ...“