Es war ein selten klarer Tag. Die Vorhänge im Zimmer Makar Iwanowitschs waren anfänglich auf Anordnung des Doktors den Tag über nicht aufgezogen worden; jetzt aber hatte man vor das Fenster einen Vorhang gehängt, der den oberen Teil des Fensters freiließ, denn der Alte hatte sich bei den früheren Vorhängen bedrückt gefühlt, da er die Sonne nicht sehen konnte. Und wie wir nun so saßen, traf es sich, daß ein Sonnenstrahl auf einmal Makar Iwanowitsch gerade ins Gesicht schien. Im Eifer des Gesprächs hatte er das zunächst gar nicht bemerkt, jedoch unwillkürlich schon ein paarmal den Kopf zur Seite gebogen, da der grelle Schein seine schwachen Augen blendete und reizte. Mama, die neben ihm stand, hatte schon unruhig nach dem Fenster geblickt; man hätte das Fenster einfach verhängen müssen, doch um das Gespräch nicht zu unterbrechen, versuchte sie schließlich, die Bank, auf der Makar Iwanowitsch saß, etwas aus der Sonne zu rücken, wenn auch nur um eine Handbreit mehr nach rechts. Sie beugte sich hinab und erfaßte die Bank, konnte sie aber nicht von der Stelle rücken: die Bank mit Makar Iwanowitsch darauf rührte sich nicht. Makar Iwanowitsch hatte im Gespräch nur unbewußt ihre Anstrengung empfunden und unwillkürlich schon ein paarmal versucht, sich zu erheben, doch seine Füße hatten ihm den Dienst versagt. Mama aber fuhr immer noch fort, sich zu bücken und zu ziehen, und das war es, was Lisa schließlich furchtbar ärgerte und aufbrachte. Ich erinnere mich, daß mir schon ein paar funkelnde, empörte Blicke von ihr aufgefallen waren, nur hatte ich im Augenblick nicht verstanden, worauf sie sich bezogen, und außerdem war ich durch das Gespräch ganz und gar in Anspruch genommen. Plötzlich hören wir, wie sie Makar Iwanowitsch beinahe anschreit:
„So erheben Sie sich doch ein wenig! Sehen Sie denn nicht, daß es so über Mamas Kraft geht!“
Der Alte sah sie mit einem schnellen Blick an, begriff sofort, was sie meinte, und versuchte eilig, sich zu erheben, doch es gelang ihm nicht: er kam nur eine Handbreit hoch und fiel wieder zurück.
„Ich kann nicht, Liebling,“ sagte er traurig und sah Lisa gewissermaßen gehorsam an.
„Erzählen können Sie ein ganzes Buch, aber sich erheben, das können Sie nicht?“
„Lisa!“ rief Tatjana Pawlowna.
Makar Iwanowitsch versuchte noch einmal mit aller Gewalt, sich zu erheben.
„Nehmen Sie doch den Krückstock, er liegt ja neben Ihnen, versuchen Sie es mit dem Stock!“ sagte Lisa noch einmal barsch.
„Ja, wirklich,“ sagte der Alte und griff hastig nach seinem Stock.
„Man muß ihm einfach helfen!“ sagte Werssiloff schnell und erhob sich sofort; auch der Doktor und Tatjana Pawlowna sprangen auf, aber noch bevor sie ihm helfen konnten, hatte sich Makar Iwanowitsch, der sich aus aller Kraft auf den Stock stützte, schon von selbst erhoben, und nun stand er da in freudigem Triumph und blickte uns alle an.
„Da bin ich doch aufgestanden!“ sagte er fast stolz und lachte froh. „Hab’ Dank, Liebe, sieh mal, hast mich klug gemacht; und ich dachte schon, fürwahr, die Füße gehorchten mir gar nicht mehr ...“
Aber er stand nicht lange; er hatte noch nicht zu Ende gesprochen, als plötzlich der Stock, auf den er sich mit der ganzen Schwere seines Körpers stützte, auf dem Teppich ausglitt, und da die Füße ihn nicht mehr trugen, stürzte er, dieser große alte Mann, plötzlich mit Wucht zu Boden. Das war geradezu furchtbar anzusehen. Alle schrien auf und eilten zu ihm, um ihn aufzuheben, aber zum Glück hatte er sich keinen Schaden getan: er war nur schwer und mit einem Krach auf beide Knie gestürzt, hatte aber doch noch die rechte Hand vorstemmen können, und so war er wenigstens nicht aufs Gesicht gefallen. Er wurde aufgehoben und aufs Bett gesetzt. Er war sehr bleich geworden, aber nicht vom Schreck, sondern von der Erschütterung. (Der Doktor hatte bei ihm außer allem anderen noch ein Herzleiden festgestellt). Mama aber war vor Schreck außer sich. Doch plötzlich wandte Makar Iwanowitsch, noch ganz bleich und zitternd und wohl noch nicht recht bei Besinnung, das Gesicht Lisa zu und sagte mit fast zärtlicher leiser Stimme:
„Nein, Liebe, sieh, die Füße gehorchen mir doch nicht mehr!“
Ich kann gar nicht sagen, was für einen Eindruck das damals auf mich machte! Das Erschütterndste war, daß in den Worten des armen Alten nicht die geringste Klage, nicht der leiseste Vorwurf lag; im Gegenteil, man sah sofort, daß er aus Lisas Worten von Anfang an nichts Böses herausgehört und alles ganz in Ordnung gefunden hatte, d. h. daß er für sein Verschulden gerade eine solche Zurechtweisung verdient zu haben glaubte. Alles das wirkte natürlich furchtbar auf Lisa. Als er gefallen war, war sie wie alle aufgesprungen und stand nun leichenblaß da. Natürlich litt sie, da sie die Schuld an dem ganzen Unfall trug, doch als sie diese Worte hörte, wurde sie plötzlich, im Augenblick, feuerrot vor Scham und Reue.
„So, jetzt ist es aber genug!“ kommandierte auf einmal Tatjana Pawlowna, „das kommt alles nur von diesem Geschwätz! Es ist Zeit, auseinanderzugehen; was kann dabei Gutes herauskommen, wenn der Doktor selbst zu schwätzen anfängt!“
„Sie haben recht,“ stimmte ihr Alexander Ssemjonowitsch freimütig bei, während er sich noch bei dem Kranken zu schaffen machte. „Es war meine Schuld, Tatjana Pawlowna, ich hätte es früher sagen sollen, daß er Ruhe braucht.“
Aber Tatjana Pawlowna hatte sich schon von ihm abgewandt: sie stand und sah wohl eine halbe Minute lang schweigend und gespannt Lisa an.
„Komm her, Lisa, und gib mir einen Kuß, mir alten dummen Person, wenn du’s nur willst,“ sagte sie auf einmal ganz unerwartet.
Und sie küßte Lisa, ich weiß nicht, wofür, aber gerade das war es, was man tun mußte; ich wäre am liebsten selbst auf Tatjana Pawlowna zugestürzt und hätte sie dafür geküßt. Sie hatte das einzig Richtige getan: statt Lisa Vorwürfe zu machen, mußte man das neue, gute Gefühl, das sich jetzt zweifellos in ihr erhob, mit Freude begrüßen und sie dazu beglückwünschen. Aber statt das nun auch zu tun, sprang ich plötzlich auf und sagte laut, mit harter Stimme:
„Makar Iwanowitsch, Sie haben wieder das Wort ‚Schönheit‘ gebraucht, ‚innere Schönheit‘, und gerade dieses Wort hat mich noch gestern und alle diese Tage gequält ... und überhaupt hat es mich mein Leben lang gequält, nur habe ich früher nicht gewußt, was mich quälte. Dieses Zusammentreffen der Worte halte ich für eine Schicksalsfügung, fast für ein Wunder. Ich erkläre das in Ihrer Gegenwart ...“
Aber man fiel mir sogleich ins Wort und ließ mich nicht zu Ende sprechen. Ich sage nochmals: ich wußte nichts von ihrer Verabredung wegen Mama und Makar Iwanowitsch; sie aber glaubten von mir natürlich, nach früheren Erfahrungen, ich wäre zu jedem Skandal von dieser Art fähig.
„Schweig! Bringt ihn zum Schweigen!“ rief Tatjana Pawlowna gleich ganz wild vor Wut. Mama erzitterte. Makar Iwanowitsch, der den Schreck der anderen sah, erschrak gleichfalls.
„Arkadi, höre auf!“ rief Werssiloff streng.
„Für mich, meine Herrschaften,“ rief ich noch lauter, „für mein Empfinden ist es, Sie alle hier neben diesem reinen Kinde zu sehen (ich deutete auf Makar Iwanowitsch) – einfach eine Gemeinheit. Hier ist nur eine Heilige – das ist Mama, aber auch sie ...“
„Sie erschrecken ihn!“ sagte der Doktor eindringlich.
„Ich weiß, daß ich – ein Feind der ganzen Welt bin,“ stotterte ich (oder so etwas Ähnliches), sah mich im Kreise um und blickte schließlich herausfordernd Werssiloff an.
„Arkadi!“ rief er wieder, „einmal ist es hier schon zu so einem Auftritt zwischen uns gekommen. Ich beschwöre dich, beherrsche dich jetzt!“
Ich kann es nicht wiedergeben, mit was für einem starken Gefühl er das sagte. Eine außergewöhnliche, aufrichtige, tiefe Trauer sprach aus seinem Gesicht. Das Erstaunlichste aber war, daß er so aussah wie ein Mensch, der sich seiner Schuld bewußt ist: ich war der Richter, er – der Verbrecher. Das alles gab mir den Rest.
„Ja!“ schrie ich zur Antwort, „genau so einen Auftritt hat es schon einmal gegeben, als ich Werssiloff begrub und ihn aus meinem Herzen riß ... Doch dann kam seine Auferstehung von den Toten, jetzt aber ... jetzt folgt kein Morgen mehr! ... Aber Sie alle hier, Sie alle werden noch sehen, wozu ich fähig bin: Sie lassen sich das ja nicht einmal träumen, was ich beweisen kann!“
Und nachdem ich das gesagt hatte, stürzte ich in mein Zimmer. Werssiloff kam mir eilig nach ...