II.

Diese mich furchtbar aufregende Neuigkeit erfuhr ich durch Darja Onissimowna, die Mutter der verstorbenen Olä, die mich ganz unerwartet besuchte. Von Mama hatte ich schon gehört, daß Darja Onissimowna bereits während meiner Krankheit zweimal bei uns gewesen war und große Teilnahme für mein Befinden gezeigt hatte. Ob nun diese „gute Frau“, wie Mama sie immer nannte, nur wie früher Mama besucht hatte, oder ob sie hauptsächlich meinetwegen gekommen war, danach hatte ich nicht gefragt. Gewöhnlich erzählte mir Mama, wenn sie mir die Suppe brachte und mich fütterte (als ich noch nicht selbst den Löffel führen konnte), alles, was im Hause geschehen war, um mich zu zerstreuen: ich aber gab mir jedesmal hartnäckig den Anschein, als ob mich alle diese Mitteilungen wenig interessierten; so hatte ich denn auch wegen der Darja Onissimowna nichts weiter gefragt und einfach geschwiegen.

Es war gegen elf Uhr; ich wollte gerade aufstehen, um mich in den Lehnstuhl am Tisch zu setzen, als Darja Onissimowna in mein Zimmer trat. Da blieb ich absichtlich im Bett. Mama war oben mit irgend etwas beschäftigt und konnte nicht herunterkommen, und so waren wir denn auf einmal allein. Sie setzte sich mir gegenüber auf einen Stuhl, lächelte und sagte kein Wort. Ich sah voraus, was bevorstand: wir würden, wie im Gesellschaftsspiel, uns gegenseitig im Schweigen zu überbieten suchen; und überhaupt ärgerte mich ihr Besuch. Ich nickte ihr nicht einmal zu und sah ihr schweigend gerade in die Augen: aber sie sah mich gleichfalls unbeweglich an.

„Sie langweilen sich jetzt wohl in der Wohnung des Fürsten, seitdem Sie dort allein sind?“ fragte ich auf einmal, da ich die Geduld verlor.

„Nein, ich bin nicht mehr in jener Wohnung. Ich bin jetzt, dank Anna Andrejewna, bei dem Kindchen.“

„Bei wessen Kindchen?“

Sie sah sich nach der Tür um und flüsterte vertraulich geheimnisvoll:

„Bei Herrn Werssiloffs Kindchen!“

„Aber dafür sorgt doch Tatjana Pawlowna ...“

„Ganz recht, ganz recht, auch Tatjana Pawlowna und auch Anna Andrejewna, beide zusammen, und Lisaweta Makarowna auch, und auch Ihre Mama ... alle. Alle sorgen sie dafür. Tatjana Pawlowna und Anna Andrejewna sind jetzt sehr befreundet miteinander.“

Das war eine Neuigkeit. Sie belebte sich förmlich beim Sprechen. Ich sah sie an und haßte sie.

„Sie sind ja seit dem letztenmal, als Sie bei mir waren, recht munter geworden.“

„Ach, ja.“

„Sie scheinen auch zugenommen zu haben?“

Sie sah mich sonderbar an.

„Ich habe sie sehr liebgewonnen, sehr.“

„Wen denn?“

„Anna Andrejewna doch. Sehr lieb. Sie sind ein so edles Fräulein und so klug ...“

„So so. Und wie fühlt sie sich denn jetzt?“

„Sie sind sehr ruhig, sehr.“

„Das ist sie ja immer gewesen.“

„Ganz recht, sie sind immer so.“

„Wenn Sie mit Klatschgeschichten hergekommen sind,“ schrie ich plötzlich, da ich nicht mehr an mich halten konnte, „so lassen Sie sich gesagt sein, daß ich mit alledem nichts mehr zu tun haben will, ich habe beschlossen, alles im Stich zu lassen ... alles und alle, mir ist’s egal, – ich gehe weg! ...“

Ich besann mich plötzlich und hielt inne. Es schien mir erniedrigend, daß ich ihr gewissermaßen meine neuen Pläne mitteilte. Sie aber zeigte weder Erstaunen noch Erregung, und es folgte wieder Schweigen. Plötzlich stand sie auf, ging zur Tür und sah ins Nebenzimmer. Als sie sich überzeugt hatte, daß dort niemand war, kehrte sie ganz ruhig zurück und setzte sich auf ihren früheren Platz.

„Das haben Sie gut gemacht!“ sagte ich plötzlich lachend.

„Werden Sie Ihre Wohnung bei dem Beamten behalten?“ fragte sie auf einmal, wobei sie sich ein wenig zu mir vorbeugte und die Stimme senkte, ganz als wäre das die wichtigste Frage, und als wäre sie nur zu dem Zweck zu mir gekommen, um darüber etwas zu erfahren.

„Meine Wohnung? Ich weiß nicht. Vielleicht gebe ich sie auch auf ... Wie soll ich das wissen?“

„Ihre Wirtsleute erwarten Sie sehr; jener Beamte ist schon ganz ungeduldig, auch seine Frau. Herr Werssiloff hat ihnen versichert, Sie würden bestimmt zu ihnen zurückkehren.“

„Ja, aber weshalb interessieren Sie sich denn dafür?“

„Anna Andrejewna wollte das gern wissen; sie waren sehr zufrieden, als sie erfuhren, daß Sie dort bleiben.“

„Aber woher weiß sie denn, daß ich in der Wohnung bleibe?“

Ich wollte noch hinzufügen: „Und was geht das Anna Andrejewna an?“ – bezwang mich aber und unterließ die Frage aus Stolz, da ich sie nicht ausfragen wollte!

„Auch Herr Lambert haben dasselbe bestätigt.“

„Wa–a–as?“

„Ja, Herr Lambert haben auch Andrei Petrowitsch bestätigt, Sie würden bestimmt dort bleiben, und auch Anna Andrejewna haben sie dessen versichert.“

Ich war starr vor Schreck. Was hatte das nun wieder zu bedeuten! Lambert kennt bereits Werssiloff, Lambert war schon bis zu Werssiloff vorgedrungen, – Lambert und Anna Andrejewna, er war bis zu Anna Andrejewna vorgedrungen! Mir wurde ganz heiß, aber ich schwieg. Eine Flut von Stolz erfüllte mich plötzlich ganz, von Stolz, oder ich weiß nicht von was. Aber ich sagte mir in dem Augenblick: „Wenn ich jetzt auch nur ein Wort der Erklärung verlange, so verwickle ich mich wieder in diese Welt und werde mich nie mehr aus ihr herausreißen können.“ Haß entbrannte in meinem Herzen. Ich nahm mich mit aller Gewalt zusammen und beschloß zu schweigen; ich lag unbeweglich. Sie schwieg gleichfalls, das Schweigen dauerte schon minutenlang.

„Was macht der alte Fürst Nikolai Iwanowitsch?“ fragte ich auf einmal, als hätte ich jede Überlegung verloren. Das heißt, ich fragte ja nur, um auf ein anderes Thema zu kommen, dabei stellte ich aber aus Versehen die allerwichtigste Frage, und so kehrte ich wie ein Wahnsinniger wieder in jene Welt zurück, aus der zu fliehen ich noch vor einem Augenblick so krampfhaft beschlossen hatte.

„Der alte Fürst sind in Zarskoje Sselo. Der Fürst waren nicht ganz gesund, und in der Stadt herrschen jetzt so viele Krankheiten, Influenza und Fieber; da haben denn alle dem Fürsten geraten, doch nach Zarskoje in ihr eigenes Haus überzusiedeln, wegen der guten Luft.“

Ich antwortete nichts.

„Anna Andrejewna und die Generalin besuchen den Fürsten alle drei Tage einmal, sie fahren dann auch zusammen hin.“

Anna Andrejewna und die „Generalin“ (das heißt „sie“) – waren Freundinnen! Sie fuhren zusammen zum alten Fürsten! – Ich schwieg.

„Sie sind jetzt beide so befreundet, und Anna Andrejewna äußern sich dermaßen freundlich über Katerina Nikolajewna ...“

Ich schwieg immer noch.

„Und Katerina Nikolajewna haben sich wieder in die Welt begeben, machen ein Fest nach dem anderen mit und glänzen überall. Man spricht davon, daß bei Hofe alle Herren in sie verliebt seien ... aber mit Herrn Bjoring ist es ganz aus, und die Hochzeit wird nicht stattfinden, das sagen alle ... nachdem jene Geschichte dazwischengekommen ist.“

Das heißt, nach der Geschichte mit Werssiloffs Brief.

Ich zitterte nur, sagte aber kein Wort.

„Anna Andrejewna bedauern so sehr den Fürsten Ssergei Petrowitsch, und Katerina Nikolajewna tun das gleichfalls, und alle sagen, er werde freigesprochen werden, jener andere aber, der Stebelkoff, werde verurteilt werden ...“

Ich sah sie haßerfüllt an. Sie erhob sich und beugte sich plötzlich über mich:

„Anna Andrejewna haben mich ausdrücklich gebeten, mich nach Ihrer Gesundheit zu erkundigen,“ sagte sie ganz leise flüsternd, „und haben mich beauftragt, Sie recht sehr zu bitten, bei ihr vorzusprechen, sobald Sie nur auszugehen anfangen. Leben Sie wohl. Werden Sie bald gesund. Ich werde es ihr so sagen ...“

Sie ging. Ich setzte mich im Bett auf, kalter Schweiß trat auf meiner Stirn hervor, aber ich fühlte eigentlich gar keinen Schreck: die für mich unbegreifliche, ungeheuerliche Nachricht von Lambert und seinen Machenschaften zum Beispiel hatte mich tatsächlich fast gar nicht erschreckt, d. h. wenn ich den Eindruck dieser Nachricht mit der vielleicht ungerechtfertigten Angst verglich, mit der ich während der Krankheit und der ersten Tage meiner Genesung, ohne mir darüber Rechenschaft abzulegen, an meine Begegnung mit ihm in jener Nacht gedacht hatte. Im Gegenteil, in jenen ersten wirren Augenblicken auf dem Bett, gleich nachdem Darja Onissimowna gegangen war, hielt ich mich bei dem Gedanken an Lambert überhaupt nicht auf ... mich beschäftigte vor allem die Nachricht, die sie betraf – ihr Bruch mit Bjoring, ihr Glück in der Gesellschaft, ihre Feste und ihr Erfolg. „Sie glänzen überall,“ glaubte ich Darja Onissimownas Stimme noch sagen zu hören. Und plötzlich fühlte ich, daß ich mich aus diesem Strudel mit meinen Kräften nicht mehr herausarbeiten konnte, wenn ich es auch noch fertiggebracht hatte, zu schweigen und Darja Onissimowna nach ihren Wundergeschichten nicht weiter auszufragen! Ein maßloses Verlangen nach jenem Leben, nach jenem anderen Leben, erfüllte auf einmal meine ganze Seele und ... und dann noch eine andere süße Lust, die ich bis zum seligsten Glück und bis zu quälender Pein empfand. Meine Gedanken aber drehten sich gleichsam im Kreise, doch ich ließ sie sich drehen. „Da ist nichts zu überlegen!“ sagte mir mein Gefühl. „Mama hat mir auch verschwiegen, daß Lambert hier gewesen ist,“ dachte ich sprunghaft, „das hat Werssiloff ihr gesagt, daß sie darüber schweigen soll ... Ich sterbe eher, als daß ich Werssiloff nach Lambert frage!“ – „Werssiloff,“ fiel es mir wieder blitzartig ein, „Werssiloff und Lambert, oh, wieviel Neues sich da bei ihnen zugetragen hat! Bravo, Werssiloff! Da hat er den Bjoring mit seinem Brief doch abgeschreckt; er hat sie verleumdet, la calomnie ... il en reste toujours quelque chose,[75] und der deutsche Hofmann hat Angst bekommen vor einem Skandal – haha, da hat sie ihre Lehre!“ – „Lambert ... sollte Lambert am Ende schon bis zu ihr vorgedrungen sein? Das fehlte noch! Aber warum sollte sie sich nicht auch mit ihm ‚abgeben‘?“

Doch dann schleuderte ich auf einmal alle diese unsinnigen Gedanken von mir und warf mich verzweifelt zurück auf mein Kissen. „Nein, das darf nicht sein!“ rief ich plötzlich entschlossen, sprang aus dem Bett und zog die Pantoffeln und den Schlafrock an, um mich geradeswegs nach dem Zimmer Makar Iwanowitschs zu begeben, ganz als wäre dort die Ablenkung von allen Anfechtungen, die Rettung und Erlösung, der Anker, an dem ich mich würde halten können.

Es ist in der Tat möglich, daß ich damals diesen Gedanken mit allen Kräften meiner Seele fühlte; weshalb wäre ich denn sonst so plötzlich und gewaltsam aufgesprungen, um mich in dieser Gemütsverfassung zu Makar Iwanowitsch zu retten?

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