Ich bekam einen Rückfall; das Fieber stieg beängstigend schnell, und in der Nacht fing ich wieder zu phantasieren an. Aber es war doch nicht alles nur Fieberdelirium: es waren auch Träume, unzählige, einer nach dem anderen, in sinnloser Folge, Träume, von denen ich nur einen Traum oder nur den Teil eines Traumes für mein ganzes Leben behalten habe. Ich will ihn ohne alle Erklärungen wiedergeben; dieser Traum war prophetisch, und ich kann ihn nicht übergehen.
Ich befand mich plötzlich, mit irgendeiner großen und stolzen Absicht im Herzen, in einem hohen, großen Zimmer, es war aber nicht bei Tatjana Pawlowna; ich erinnere mich dieses Zimmers noch sehr genau; das erwähne ich hier schon vorgreifend. Und obgleich ich allein bin, fühle ich doch die ganze Zeit mit Unruhe und Pein, daß ich nicht allein bin, und daß man irgendwo auf mich wartet und irgend etwas von mir erwartet. Irgendwo hinter einer Tür sitzen Menschen und warten auf das, was ich tun werde. Ein unerträgliches Gefühl! „Wenn ich doch allein wäre!“ denke ich. Und auf einmal kommt sie herein. Sie sieht mich schüchtern an, sie fürchtet sich entsetzlich, sie sucht meinen Blick. Und ich halte das Dokument in der Hand. Sie lächelt, um mich zu bestricken, sie will sich bei mir einschmeicheln; sie tut mir leid, aber schon fange ich an, Ekel zu empfinden. Auf einmal bedeckt sie ihr Gesicht mit den Händen. Da werfe ich ihr mit unsäglicher Verachtung das Dokument hin: „Bitten Sie mich nicht, da haben Sie es, ich brauche nichts von Ihnen! Ich räche mich für alle mir angetane Schmach durch Verachtung!“ Und ich gehe aus dem Zimmer, ganz erfüllt von maßlosem Stolz. Aber in der Tür, im Dunkeln, ergreift mich Lambert! „Dummkopf! Dummkopf!“ flüstert er mir aufgebracht zu und hält mich an der Hand zurück, „sie muß in einem billigen Stadtteil ein Pensionat für adlige junge Mädchen eröffnen“ (d. h. wenn ihr Vater von mir dieses Dokument erhielte – den unvorsichtigen Brief seiner Tochter an Andronikoff – sie enterbte und aus dem Hause jagte. Ich habe diese Worte Lamberts buchstäblich so niedergeschrieben, wie er sie in meinem Traum zu mir sagte).
„Arkadi Makarowitsch sucht ‚Schönheit‘,“ höre ich Anna Andrejewnas Stimme irgendwo in der Nähe sagen, dort auf der Treppe; aber kein Lob, sondern ein unerträglicher Spott klingt aus ihren Worten. Ich kehre mit Lambert ins Zimmer zurück. Doch wie sie Lambert erblickt, beginnt sie zu lachen. Mein erster Eindruck ist ein furchtbarer Schreck, ein Schreck, daß ich stehen bleibe und mich ihr nicht zu nähern wage. Ich sehe sie an und kann es nicht glauben; es ist, als hätte sie plötzlich eine Maske von ihrem Gesicht fallen lassen: es sind dieselben Züge, aber es ist, als wäre jeder Zug ihres Gesichtes durch unsägliche Schamlosigkeit entstellt. „Den Preis, Gnädigste, den Preis!“ ruft Lambert und beide lachen sie noch mehr, mein Herz aber will stille stehen: „Oh, ist denn dieses schamlose Weib – dieselbe, deren Blick allein schon alle Tugenden in meinem Herzen weckte?“
„Sieh, wozu diese Stolzen der hohen Kreise fähig sind – für Geld!“ ruft Lambert. Aber die Schamlose läßt sich auch durch diese Worte nicht verwirren; sie lacht gerade darüber, daß ich so erschrocken bin. Oh, sie ist bereit, den Preis für das Dokument zu zahlen, das sehe ich, und ... und was ist mit mir? Schon fühle ich weder Mitleid noch Ekel; ich zittere, wie ich noch niemals gezittert habe ... Ein neues Gefühl bemächtigt sich meiner, ein unnennbares, das ich noch nie gekannt, und das so stark ist wie die ganze Welt ... Oh, jetzt bin ich schon nicht mehr imstande, fortzugehen, oh, um keinen Preis! Und wie es mir gefällt, daß das so schamlos ist! Ich ergreife ihre Hände, die Berührung ihrer Hände erschüttert mich qualvoll, und ich nähere meine Lippen den ihren, diesen schamlosen, roten, vor Lachen zitternden und mich rufenden Lippen.
Oh, hinweg mit dieser niedrigen Erinnerung! Dieser verwünschte Traum! Ich schwöre, daß vor diesem schamlosen Traum in meinem Geiste noch nichts gelebt hatte, was einem so schändlichen Gedanken auch nur ähnlich gewesen wäre. Nicht einmal eine unfreiwillige Träumerei von der Art war bis dahin in mir gewesen (wenn ich auch das „Dokument“ in meiner Tasche eingenäht trug und manchmal mit einem eigenen Lächeln nach dieser Tasche gefühlt hatte). Wie aber war es denn möglich gewesen, daß alles das plötzlich in dieser fertigen Form in mir hatte auftauchen können? Das kam daher, weil die Seele einer Spinne in mir war! Dieser Traum beweist, daß alles dies in meinem wollüstigen Herzen schon längst gekeimt hatte und in ihm lag, in meinem Wunsch lag, aber im wachen Zustande hatte mein Herz sich dessen noch geschämt, und mein Geist hatte noch nicht gewagt, sich etwas Ähnliches bewußt vorzustellen. Doch im Schlaf und Traum verriet und zeigte meine Seele, was in meinem Herzen war, zeigte es in deutlichen Bildern, der Wahrheit getreu und – in prophetischer Form. War es denn wirklich das gewesen, was ich ihnen hatte beweisen wollen, als ich am Morgen aus Makar Iwanowitschs Zimmer gestürzt war? Doch jetzt genug davon, vorläufig werde ich darauf nicht mehr zu sprechen kommen! Dieser Traum, den ich damals hatte, ist eines der sonderbarsten Erlebnisse meines Lebens.