Ich sehe mich wieder gezwungen, dem Verlauf der Ereignisse vorzugreifen und dem Leser wenigstens einiges im voraus zu erklären, da sich hier in die logische Entwicklung meiner Geschichte so viele Zufälligkeiten hineinmischten, daß man sich ohne vorhergegangene Erläuterung derselben kaum zurechtfinden kann. Es handelte sich hier um eben jene „Schlinge“, von der Tatjana Pawlowna ein Wort hatte fallen lassen. Diese Schlinge bestand darin, daß Anna Andrejewna sich schließlich zu dem gewagtesten Schritt entschlossen hatte, den man sich in ihrer Lage überhaupt ausdenken kann. Sie war in der Tat ein Charakter – das muß man ihr lassen! Der alte Fürst war allerdings unter dem Vorwande, daß sein Gesundheitszustand es erfordere, noch rechtzeitig nach Zarskoje Sselo in Sicherheit gebracht worden, so daß die Kunde von seiner bevorstehenden Heirat mit Anna Andrejewna nicht leicht in die Öffentlichkeit dringen, vielmehr vorläufig vertuscht oder sozusagen im Keime erstickt werden konnte. Nur war damit schließlich noch nicht viel erreicht, denn dieser schwache alte Mann, mit dem man sonst alles machen konnte, hätte um nichts in der Welt eingewilligt, von seiner Absicht zurückzutreten, und Anna Andrejewna, die ihm den Heiratsantrag gemacht hatte, treulos sitzen zu lassen. In solchen Dingen war er viel zu sehr Ritter, um unritterlich zu handeln, weshalb denn auch zu gewärtigen war, daß er früher oder später plötzlich und mit unbeugsamem Willen zur Ausführung seiner Absicht schritt, was gerade bei solchen schwachen Charakteren sehr, sehr leicht geschieht, denn es gibt bei ihnen eine gewisse Grenze, an die man sie nicht heranführen darf. Hinzu kam, daß er die ganze Peinlichkeit der Lage, in der Anna Andrejewna sich befand, vollkommen erkannte, und sich auch darüber durchaus klar war, daß die Gesellschaft häßlich über sie reden, spotten und sie, die er so grenzenlos verehrte, schließlich sogar in einen üblen Ruf bringen konnte. Was ihn vorläufig noch beruhigte und zurückhielt, war nur, daß seine Tochter Katerina Nikolajewna ihm gegenüber sich nie erlaubt hatte, weder mit einem Wort noch mit einer Anspielung über Anna Andrejewna etwas Schlechtes zu sagen oder sich auch nur im geringsten gegen seine Heiratsabsichten zu äußern. Im Gegenteil, sie war zu der Braut ihres Vaters sogar von einer großen Herzlichkeit und Aufmerksamkeit. So befand sich denn Anna Andrejewna in einer äußerst peinlichen Lage, denn mit ihrem feinen weiblichen Spürsinn hatte sie natürlich sofort erraten, daß sie mit der geringsten absprechenden Bemerkung über Katerina Nikolajewna – die der Fürst gleichfalls anbetete, und jetzt sogar noch mehr als je zuvor, eben weil sie so gutherzig und achtungsvoll ihre Zustimmung zu seiner Heirat gegeben hatte – daß sie damit nur seine väterlich zärtlichen Gefühle verletzen und gegen sich selbst nur Mißtrauen, vielleicht sogar seinen Unwillen erwecken werde. Das also war nun der Kampf: die beiden Gegnerinnen schienen miteinander in Taktgefühl und Nachsicht zu wetteifern, und der alte Fürst wußte schließlich schon gar nicht, über welche von beiden er sich mehr wundern sollte, bis er am Ende nach der Art aller schwachen, doch gutherzigen Leute darunter zu leiden begann und die Schuld an allem sich allein zuschrieb. Seine Selbstquälerei soll ihn fast krank gemacht haben, seine Nerven gerieten dadurch noch mehr aus dem Gleichgewicht, und das Ergebnis war, wie man versichert, daß er in Zarskoje, statt sich zu erholen, bald nahe daran gewesen war, das Bett hüten zu müssen.
Hier möchte ich, gewissermaßen in Klammern, etwas erwähnen, was ich erst viel später erfahren habe: wie verlautete, hatte Bjoring Katerina Nikolajewna ganz offen den Vorschlag gemacht, ihren Vater ins Ausland zu bringen, ihn durch irgendeine Vorspiegelung dazu zu überreden, und dabei in der Gesellschaft vertraulich die Erklärung zu verbreiten, daß er vor Altersschwäche nicht mehr zurechnungsfähig sei, und sich dies im Auslande durch ein ärztliches Zeugnis bestätigen zu lassen. Doch Katerina Nikolajewna habe das nicht gewollt – wenigstens wurde das nachher behauptet. Sie habe vielmehr diesen Vorschlag mit Unwillen zurückgewiesen. Freilich ist es nur ein Gerücht, aber ich schenke ihm doch vollen Glauben.
Und da, ausgerechnet in dem Augenblick, als Anna Andrejewnas Spiel rettungslos verloren schien, erfährt sie nun plötzlich durch Lambert, daß es einen Brief gibt, in dem die Tochter einen Juristen um Rat fragt, wie sie ihren Vater offiziell für irrsinnig erklären lassen könnte! – Ihr nachtragender und stolzer Charakter mußte dadurch selbstverständlich im höchsten Grade gereizt werden. Und wenn sie sich ihrer früheren Gespräche mit mir erinnerte und sich eine Menge geringfügiger Umstände vergegenwärtigte, so konnte sie an der Richtigkeit der Mitteilung wohl nicht mehr zweifeln. Da reifte denn in diesem willensstarken, unbeugsamen Frauenherzen unwiderstehlich der Plan zu einem entscheidenden Schlage. Dieser Plan lief darauf hinaus, dem Fürsten ohne jede Vorbereitung und Ohrenbläserei plötzlich alles zu sagen: ihn mit der Mitteilung zu erschrecken und zu erschüttern, daß ihm unfehlbar das Irrenhaus bevorstehe, und falls er sich sträuben oder unwillig werden oder gar das Mitgeteilte nicht glauben sollte – dann einfach den Brief seiner Tochter vor seinen Augen auszubreiten und damit den Beweis zu erbringen; denn „wenn schon einmal die Absicht bestanden hat, ihn für irrsinnig zu erklären, so ist dazu jetzt doch noch viel mehr Grund vorhanden, wo es gilt, die Heirat zu verhindern“. Und dann wollte sie den erschrockenen, gebrochenen alten Herrn unverzüglich aus Zarskoje nach Petersburg bringen, und hier – geradeswegs in meine Wohnung!
Das war ein ungeheures Wagnis, aber sie glaubte, sich ohne weiteres auf ihre Macht verlassen zu können. Jetzt will ich auf einen Augenblick von meiner Erzählung abweichen und, wenn ich damit auch wieder vorgreife, schon im voraus darauf aufmerksam machen, daß sie sich in der Wirkung der Enthüllung auf den alten Fürsten nicht verrechnet hatte; ja, die Wirkung überstieg sogar noch alle ihre Erwartungen. Die Mitteilung von diesem Brief seiner Tochter an den Juristen Andronikoff erschütterte den Fürsten tatsächlich noch viel, viel mehr, als sie und wir alle für möglich gehalten hätten. Ich hatte bis dahin noch keine Ahnung davon gehabt, daß dem alten Fürsten schon früher einmal von diesem Brief etwas zu Ohren gekommen war, doch hatte er nach Art aller schwachen und zaghaften Leute dem Gerücht keinen Glauben geschenkt und es sich aus allen Kräften vom Leibe gehalten, um sich seine Ruhe zu sichern, ja schließlich hatte er sich selbst wegen seiner unvornehmen Leichtgläubigkeit Vorwürfe gemacht. Ich will noch gleich erwähnen, daß die Tatsache des Vorhandenseins jenes Briefes auch auf Katerina Nikolajewna unvergleichlich stärker wirkte, als ich erwartet hatte ... Mit einem Wort, dieses Schriftstück war von weit größerer Wichtigkeit, als ich, der ich es in der Tasche trug, damals ahnte. Doch ich greife gar zu weit vor.
Aber warum, wird man fragen, warum hatte sie dazu gerade meine Wohnung ausersehen? Warum wollte sie den Fürsten in unsere billigen Wohnräume bringen und ihn womöglich durch die Ärmlichkeit unserer Umgebung erschrecken? Wenn es nun einmal nicht anging, ihn in sein eigenes Haus zu führen (da man dort alles vereiteln konnte), weshalb brachte sie ihn dann nicht in eine andere „hochelegante“ Wohnung, wie Lambert ihr anriet? Ja, eben hierin lag das ganze Wagnis ihres gewiß außergewöhnlichen Planes.
Die Hauptsache war für sie: dem Fürsten sofort nach seiner Ankunft das Dokument vorzuweisen. Nun hatte ich das Dokument bisher um keinen Preis ausliefern wollen. Da aber keine Zeit zu verlieren war, so entschloß sich Anna Andrejewna, im Vertrauen auf ihre Macht, die Sache ohne Dokument anzufangen, und den Fürsten geradeswegs zu mir zu bringen – warum? Ja, eben darum, weil sie mit diesem Schritt auch mich zu fangen, oder, wie das Sprichwort sagt, mit einem Stein zwei Sperlinge zu treffen hoffte. Sie rechnete und hoffte, mit einer solchen Überraschung und Erschütterung mich am ehesten überrumpeln zu können: ich würde, wie sie meinte, wenn ich den alten Fürsten plötzlich bei mir sähe, wenn ich seine Angst und Hilflosigkeit vor Augen hätte und ihren gemeinsamen Bitten ausgesetzt wäre, schließlich doch nicht widerstehen können und das Dokument vorweisen! Ich muß zugeben: ihre Berechnung war schlau und klug, war in den Schlüssen durchaus psychologisch, und noch mehr als das, denn beinahe hätte sie auch ihr Ziel erreicht ... Was aber den Alten betraf, so hatte sie ihn einzig damit zur Fahrt nach Petersburg bewegen können, daß sie ihm einfach erklärte, sie werde ihn zu mir bringen, ganz wie er ihr auch nur auf diese Erklärung hin Glauben geschenkt hatte, und dann sogar auf ihr bloßes Wort hin. Das habe ich alles erst später erfahren. Allein schon die Mitteilung, daß jenes Dokument sich in meinem Besitz befände, hatte in seinem schwachen Herzen den letzten Zweifel an der Richtigkeit der Mitteilung zerstört – so groß war seine Liebe und sein Vertrauen zu mir!
Ich muß noch bemerken, daß Anna Andrejewna selbst keinen Augenblick daran zweifelte, daß ich das Dokument noch besäße und nicht aus der Hand gegeben hätte. Ihr Irrtum bestand nur darin, daß sie meinen Charakter falsch beurteilte und zynisch auf meine Unschuld, meine Gutherzigkeit und sogar auf meine Sentimentalität rechnete; andererseits war sie der Meinung, daß ich, falls ich den Brief zum Beispiel Katerina Nikolajewna auszuliefern entschlossen wäre, das nur unter gewissen besonderen Umständen tun würde: eben diesen Umständen wollte sie durch eine Überrumpelung, einen ganz unerwarteten Schachzug und entscheidenden Schlag zuvorkommen.
Und schließlich hatte Lambert sie in alledem noch bestärkt. Ich habe schon einmal erwähnt, daß Lambert sich zu jener Zeit in einer äußerst kritischen Lage befand: er, der Anna Andrejewna zu hintergehen beabsichtigte, wollte mich mit allen Mitteln von ihr weglocken, damit ich, halbpart mit ihm, das Dokument an Katerina Nikolajewna verkaufte, was er aus gewissen Gründen für vorteilhafter hielt. Doch da ich das Dokument bis zum letzten Augenblick und um keinen Preis herausgab, so war er schließlich bereit, im äußersten Fall Anna Andrejewna behilflich zu sein, da er sonst Gefahr lief, ganz umgangen zu werden, und deshalb drängte er sich ihr mit seiner Dienstbeflissenheit bis zur letzten Stunde geradezu gewaltsam auf, und erbot sich sogar, wie ich genau weiß, einen Priester zur Stelle zu schaffen, der sie ohne weiteres trauen würde ... Doch Anna Andrejewna ersuchte ihn daraufhin nur mit einem verächtlichen Lächeln, ihr nicht mit solchen Vorschlägen zu kommen. Lambert erschien ihr viel zu ungeschickt und erweckte in ihr nur Abscheu; aber aus Vorsicht lehnte sie seine Dienste nicht ab, die unter anderem darin bestanden, daß er für sie spionierte. Übrigens – da ich auf Spionage zu sprechen gekommen bin – ich weiß auch heute noch nicht, ob mein Wirt Pjotr Ippolitowitsch für seine Dienste irgend etwas von ihnen erhielt, oder ob er einfach aus Vergnügen an der Verschwörung in ihr Lager übergegangen war; jedenfalls spionierte auch er mir nach, und seine Frau gleichfalls – das weiß ich genau.
Der Leser wird jetzt verstehen, daß ich, obschon ich zum Teil darauf vorbereitet worden war, mir doch nicht hatte träumen lassen, am nächsten oder übernächsten Tage den alten Fürsten in meiner Wohnung und unter solchen Umständen wiederzusehen. Wie hätte ich auch ein solches Wagnis von Anna Andrejewna erwarten sollen! Reden kann man ja vieles und andeuten noch mehr, aber einen solchen Entschluß fassen und diesen Entschluß auch wirklich ausführen – nein, das muß ich sagen, dazu gehört Charakter!