I.

Ich komme jetzt zu der Schlußkatastrophe, deren Erzählung meine Aufzeichnungen abschließen soll. Doch um weitererzählen zu können, muß ich zunächst vorgreifen und etwas erklären, wovon ich damals noch nichts ahnte; erst viel später habe ich davon erfahren und mir das Ganze dann auch klargemacht, das heißt, als alles schon geschehen war. Diese vorgreifende Erklärung ist unbedingt erforderlich, denn sonst würde das Folgende für den Leser gar zu lange unverständlich sein. Deshalb will ich denn eine ganz einfache und sachliche Darstellung der Zusammenhänge und Beweggründe gewisser Personen hier einflechten, obgleich ich damit die sogenannte künstlerische Einheitlichkeit aufhebe, und will so schreiben, als ob gar nicht ich dies schriebe, also ganz ohne innere Anteilnahme, ungefähr wie ein kurzer Bericht in der Zeitung geschrieben wird.

Die Sache war die, daß mein Schulfreund Lambert durchaus und ohne weiteres zu jenen ekelhaften kleinen Spitzbuben gehörte, die sich zu ganzen Banden zusammentun und dann eine Tätigkeit beginnen, die man neuerdings anstatt Erpressung „Chantage“ nennt, und für die man in den Gesetzbüchern vorläufig noch nach einer Bezeichnung und Strafe sucht.

Die Bande, in der Lambert mitwirkte, hatte sich in Moskau gebildet und dort auch schon eine ganze Reihe von Gemeinheiten ausgeführt (in der Folge ist ihre Tätigkeit zum Teil aufgedeckt worden). Später hörte ich, daß sie in Moskau längere Zeit einen sehr erfahrenen und keineswegs dummen Anführer gehabt hatte, einen schon älteren Mann. Ihre Unternehmungen führte sie je nach den Umständen aus: bald wirkten sie alle zusammen mit, bald ging nur ein Teil der Bande vor. Außer den schmutzigsten und ganz unbeschreibbaren Bubenstreichen (von denen, nebenbei bemerkt, schon manches in die Zeitungen gekommen war) führten sie auch ziemlich verzwickte und schlaue Unternehmungen aus, natürlich immer nach den Anordnungen ihres Anführers. Einige dieser Streiche hat man mir nachher erzählt, doch ich mag mich darüber nicht weiter verbreiten. Erwähnt sei hier nur, daß ihr Vorgehen im allgemeinen darin bestand, daß sie irgendwelche Geheimnisse aus dem Privatleben von oft durchaus ehrenwerten und hochstehenden Leuten auszukundschaften suchten; war ihnen das gelungen, so erschienen sie bei dem Betreffenden und drohten mit der Veröffentlichung der Sache (oft ohne überhaupt irgendwelche Beweise in Händen zu haben), und für ihr Schweigen forderten sie Geld. Nun gibt es gewiß Dinge, die nicht einmal eine Sünde und auch kein Verbrechen sind, deren Veröffentlichung aber selbst einen anständigen und standhaften Menschen erschrecken kann. Diese Bande aber hatte es hauptsächlich auf Familiengeheimnisse abgesehen. Um zu zeigen, wie schlau ihr Anführer vorzugehen pflegte, will ich in ein paar Worten und ohne alle Einzelheiten nur eins von ihren Stückchen als Beispiel erzählen. In einer durchaus ehrenwerten und angesehenen Familie war es zu einem nicht nur sündhaften, sondern sogar verbrecherischen Vergehen gekommen: die Frau eines bekannten und sehr geachteten Mannes hatte mit einem reichen jungen Offizier ein Liebesverhältnis angefangen. Das hatte die Bande irgendwie erfahren, und nun ging sie folgendermaßen vor: sie teilte dem jungen Offizier einfach mit, daß sie den betrogenen Ehemann benachrichtigen werde. Beweise hatte man zwar nicht, und das wußte der junge Offizier, aber das verhehlte man ihm auch gar nicht; doch die ganze Schlauheit ihrer Berechnung lag in diesem Fall eben in der richtigen Voraussicht, daß der benachrichtigte Gatte auch ohne Beweise genau so vorgehen würde, wie wenn er die sichersten Beweise in Händen hielte. Sie verließen sich hierbei auf ihre Kenntnis des Charakters dieses Menschen und auf ihre Kenntnis seiner Familienverhältnisse. Zu dieser Bande gehörte nämlich auch ein junger Mensch aus den besten Kreisen, und das war sehr wichtig für sie; denn ebendieser war es, der ihnen die Geheimnisse zutrug. Von jenem reichen Offizier erpreßten sie auf diese Weise eine recht stattliche Summe – ohne sich dabei der geringsten Gefahr auszusetzen, da ja ihrem Opfer selbst alles daran gelegen war, daß die Sache geheim blieb.

Lambert war an den Streichen dieser Moskauer Bande, wie gesagt, auch beteiligt gewesen, hatte aber nicht eigentlich zu ihr gehört; doch da er alsbald Geschmack daran gewonnen hatte, hatte er allmählich auf eigene Faust dasselbe Treiben begonnen. Eines möchte ich hier gleich bemerken: sehr befähigt war er zu solchen Unternehmungen nicht. Freilich war er durchaus nicht dumm und sogar sehr berechnend; aber er war doch zu unvorsichtig und außerdem zu gutgläubig, oder richtiger gesagt, zu naiv, das heißt, er kannte weder die Menschen noch die Gesellschaft. Zum Beispiel schien er die Bedeutung jenes Anführers der Moskauer Bande gar nicht zu verstehen, schien vielmehr anzunehmen, daß das Gründen und Leiten einer solcher Bande sehr leicht sei. Und schließlich hielt er fast alle Menschen für genau solche Schufte, wie er selbst einer war. Oder wenn er, zum Beispiel, einmal angenommen hatte, der und der Mensch fürchte sich oder müsse sich aus dem und dem Grunde vor irgend etwas fürchten, dann zweifelte er überhaupt nicht mehr daran, sondern war davon gleich und ein für allemal wie von einem Axiom überzeugt. Ich verstehe vielleicht nicht, mich richtig auszudrücken, aber im weiteren Verlauf meiner Erzählung wird schon die Wiedergabe meiner Erlebnisse alles erklären. Jedenfalls war er, meiner Ansicht nach, ein ziemlich niedrigstehender Mensch, der an gute, edlere Gefühle nicht nur nicht glaubte, sondern von manchen dieser Gefühle vielleicht überhaupt keine Vorstellung hatte.

Nach Petersburg war er gekommen, weil er an Petersburg schon lange als an ein viel größeres und dankbareres Feld für seine Unternehmungslust gedacht hatte, und überdies war in Moskau bei irgendeiner Gelegenheit eine seiner Machenschaften an den Tag gekommen, weshalb dort ein gewisser Herr nun ihm selbst mit den schlimmsten Absichten nachzuspionieren angefangen hatte. In Petersburg eingetroffen, war er sogleich zu einem früheren Spießgesellen in Beziehung getreten, doch statt der erträumten goldenen Ernte hatte er nur ein sehr mageres, nicht viel versprechendes Betätigungsfeld und nur „unbedeutende Fälle“ gefunden. Sein Bekanntenkreis vergrößerte sich dann nach und nach, aber es kam für ihn doch nichts zustande. „Die Leute sind ja hier überhaupt nichts wert, das sind ja lauter Grünschnäbel,“ sagte er später selbst zu mir. Und da, eines Morgens, stößt er in der fahlen Dämmerung auf einen Halberfrorenen an einer Hofmauer und kommt durch ihn ohne weiteres auf die Spur einer, seiner Meinung nach, „glänzenden Sache“!

Diese „glänzende Sache“ erfuhr er eben damals aus meinem zusammenhangslosen Gestammel, als ich bei ihm sozusagen auftaute. Oh, ich weiß, ich sprach damals im Fieberdelirium! Aber aus meinen Worten ging immerhin klar hervor, daß von allen Beleidigungen jenes verhängnisvollen Tages die Kränkung, die mir durch Bjoring und sie zuteil geworden war, sich mir am tiefsten ins Herz geprägt hatte: anderenfalls hätte ich doch nicht nur davon bei Lambert phantasiert, sondern wohl auch von Serschtschikoff; das aber war nicht geschehen, wie ich nachher von Lambert selbst erfuhr. Und dabei hatte ich doch an jenem schrecklichen Morgen in Lambert und Alphonsina geradezu meine Befreier und Erretter gesehen! Wenn ich später während meiner Genesung, noch im Bett liegend, zu überlegen gesucht hatte, wieviel Lambert von meinem Gerede verstanden oder wieviel ich ihm wohl verraten haben konnte, war mir nicht ein einziges Mal auch nur der Verdacht gekommen, daß es immerhin so viel sein könnte! Freilich, nach meinen Gewissensbissen zu urteilen, werde ich selbst damals schon gefühlt haben, daß ich wohl viel Überflüssiges geschwätzt hatte, aber wie hätte ich ahnen können, daß es so viel war! Auch hoffte ich, und ich tröstete mich damit, daß ich in meinem damaligen Zustande wohl kaum ein Wort verständlich ausgesprochen haben konnte, wessen ich mich noch genau zu erinnern glaubte; doch wie es sich nachher erwies, war mein Gestammel viel verständlicher gewesen, als ich angenommen und gehofft hatte. Aber das schlimmste war doch, daß ich alles dies erst nachträglich und viel später erfuhr, und eben das wurde mein Verhängnis.

Aus meinem Gestammel, Gefasel und Überschwang hatte Lambert Folgendes entnommen, vielmehr erfahren: erstens, fast alle Namen und sogar einige Adressen; zweitens hatte er sich sofort eine ungefähre Vorstellung von der Bedeutung und gesellschaftlichen Stellung der betreffenden Personen machen können (so zum Beispiel von der des alten Fürsten, von ihr, Bjoring, Anna Andrejewna und sogar von Werssiloff); drittens hatte er erfahren, daß ich beleidigt worden war und mich rächen wollte; und viertens, das Allerwichtigste: daß es ein geheimes, verborgenes Dokument gab, einen Brief, der, wenn man ihn dem alten Fürsten zeigte und dieser aus dem Brief erführe, daß seine Tochter, sein einziges Kind, ihn für verrückt hielt und schon an einen Juristen wegen seiner Entmündigung geschrieben hatte, – daß der alte Fürst über diesen Brief entweder den Verstand verlieren oder vor lauter Empörung seine Tochter aus dem Hause jagen und enterben würde, um dann ein Fräulein Werssiloff zu heiraten, was er schon jetzt unbedingt wollte, doch was man ihm vorläufig noch nicht erlaubte. Mit einem Wort, Lambert hatte sehr, sehr viel erfahren; natürlich war manches dunkel für ihn geblieben, aber immerhin hatte er als gerissener Erpresser die Möglichkeiten sofort überschaut. Nachdem ich von Alphonsina unvorhergesehenerweise fortgelaufen war, hatte er sich sofort meine Adresse verschafft (ganz einfach durch das Adreßbureau) und Nachforschungen angestellt, die ihm die Bestätigung gebracht hatten, daß es alle die Personen, deren Namen von mir im Fieber genannt worden waren, tatsächlich gab. Und daraufhin hatte er dann ungesäumt den ersten Schritt getan.

Die wichtigsten Tatsachen waren für ihn, daß es da ein gewisses Dokument gab, daß dieses Dokument sich in meinem Besitz befand, und daß es einen hohen Wert hatte; an letzterem zweifelte Lambert keinen Augenblick. Nun möchte ich aber einen Umstand vorläufig verschweigen, da seine spätere Mitteilung angebrachter sein dürfte; es genügt, wenn ich hier nur erwähne, daß gerade dieser Umstand Lambert von dem Vorhandensein des Dokuments und dem großen Wert desselben überzeugt hatte. Ich schicke voraus, daß es ein verhängnisvoller Umstand war, von dem ich mir nicht nur damals nichts träumen ließ, sondern auch die ganze Zeit über nicht – bis zum letzten Augenblick, als plötzlich alles einstürzte und sich von selbst aufdeckte. Und so war denn, da er sich in der Hauptsache sicher glaubte, der erste Schritt, den er tat, daß er zu Anna Andrejewna fuhr.

Für mich ist es auch heute noch ein Rätsel, wie Lambert es fertiggebracht hat, sich an eine so unnahbare und vornehme Dame wie Anna Andrejewna heranzumachen und sich in seiner Rolle sogar zu behaupten! Freilich hatte er Erkundigungen eingezogen, aber was will das besagen? Und wenn er auch tadellos angezogen war, wie ein Pariser sprach und einen französischen Namen trug, so ist es doch nicht gut möglich, daß Anna Andrejewna nicht sofort den Spitzbuben in ihm erkannt hat! Oder soll man annehmen, daß sie gerade damals einen Spitzbuben brauchte? Sollte es sich wirklich so verhalten?

Die Einzelheiten ihrer ersten Begegnung habe ich niemals erfahren können, aber ich habe mir später oft genug diese Szene vorzustellen versucht. Wahrscheinlich hat Lambert sich vom ersten Wort und von der ersten Gebärde an als meinen Jugendfreund aufgespielt, der für seinen lieben und einzigen Freund zitterte. Nun, und dann wird er wohl schon bei diesem ersten Zusammentreffen zu verstehen gegeben haben, daß ich ein „Dokument“ besäße, daß dies ein Geheimnis sei, daß er allein um dieses Geheimnis wisse, daß ich mich mittels dieses Dokuments an der Generalin Achmakoff zu rächen beabsichtige usw. Vor allen Dingen wird er ihr wohl die Bedeutung und den Wert dieses Dokuments klargemacht haben. Anna Andrejewna aber befand sich gerade damals in einer so verzwickten Lage, daß sie einfach nicht anders konnte, als sich an eine Rettungsmöglichkeit klammern. So mußte sie eben diese Neuigkeit aufmerksam anhören und ... auf diesen Köder anbeißen, wenn sie in ihrem „Kampf ums Dasein“ nicht unterliegen wollte. Man hatte ihr ja gerade damals den Bräutigam nach Zarskoje Sselo entführt, hatte ihn fast unter Vormundschaft gestellt, und auch sie selbst stand seitdem gewissermaßen unter Vormundschaft. Und nun plötzlich so ein Fund! Das war etwas anderes als heimliches Weibergeschwätz, war nicht bloß Gejammer und Geklatsch, war nicht Tränen und Klagen, sondern war ein Brief, ein Schriftstück, war ein tatsächlicher Beweis für die Hinterlist seiner lieben Tochter und aller derer, die ihr, Anna Andrejewna, den Bräutigam entreißen wollten: dieser schlagende Beweis würde ihn doch zu der Einsicht bringen, daß er sich retten mußte, und wäre es durch Flucht! sich retten zu ihr, zu ihr allein, zu Anna Andrejewna, und sich mit ihr trauen lassen, womöglich binnen vierundzwanzig Stunden, – wenn er von den anderen nicht geholt und in eine Irrenanstalt gesteckt werden wollte!

Aber vielleicht ist Lambert auch ganz offen vorgegangen und hat sich dieser jungen Dame gegenüber überhaupt nicht verstellt, sondern einfach von vornherein gesagt: „Mademoiselle, Sie müssen sich entscheiden, was Sie werden wollen: eine alte Jungfer oder eine Fürstin und Millionärin. Es gibt da ein Dokument, ich werde es dem Jüngling entwenden und Ihnen ausliefern ... gegen einen Wechsel von Ihnen über dreißigtausend Rubel.“ Ich glaube sogar, daß er wirklich gerade so vorgegangen ist. Oh, er hielt ja alle für genau solche Schurken, wie er selbst einer war! Ich sage noch einmal: es war in ihm eine gewisse Schurkennaivität, eine gewisse Schurkenunschuld ... Aber welcher Art sein Vorgehen auch gewesen sein mag, es ist immerhin sehr möglich, daß Anna Andrejewna selbst durch diese Taktik sich nicht einen Augenblick hat verwirren lassen; wahrscheinlich wird sie es sogar vorzüglich verstanden haben, sich zu beherrschen und den Erpresser, dessen Redeweise natürlich seinem Gewerbe entsprach, ruhig bis zu Ende anzuhören – und alles das aus der „Vorurteilslosigkeit“ ihrer „Weitherzigkeit“. Oh, selbstverständlich wird sie zu Anfang ein wenig errötet sein, aber sie wird sich dann schnell zusammengenommen und ihn eben angehört haben. Doch wenn ich mir diese unnahbare, stolze, wirklich achtunggebietende junge Dame, die noch dazu so viel Verstand besitzt, Hand in Hand mit Lambert vorstelle, so ... ja, das ist es ja eben, daß sie so viel Verstand besitzt! Der russische Verstand, besonders einer von solcher Stärke, ist mit Vorliebe gänzlich vorurteilslos, und nun gar ein weiblicher! und noch unter solchen Umständen!

Jetzt fasse ich kurz zusammen:

An dem Tage und zu der Stunde, als ich nach meiner Krankheit zum erstenmal das Haus verließ, hatte Lambert bereits zwei Möglichkeiten ins Auge gefaßt (das weiß ich jetzt ganz genau): die erste Möglichkeit war, von Anna Andrejewna für das Dokument einen Wechsel über mindestens dreißigtausend Rubel zu fordern und ihr dann zu helfen, dem alten Fürsten vor seiner eigenen Tochter und seinem ganzen Anhang angst und bange zu machen, ihn darauf im richtigen Augenblick zu entführen und sie schleunigst mit ihm trauen zu lassen – kurz, etwas von dieser Art. Es war da schon ein ganzer Plan zusammengestellt; man wartete nur noch auf meine Hilfe, das heißt, auf das Dokument.

Lamberts zweiter Plan war: Anna Andrejewna zu verraten und den Brief nicht an sie, sondern an die Generalin Achmakoff zu verkaufen, wenn das vorteilhafter wäre. Für diesen Fall rechnete er auch auf Bjoring. Aber an die Generalin hatte sich Lambert doch noch nicht herangewagt. Er hatte erst nur spioniert. Auch wartete er noch auf mich.

Oh, er hatte mich sehr nötig, oder vielmehr nicht mich, sondern das Dokument. Was aber mich persönlich betrifft, so hatte er in bezug auf mich auch schon zwei Pläne entworfen. Der erste Plan bestand darin, wenn es nun einmal anders gar nicht ginge, Halbpart mit mir zu machen, doch das natürlich nur dann, wenn er meiner in jeder Beziehung sicher sein konnte. Der zweite Plan aber sagte ihm weit mehr zu und bestand darin, daß er mich wie einen dummen Jungen betrügen wollte, indem er mir das Dokument einfach stahl oder mit Gewalt entwendete. Dieser zweite Plan gefiel ihm ausnehmend, und in seinen Träumen malte er sich gern das Gelingen desselben aus. Ich bemerke hier nochmals: es gab da so einen Umstand, der ihn an dem Gelingen dieses zweiten Planes überhaupt nicht zweifeln ließ, doch, wie gesagt, mitteilen werde ich diesen Umstand erst später. Jedenfalls erwartete er mich mit krampfhafter Ungeduld: alles hing für ihn nur von mir und meinem Verhalten ab, jeder Schritt und jeder Entschluß.

Aber in einer Beziehung muß ich ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen: bis zu meiner Genesung hatte er sich doch im Zaum gehalten, trotz seiner ganzen Ungeduld und einer Veranlagung, die ihn sonst nur schwer eine Sache abwarten ließ. Er war während meiner Krankheit überhaupt nicht zu mir gekommen, ausgenommen das eine Mal, als er mit Werssiloff gesprochen hatte; mich persönlich aber hatte er wohlweislich ganz in Ruhe gelassen, und bis zu meinem Erscheinen bei ihm war von ihm aus nichts geschehen, was sein Interesse irgendwie verraten hätte. Über die Möglichkeit aber, daß ich das Dokument jemandem übergeben oder davon Mitteilung machen oder es vernichten könnte, war er ganz unbesorgt. Aus meinem Gerede damals bei ihm hatte er schon ersehen, wieviel mir selbst an der Geheimhaltung lag, und wie sehr ich fürchtete, daß jemand von diesem Dokument auf irgendeine Weise etwas erfahren könnte. Daß ich aber von allen anderen ihn ganz zuerst aufsuchen würde, daran zweifelte er keinen Augenblick: Darja Onissimowna war ja zum Teil auch auf seine Veranlassung zu mir gekommen, und er wußte, daß nunmehr schon Neugier und Angst in mir geweckt waren, und ich die Ungewißheit nicht lange ertragen würde ... Und außerdem hatte er bereits alle Vorkehrungen getroffen, ja, es war ihm sogar möglich, genau zu erfahren, an welchem Tage ich zum erstenmal das Haus verlassen würde, so daß ich ihm doch nicht entgangen wäre, selbst wenn ich’s gewollt hätte.

Aber wenn schon Lambert ungeduldig auf mich wartete, so wartete Anna Andrejewna vielleicht noch viel ungeduldiger auf mich. Ich sage ganz offen: Lambert war teilweise vielleicht im Recht, wenn er sich mehr an seinen zweiten Plan hielt und sie im Stich zu lassen beabsichtigte, da sie schließlich selbst die Veranlassung dazu gab. Denn trotz ihres fraglosen Einverständnisses (ich weiß zwar nicht, in welcher Form sie übereingekommen waren, aber daß sie es waren, daran zweifle ich keinen Augenblick) war Anna Andrejewna doch bis zuletzt nicht ganz aufrichtig gegen ihn. So hatte sie ihm von sich nichts mitgeteilt. Sie hatte ihm nur andeutungsweise zu verstehen gegeben, daß sie mit seinem Plan und allen seinen Bedingungen einverstanden war, – aber eben auch nur andeutungsweise; sie hatte seinen ganzen Vorschlag sicherlich bis in alle Einzelheiten angehört und ihr Einverständnis wohl nur durch ihr Schweigen ausgedrückt. Ich habe die sichersten Beweise für die Richtigkeit dieser Annahme; und der Grund, weshalb sie sich so verhielt, war wohl, daß sie auf mich wartete. Sie wollte es lieber mit mir zu tun haben, als mit dem Spitzbuben Lambert – das steht für mich fest! Und das kann ich auch verstehen; ihre Rechnung stimmte nur deshalb nicht, weil Lambert sie schließlich durchschaute. Für ihn aber wäre es doch gar zu unvorteilhaft gewesen, wenn sie mir hinter seinem Rücken das Dokument abgenommen und sich mit mir verbündet hätte. Hinzu kam, daß er damals von dem Gelingen seines zweiten Planes schon mit aller Sicherheit überzeugt war. Ein anderer hätte an seiner Stelle immer noch ein wenig gezweifelt und sich gefürchtet, Lambert aber war jung, frech, beseelt von der ungeduldigsten Erwerbsgier, kannte die Menschen wenig und hielt sie alle für seinesgleichen; deshalb kam ihm denn auch nicht der geringste Zweifel, um so weniger als er durch Anna Andrejewnas Verhalten seine wichtigsten Mutmaßungen bestätigt sah.

Nun noch eine letzte und wichtigste Frage: Wußte auch Werssiloff schon irgend etwas, und war er schon damals an irgendwelchen, wenn auch noch so fernen Plänen Lamberts beteiligt? Nein, nein, nein, damals gewiß noch nicht, wenn auch das verhängnisvolle Wort vielleicht schon gefallen war ... Doch genug, genug davon, ich greife zu weit vor.

Nun, und wie verhielt es sich denn mit mir? Wußte ich damals schon etwas, und was war es denn, das ich wußte, als ich zum erstenmal das Haus verließ? Ich ging von der Behauptung aus, daß ich damals noch nichts gewußt hätte, ich hätte alles dies erst viel später erfahren, sogar erst dann, als alles schon zu Ende war. Das ist richtig, aber verhielt es sich denn auch wirklich so? Nein, im Grunde doch wohl nicht; ich wußte zweifellos schon recht viel; aber woher wußte ich es? Ich erinnere den Leser an meinen Traum! Wenn ich schon so einen Traum haben konnte, wenn so etwas schon meinem Herzen entspringen und sich gestalten konnte, so ist das ein Beweis dafür, daß ich schon ungeheuer viel – nicht gerade gewußt, aber doch geahnt habe von dem, was ich weiter oben vorausgreifend bereits erzählt habe, und was ich dann allerdings erst später, „nachdem alles zu Ende war,“ erfuhr. Also von einem „Wissen“ konnte damals noch nicht die Rede sein, aber mein Herz klopfte vor lauter Ahnungen und böse Geister hatten sich schon meiner Träume bemächtigt. Und zu einem Menschen wie Lambert zog es mich hin, obgleich ich genau wußte, was für ein Mensch er war, und obgleich ich sogar alle seine Absichten vorausahnte! Und weshalb zog es mich denn so zu ihm hin? Sonderbar: gerade jetzt, in diesem Augenblick, da ich dies niederschreibe, scheint es mir, als hätte ich schon damals ganz genau und sogar alle einzelnen Gründe gewußt, weshalb es mich zu ihm zog, während ich doch gleichzeitig gar nichts wußte. Vielleicht wird der Leser das verstehen. Jetzt aber – zur Sache und zu den Ereignissen in ihrer Reihenfolge.

Share on Twitter Share on Facebook