I.

Lisa hatte ich durchaus nicht „vergessen“, darin täuschte sich Mama. Dem feinen Gefühl der Mutter war es nur nicht entgangen, daß zwischen Bruder und Schwester gleichsam eine leise Abkühlung einzutreten begann, aber das hatte nichts mit unserer gegenseitigen Liebe zu tun, sondern entsprang eher einer gewissen Eifersucht. Ich will dies im Hinblick auf das Weitere etwas näher erklären.

In der armen Lisa zeigte sich seit dem Tage der Verhaftung des Fürsten ein gewisser unzugänglicher Stolz, ja förmlich ein unnahbarer Hochmut, der auf die Dauer unerträglich wurde; ein jeder im Hause begriff natürlich den Grund dieser Veränderung und erriet die Wahrheit, d. h. wie sehr sie litt; und wenn ich mich in der ersten Zeit über ihre Art, mit uns umzugehen, ärgerte und meinen Ärger auch zeigte, so geschah das nur infolge meiner kleinlichen Reizbarkeit, die durch die Krankheit noch zehnmal schlimmer geworden war, – so denke ich jetzt darüber. Zu lieben aber hatte ich Lisa deshalb doch nicht aufgehört; im Gegenteil, ich liebte sie sogar noch mehr, nur wollte ich nicht den ersten Schritt zur Annäherung machen, obwohl ich wußte, daß auch sie um nichts in der Welt diesen ersten Schritt tun würde.

Die Sache war die, daß Lisa seit der Verhaftung des Fürsten, nachdem alles über ihn bekannt geworden war, sofort sowohl uns wie auch allen anderen gegenüber eine Haltung annahm, die nicht einmal die Möglichkeit des Gedankens zulassen wollte, daß man sie bedauern oder den Versuch machen könnte, sie zu trösten oder den Fürsten zu „entschuldigen“. Im Gegenteil, sie ging – da sie es offenbar unter ihrer Würde hielt, irgend etwas zu erklären oder mit jemandem zu streiten – wie in einem beständigen Stolz umher, in einem Stolz auf die Tat ihres unglücklichen Bräutigams, als ob er die größte Heldentat vollbracht hätte. Sie schien förmlich in jedem Augenblick uns allen zu sagen (doch wie gesagt, ohne ein Wort auszusprechen): „Von euch hätte das doch niemand getan, hätte sich niemand aus Ehr- und Pflichtgefühl selbst angezeigt, von euch hat doch keiner ein so feines und stolzes Gewissen! Und was seine schlechten Handlungen betrifft – wer hat denn keine schlechten Handlungen auf dem Gewissen? Nur werden sie von allen ängstlich geheimgehalten, dieser Mensch aber hat es vorgezogen, sich selbst ins Verderben zu stürzen, um nicht in seinen eigenen Augen ein Unwürdiger zu sein.“ Das war ungefähr der Sinn, den jede ihrer Bewegungen auszudrücken schien. Ich weiß nicht, aber ich hätte mich an ihrer Stelle wohl genau so verhalten. Auch weiß ich nicht, ob gerade diese Gedanken in ihrer Seele waren, ich meine, ob sie bei sich wirklich so dachte; ich vermute stark, daß sie das nicht tat. Jedenfalls mußte sie doch mit der anderen, klaren Hälfte ihres Verstandes die ganze Wertlosigkeit ihres „Helden“ erkennen; denn wer würde heute nicht zugeben, daß dieser unglückliche und in seiner Art sogar großherzige Mensch gleichzeitig ein im höchsten Grade wertloser Mensch war? Ja, schließlich ließ gerade diese ihre Streitsucht und ihre Anmaßung uns allen gegenüber, und ihr unausgesetztes Mißtrauen, wir könnten vielleicht anders über ihn denken, – gerade das ließ zum Teil erraten, daß in der Tiefe ihres Herzens sich ein anderes Urteil über ihren unglücklichen Freund gebildet hatte. Aber ich möchte doch gleich von mir aus hinzufügen, daß sie, meiner Ansicht nach, zur Hälfte immerhin im Recht war; gerade ihr war das Schwanken vor einer endgültigen Schlußfolgerung viel eher zu verzeihen als uns anderen. Ich selbst gestehe aus ganzer Seele, daß ich auch heute, wo doch alles schon der Vergangenheit angehört, noch immer nicht weiß, wie und als was ich diesen Unglücklichen, der uns allen ein solches Rätsel aufgegeben hat, schließlich beurteilen soll.

Nichtsdestoweniger machte Lisa das Haus zu einer kleinen Hölle. Sie, die so stark liebte, litt gewiß sehr, und ihrem Charakter gemäß zog sie es vor, schweigend zu leiden. Ihr Charakter glich dem meinen, das heißt, er war selbstherrlich und stolz, und eigentlich habe ich mir immer gedacht, sowohl damals wie auch jetzt, daß sie den Fürsten aus Herrschsucht liebte, eben weil er keinen Charakter besaß und sich vom ersten Wort und von der ersten Stunde an ihr unterworfen hatte. Das geschieht im Herzen irgendwie ganz von selbst, ohne jede vorhergehende Berechnung; aber eine solche Liebe eines Starken zu einem Schwachen ist manchmal unvergleichlich stärker und qualvoller als die Liebe zwischen zwei Menschen mit gleichen Charakteren, weil der Stärkere ganz unwillkürlich die Verantwortung für seinen schwachen Freund auf sich nimmt. Wenigstens denke ich mir das so. Die Unsrigen umgaben Lisa von Anfang an mit der liebevollsten Sorge, besonders Mama; doch Lisa ließ sich durch nichts erweichen, verhielt sich völlig stumm zu aller Teilnahme und wies jede Hilfe zurück. Anfangs sprach sie noch mit Mama, aber mit jedem Tage wurde sie wortkarger, antwortete immer knapper und sogar immer schroffer. In der ersten Zeit fragte sie Werssiloff um Rat, bald aber erkor sie sich zum Ratgeber und Helfer – Wassin, wie ich zu meiner Verwunderung später erfuhr ... Sie ging fast jeden Tag zu Wassin, ging auch aufs Gericht und zu den Vorgesetzten des Fürsten, ging zu den Advokaten und zum Staatsanwalt; schließlich war sie oft den ganzen Tag nicht zu Haus. Selbstverständlich besuchte sie täglich, und sogar zweimal am Tage, den Fürsten, der im Gefängnis saß, in der Abteilung für Adlige; aber diese Zusammenkünfte waren, wovon ich mich später überzeugt habe, für Lisa sehr qualvoll. Natürlich, welcher Dritte kann das Verhältnis zweier Liebenden zueinander ganz genau beurteilen? Aber ich weiß, daß der Fürst sie dann immer aufs tiefste kränkte; und wodurch? Ja, sonderbarerweise durch fortwährende Eifersucht. Übrigens, darauf werde ich später noch zurückkommen; aber eines möchte ich hier doch noch bemerken: es ist schwer zu sagen, wer von ihnen den anderen mehr quälte. Es ist nicht ausgeschlossen, daß Lisa, die uns gegenüber auf ihren Helden so stolz war, sich ihm gegenüber, unter vier Augen, ganz anders verhielt. Ich vermute das sogar sehr stark – nach einigen Anhaltspunkten, auf die ich noch zurückkommen werde.

So war denn, was meine Gefühle und mein Verhalten zu Lisa betrifft, alles Äußere, Sichtbare nur eine Vortäuschung, und zwar sowohl von mir wie von ihr aus; denn im Grunde haben wir uns niemals stärker geliebt als eben in jener Zeit. Ich muß hier noch bemerken, daß Lisa sich zu Makar Iwanowitsch, nachdem die erste Verwunderung und das erste Interesse vergangen waren, aus irgendeinem Grunde fast geringschätzig, ja sogar hochmütig verhielt. Sie schien ihm absichtlich nicht die geringste Beachtung zu schenken.

Als ich mir vorgenommen hatte zu schweigen – ich habe das bereits erwähnt –, da war ich natürlich überzeugt gewesen, wie man das in der Theorie ja immer ist, daß ich meinen Vorsatz auch durchführen würde. Oh, mit Werssiloff zum Beispiel hätte ich eher von der Zoologie oder von den römischen Imperatoren gesprochen als von, sagen wir, von – „ihr“ oder etwa von jener wichtigsten Zeile in seinem Brief an sie, wo er ihr mitteilt, daß das Dokument durchaus nicht vernichtet sei und noch eine Rolle spielen könne, – von jener Zeile, an die ich sogleich wieder zu denken begann, kaum daß ich nach den Fieberdelirien zu Bewußtsein und zur Besinnung gekommen war. Aber, ach! Schon bei den ersten Schritten in der Praxis, ja fast sogar schon vor dem ersten Schritt, erkannte ich, wie schwer und unmöglich es ist, solche Vorsätze zu erfüllen: schon am folgenden Tage nach meiner ersten Begegnung mit Makar Iwanowitsch wurde ich durch eine überraschende Neuigkeit furchtbar aufgeregt.

Share on Twitter Share on Facebook