Es begann damit, daß zwei Tage vor meinem ersten Ausgang Lisa gegen Abend in großer Erregung nach Hause kam. Sie war aufs tiefste gekränkt worden; und in der Tat war ihr etwas Unglaubliches widerfahren.
Ich habe von ihrer Beziehung zu Wassin schon gesprochen. Sie holte sich von ihm Rat: nicht nur, um uns zu zeigen, daß sie unseres Rates nicht bedurfte, sondern auch, weil sie Wassin wirklich sehr schätzte. Sie hatten sich in Luga kennen gelernt, und ich hatte immer die Empfindung gehabt, daß sie Wassin nicht gleichgültig war. Nun war es ja ganz natürlich, daß es sie in ihrem Unglück nach einem Menschen mit festem, ruhigem, immer über den Dingen stehendem Verstande verlangte, wie ihn Wassin ihrer Meinung nach besaß. Übrigens sind Frauen bekanntlich keine großen Meister in der richtigen Beurteilung eines männlichen Verstandes, wenn der betreffende Mensch ihnen gefällt, und mit Vergnügen nehmen sie Paradoxa als Folgeschlüsse von strengster Logik hin, wenn diese ihren eigenen Wünschen entgegenkommen. Was Lisa an Wassin besonders gefiel, war sein Mitgefühl mit ihrem Leid und, wie sie anfangs glaubte, auch seine Symphathie für den jungen Fürsten. Da sie zudem seine Gefühle für sie ahnte, war es selbstverständlich, daß sie seine Sympathie für den Gegner doppelt so hoch schätzte. Der Fürst aber hatte ihre Mitteilung, daß sie sich von Wassin zuweilen Rat hole, mit großer Unruhe aufgenommen und war sogleich eifersüchtig geworden. Das kränkte Lisa, weshalb sie ihre Besuche bei Wassin schon aus Trotz nicht einstellte. Der Fürst sagte schließlich nichts mehr dazu, wurde jedoch immer finsterer und mißtrauischer. Lisa aber hat mir später (lange nachher) selbst gestanden, daß Wassin ihr damals schon sehr bald gar nicht mehr gefallen habe; er war ruhig, und gerade diese ewig sich gleichbleibende Ruhe, die ihr anfangs so gefallen hatte, war ihr alsbald recht unangenehm geworden. Hinzu kam, daß die Ratschläge, die er ihr als ein in Rechtssachen doch zweifellos erfahrener Mann gab, und die stets sehr vernünftig schienen, sich leider alle als unausführbar erwiesen, was doch recht sonderbar war. Sein Urteil über andere Menschen fällte er manchmal gar zu sehr von oben herab, und ohne sich dessen auch nur im geringsten vor ihr zu schämen; – und je länger, um so weniger schämte er sich vor ihr, was sie seiner wachsenden Gleichgültigkeit gegenüber ihrem Unglück zuschrieb. Einmal hatte sie ihm dafür gedankt, daß er gegen mich immer so freundlich war und trotz seines mir weit überlegenen Verstandes mit mir wie mit seinesgleichen sprach (das heißt, sie hatte ihm fast meine eigenen Worte gesagt). Seine Antwort war darauf gewesen:
„Das ist es nicht. Ich tue es einfach aus dem Grunde, weil ich zwischen ihm und anderen gar keinen Unterschied sehe. Ich halte ihn weder für dümmer als die Klugen, noch für böser als die Guten. Ich bin gegen alle Menschen gleich, denn in meinen Augen sind alle Menschen gleich.“
„Wie, sehen Sie denn wirklich keine Unterschiede?“
„Oh, natürlich unterscheidet sich ein jeder durch irgend etwas, aber für mich gibt es keine Unterschiede, weil die Unterschiede der Menschen mich nichts angehen: für mich sind alle gleich und ist alles gleich, und deshalb bin ich auch gegen alle Menschen in gleicher Weise freundlich.“
„Und das langweilt Sie nicht?“
„Nein; ich bin immer zufrieden mit mir.“
„Und Sie wünschen sich auch nichts?“
„Wie sollte ich nicht. Aber ich tue es nicht allzusehr. Ich brauche fast nichts, nicht einen Rubel mehr, als ich habe. Ob ich in einem goldenen Kleide gehe oder so wie jetzt – das ist doch vollkommen gleichgültig: die goldenen Kleider würden Wassin nicht im geringsten erhöhen. Alles so was lockt mich nicht: können denn äußere Ehrungen oder ein hoher Rang meinen Wert ausmachen?“
Lisa hat mir ehrenwörtlich versichert, daß er ihr buchstäblich so geantwortet hätte. Übrigens läßt sich so etwas in seiner Wirkung nie genau beurteilen, dazu muß man immer alle Umstände kennen, unter denen es gesagt ward.
Nach und nach war Lisa zu der Überzeugung gekommen, daß er vielleicht auch über den Fürsten nur deshalb so nachsichtig urteilte, weil „für ihn alle gleich waren, und es für ihn keine Unterschiede gab,“ aber durchaus nicht aus Sympathie für sie. Doch mit der Zeit begann er merklich, seinen Gleichmut zu verlieren und sich über den Fürsten nicht nur tadelnd, sondern sogar mit Verachtung und Spott zu äußern. Das reizte Lisa sehr, aber Wassin ließ sich durch nichts davon abhalten. Und dabei drückte er sich immer noch möglichst milde aus, und selbst wenn er ihn tadelte, geschah es ohne Unwillen: er erklärte ihr dann eben mit logischer Folgerichtigkeit den ganzen Unwert ihres Helden; aber gerade in dieser Logik lag ja die Ironie. Schließlich setzte er ihr sogar die ganze „Torheit“ ihrer Liebe auseinander, die eigensinnige Erzwungenheit dieser Liebe. „Sie haben sich über Ihre eigenen Gefühle getäuscht; Irrtümer aber, die man einmal als solche erkannt hat, müssen unbedingt aufgegeben werden.“
Das hatte er gerade an jenem Tage zu ihr gesagt. Lisa war empört aufgestanden, um ihn sofort zu verlassen; doch was tat er nun, und womit schloß dieser vernünftige Mensch? Er schloß damit, daß er mit der edelsten Miene und sogar mit Gefühl – ihr seine Hand antrug. Lisa hatte ihm darauf ins Gesicht gesagt, daß er einfach dumm sei, und war hinausgegangen.
Einer Frau vorzuschlagen, einen Unglücklichen aufzugeben, bloß weil dieser Unglückliche ihrer „nicht wert“ sei, und das noch dazu einer Frau, die von diesem Unglücklichen schwanger ist, – das ist nun der Verstand solcher Leute! Ich nenne das ein schreckliches Aufgehen in Theorie bei vollständiger Unkenntnis des Lebens. Zugrunde liegt eine grenzenlose Eigenliebe. Lisa erkannte denn auch ganz genau, daß er auf seine Handlungsweise noch stolz war, und wäre es auch nur deshalb, weil er um ihren Zustand bereits wußte. Mit Tränen der Empörung war sie zum Fürsten geeilt – dieser aber hatte Wassin noch übertrumpft. Man sollte meinen, ihre Erzählung hätte ihn wirklich überzeugen müssen, daß er zur Eifersucht jetzt wahrlich keinen Grund mehr hatte; aber gerade diese Erzählung machte ihn toll. Übrigens sind ja die Eifersüchtigen alle so! Er machte ihr eine furchtbare Szene und beleidigte sie so unerhört, daß sie schon entschlossen war, sofort und unwiderruflich mit ihm zu brechen.
Dennoch kam sie so weit ruhig nach Haus, daß man ihr nicht viel anmerkte, aber vor Mama konnte sie es doch nicht verheimlichen. Oh, an jenem Abend traten sie sich wieder so nah wie früher: das Eis war gebrochen; beide weinten sich aus, während sie sich fest umschlungen hielten, und Lisa beruhigte sich anscheinend, doch man sah es ihr an, daß sie sich sehr bedrückt fühlte. Den Abend verbrachte sie bei Makar Iwanowitsch ganz still und stumm; immerhin blieb sie im Zimmer und hörte sehr aufmerksam an, was er sprach. Seit jenem Unfall Makar Iwanowitschs, damals, beim gewaltsamen Aufstehen, war sie zu ihm ausnehmend freundlich und dabei doch gewissermaßen schüchtern ehrerbietig, wenn sie auch nach wie vor einsilbig blieb.
An diesem Abend nun gab Makar Iwanowitsch dem Gespräch auf einmal eine andere Wendung, was für uns ganz unerwartet und überraschend kam. Ich muß bemerken, daß Werssiloff und Alexander Ssemjonowitsch, der Doktor, schon am Morgen dieses Tages mit sehr sorgenvollen Mienen über seinen Zustand gesprochen hatten. Desgleichen muß ich bemerken, daß im Hause seit ein paar Tagen verschiedene Vorbereitungen zu Mamas Geburtstag getroffen wurden und wir schon viel von dem bevorstehenden Familienfest sprachen, obwohl bis dahin noch ganze fünf Tage waren. Eben ein solches Gespräch war es, das in Makar Iwanowitsch alte Erinnerungen wachrief, und er begann, von Mamas Kindheit zu erzählen und von jener ersten Zeit, als sie „noch nicht auf den Beinchen stehen konnte“. „Wenn sie mal auf meinem Arm saß, dann wollte sie um keinen Preis herunter,“ erzählte der Alte, „und ich weiß noch, wie ich sie gehen lehrte. Ich stellte sie drei Schritt von mir in den Winkel und rief sie, und sie kam dann ganz unsicher auf mich los und fürchtete sich gar nicht vor mir, sondern lachte noch, und wenn sie dann bei mir angelangt war, umfaßte sie meine Knie und hob die Ärmchen zu meinem Hals. Und Märchen hab’ ich dir erzählt, Ssofja Andrejewna; Märchen liebtest du über alles. Ganze zwei Stunden konnte sie auf meinem Knie sitzen und horchen, und mir die Worte von den Lippen lesen. In der Stube wunderten sich alle: ‚Seht doch, wie sie an dem Makar hängt!‘ Oder in der Sommerzeit brachte ich dich in den Wald, suchte dir wohl einen Himbeerstrauch, setzte dich unter ihm hin und schnitzte dir derweil eine Flöte aus Holz. Und wenn wir dann genug gegangen waren, trug ich dich auf den Armen nach Hause – mein Kindchen schlief schon. Und einmal hast du dich so vor einem Wolf erschreckt, kamst zu mir gelaufen, zittertest vor Angst, und dabei war da gar kein Wolf.“
„Dessen erinnere ich mich noch,“ sagte Mama.
„Erinnerst du dich wirklich noch?“
„An vieles erinnere ich mich noch. Soweit ich nur zurückdenken kann, habe ich von Ihnen nur Güte und Liebe erfahren,“ sagte sie mit ergriffener Stimme, und plötzlich wurde sie bis über die Stirn rot.
Makar Iwanowitsch wartete ein wenig, bevor er weitersprach.
„Ja, Kinderchen, jetzt werde ich bald von euch gehen. Meine Stunde ist schon gekommen. Im Alter hab’ ich Trost gefunden für allen Kummer; habt Dank, ihr Lieben.“
„Aber was reden Sie da, Makar Iwanowitsch, lieber, teurer Mensch,“ rief Werssiloff sichtlich beunruhigt. „Mir hat der Arzt noch vorhin gesagt, daß Ihr Zustand bedeutend besser sei ...“
Mama horchte erschrocken auf.
„Ja, was weiß denn der, dein Alexander Ssemjonowitsch,“ sagte Makar Iwanowitsch lächelnd, „ein lieber Mensch ist er, aber auch nicht mehr. Laßt gut sein, Freunde, oder glaubt ihr, daß ich mich vor dem Sterben fürchte? Ich hatte heute nach dem Morgengebet so ein Gefühl im Herzen: daß ich von hier nicht mehr hinausgehen werde – so ist es mir gesagt worden. Nun und so geschehe es denn, der Name des Herrn sei gelobt. Nur an euch allen will ich mich noch sattsehen. Auch Hiob, der vielfach Geprüfte, fand Trost, wenn er seine neuen Kindlein sah, doch ob er darüber auch seine früheren Kinder vergaß und vergessen konnte? – Unmöglich ist dies! Nur daß sich im Lauf der Jahre die Trauer mit der Freude vermischt und sich in ein schmerzloses Seufzen verwandelt! So ist es auf Erden: jede Seele wird geprüft und wird getröstet. Ich hab’ mir vorgenommen, Kinderchen, euch ein paar Wörtchen zu sagen, es ist nicht viel,“ fuhr er mit seinem stillen, wundervollen Lächeln, das ich nie vergessen werde, fort, und plötzlich wandte er sich zu mir: „Du, Lieber, eifere für die heilige Kirche, und wenn die Zeit ruft, so geh auch in den Tod für sie, – aber wart’ doch, erschrick nicht, es ist das ja nicht gleich nötig,“ unterbrach er sich lächelnd. „Jetzt denkst du vielleicht noch nicht daran, später wirst du vielleicht daran denken. Und dann noch eines: was du auch Gutes zu tun gedenkst, das tue für Gott, nicht aber um des Neides willen. An deinem Werk aber halt fest und laß es dir nicht durch Kleinmut gleichviel welcher Art entwinden; schaffe es nicht übereilt, nicht kopflos und unstet. Nun, und das ist auch alles, was du zu hören brauchst. Es sei denn noch dies, daß du lernst, täglich und unentwegt zu beten. Ich sage dir das nur so, vielleicht erinnerst du dich mal daran. Ich wollte wohl auch Euch, Andrei Petrowitsch, etwas sagen, Herr, aber Gott wird auch ohne mich Euer Herz finden. Schon lange haben wir nicht mehr davon gesprochen, seit damals, da dieser Pfeil mein Herz durchbohrte. Jetzt aber, wo ich von Euch gehe, wollte ich nur daran erinnern ... was Ihr mir damals verspracht ...“
Die letzten Worte sagte er so leise, daß sie kaum zu verstehen waren ...
„Makar Iwanowitsch!“ stieß Werssiloff verwirrt und beunruhigt hervor und erhob sich von seinem Stuhl.
„Nein, nein, Herr, laßt Euch nicht verwirren, ich hab’ ja nur so daran erinnern wollen ... Die Schuld aber vor Gott trifft in dieser Sache vor allen anderen mich; denn wenn Ihr auch mein Herr wart, so hätt’ ich doch diese Schwäche nicht zulassen sollen. Deshalb quäle auch du, Ssofja, dein Herz nicht zu sehr, denn deine ganze Sünde ist – meine Sünde, in dir aber war, so denke ich mir, damals wohl nicht viel Verständnis dafür vorhanden, und vielleicht auch in Euch, Herr, nicht viel mehr als in ihr,“ sagte er lächelnd, und seine Lippen bebten wie vor Schmerz, „und wenn ich dich damals auch hätte belehren können, als mein Weib, und sogar mit dem Stocke, und selbiges sogar hätte tun müssen, so tatest du mir doch leid, als du in Tränen vor mir niederfielst und mir nichts verheimlichtest ... und mir die Füße küßtest. Nicht um dir Vorwürfe zu machen, spreche ich davon, sondern nur um Andrei Petrowitsch zu erinnern ... denn Ihr erinnert Euch wohl selber, Herr, Eures Versprechens und Edelmannswortes ... und die Trauung macht alles gut ... Vor den Kinderchen sag’ ich das, Herr ...“
Er war außerordentlich erregt und sah Werssiloff an, als erwarte er von ihm ein zusagendes Wort. Ich wiederhole, das kam alles so unerwartet, daß ich vor Überraschung ganz regungslos dasaß. Werssiloff war nicht weniger erregt als Makar Iwanowitsch: er trat schweigend zu Mama und umschlang sie fest; da ging Mama, gleichfalls schweigend, zu Makar Iwanowitsch und verneigte sich tief vor ihm.
Es war eine erschütternde Szene. Im Zimmer befanden sich diesmal nur wir, nur die Familie. Selbst Tatjana Pawlowna war nicht zugegen. Lisa hatte sich auf ihrem Stuhl eigentümlich gerade aufgerichtet und hörte stumm zu; plötzlich stand sie auf und sagte mit fester Stimme zu Makar Iwanowitsch:
„Segnen Sie auch mich, Makar Iwanowitsch, in einer großen Qual! Morgen wird sich mein Schicksal entscheiden ... beten Sie heute für mich!“
Damit verließ sie das Zimmer. Ich weiß, daß Makar Iwanowitsch ihr ganzes Unglück schon von Mama erfahren hatte. An diesem Abend sah ich Werssiloff und Mama zum erstenmal zusammen: bis dahin hatte ich neben ihm immer nur seine Sklavin gesehen. Ja, ich hatte noch ungeheuer vieles nicht gewußt und nicht bemerkt an diesem Menschen, den ich bereits verurteilte; so kehrte ich ganz verwirrt in mein Zimmer zurück. Und ich muß sagen: gerade zu dieser Zeit hatten sich alle meine Bedenken und Zweifel gegen ihn verdichtet. Noch nie war er mir so geheimnisvoll und unverständlich erschienen wie in eben jener Zeit. Aber davon handelt ja diese ganze Geschichte, die ich hier schreibe.
„Nun stellt es sich heraus,“ dachte ich bei mir, als ich zu Bett ging, „daß er damals Makar Iwanowitsch sein ‚Edelmannswort‘ gegeben hat: daß er Mama heiraten werde, sobald sie Witwe würde. Das hat er mir verschwiegen, als er mir damals seine Unterredung mit Makar Iwanowitsch erzählte.“
Den ganzen folgenden Tag war Lisa nicht zu Haus, und als sie dann ziemlich spät heimkehrte, ging sie geradeswegs zu Makar Iwanowitsch. Ich wollte zunächst nicht hingehen, um sie nicht zu stören, doch als ich bald darauf bemerkte, daß auch Mama und Werssiloff bei ihnen waren, ging ich gleichfalls hinein. Lisa saß neben dem Alten und weinte an seiner Schulter, während er mit traurigem Gesicht stumm ihren Kopf streichelte.
Werssiloff sagte mir (nachher in meinem Zimmer), daß der Fürst auf seinem Willen bestand und sich mit Lisa bei der ersten Möglichkeit trauen lassen wollte, noch vor dem Urteilsspruch des Gerichts. Es fiel Lisa schwer, einzuwilligen, obschon sie kein Recht mehr hatte, nicht einzuwilligen. Überdies hatte Makar Iwanowitsch ihr geradezu „befohlen“, sich trauen zu lassen. Natürlich wäre das später alles ganz von selbst geschehen, und sie hätte sich ja zweifellos trauen lassen, auch ohne fremden Befehl und ohne zu schwanken, aber in diesem Augenblick war sie von dem, den sie liebte, so maßlos gekränkt und durch diese ihre Liebe sogar in ihren eigenen Augen so erniedrigt, daß es ihr unendlich schwer fiel, sich zu fügen. Doch außer der Kränkung war da noch ein neuer Umstand hinzugekommen, von dem ich noch nichts ahnte und auch gar nicht ahnen konnte.
„Hast du es schon gehört, daß diese ganze junge Gesellschaft von der Petersburger Seite verhaftet worden ist?“ fragte Werssiloff mich plötzlich wie beiläufig.
„Was? Dergatschoff?“ rief ich erschrocken.
„Ja; und Wassin auch.“
Ich war unendlich betroffen, besonders durch die Nachricht von der Verhaftung Wassins.
„Ja aber ist denn Wassin auch in irgend etwas verwickelt? Mein Gott, was wird jetzt mit ihnen geschehen? Und das ausgerechnet in derselben Zeit, da Lisa Wassin so anklagt! ... Was glauben Sie, was kann man ihnen anhaben? Dahinter steckt Stebelkoff! Ich schwöre Ihnen, das ist Stebelkoffs Werk!“
„Reden wir nicht davon,“ sagte Werssiloff und sah mich sonderbar an (eben wie man einen Menschen ansieht, der nichts begreift und nichts errät), „wer weiß es denn, was sie da haben, und wer kann es wissen, was mit ihnen geschehen wird? Doch das war es nicht, worüber ich mit dir sprechen wollte: ich hörte, du willst morgen ausgehen. Wirst du da nicht auch den Fürsten Ssergei Petrowitsch besuchen?“
„Das ist das erste, was ich vorhabe; wenn es mir auch, offen gestanden, sehr schwer wird ... Ja wie, wollen Sie ihm durch mich etwas sagen lassen?“
„Nein, das nicht. Ich werde ihn selbst sehen. Lisa tut mir leid. Und was kann ihr Makar Iwanowitsch für Ratschläge geben? Er kennt ja selbst weder das Leben noch die Menschen. Und dann noch etwas, mein Lieber“ (er hatte lange nicht mehr „mein Lieber“ zu mir gesagt), „da sind so ... ein paar junge Leute ... von denen einer dein früherer Schulfreund Lambert ist ... Mir scheint, das sind lauter – große Spitzbuben ... Ich sage das nur, um dich zu warnen ... Übrigens ist das natürlich deine Sache, ich habe ja kein Recht ...“
„Andrei Petrowitsch!“ Ich ergriff seine Hand, ohne zu überlegen und nahezu begeistert, wie das oft mit mir geschieht (es war fast ganz dunkel im Zimmer). „Andrei Petrowitsch, ich habe geschwiegen, – Sie haben es doch gesehen, ich habe die ganze Zeit geschwiegen, und wissen Sie, weshalb? Um Ihren Geheimnissen auszuweichen. Ich habe bei mir beschlossen, sie niemals erfahren zu wollen. Ich bin feige und fürchte mich davor, daß Ihre Geheimnisse Sie ganz aus meinem Herzen reißen könnten, das aber will ich nicht. Und wenn es so ist, wozu sollten Sie dann meine Geheimnisse kennen? Kann es denn nicht auch Ihnen ganz gleich sein, wohin ich gehe? Ist es nicht so?“
„Du hast recht; aber kein Wort mehr darüber, ich bitte dich!“ sagte er und verließ mein Zimmer.
So hatten wir uns ganz unerwarteterweise doch ein wenig ausgesprochen. Aber er hatte meine Erregung vor dem neuen Schritt ins Leben, der mir am folgenden Tage bevorstand, nur noch verstärkt, so daß ich nachts nicht schlafen konnte und immer wieder aufwachte. Trotzdem war mir froh zumute.