Endlich traf ich Tatjana Pawlowna zu Haus! Ich erzählte ihr so schnell wie möglich alles – alles, was das Dokument betraf, und alles, was dort bei mir geschehen war. Wenn sie auch über alle Vorgeschichten unterrichtet war und die Sachlage bereits nach zwei Worten hätte überschauen können, so nahm mein Bericht doch, glaube ich, an zehn Minuten in Anspruch. Nur ich sprach, und ich sagte die ganze Wahrheit und schämte mich nicht. Sie saß schweigend, regungslos und steif wie eine Stricknadel auf ihrem Stuhl, die Lippen zusammengepreßt, gespannt horchend und ohne auch nur einmal ihren Blick von mir zu wenden. Doch kaum hatte ich geendet, da sprang sie plötzlich auf – so überraschend, daß ich unwillkürlich gleichfalls aufsprang.
„Ach, du junger Hund! So ist dieser Brief die ganze Zeit in deiner Tasche gewesen, und Marja Iwanowna, die Närrin, hat ihn dir noch eingenäht! Ach, ihr widerlichen Schurken! Du bist also hergekommen, um hier Herzen zu erobern und die vornehme Gesellschaft zu besiegen, dich an irgendeinem Gevatter Teufel dafür zu rächen, daß du ein unehelicher Sohn bist?“
„Tatjana Pawlowna, unterstehen Sie sich nicht, mich zu schmähen!“ rief ich heftig. „Vielleicht sind gerade Sie mit Ihrem Schmähen von Anfang an die Ursache meiner Erbitterung hier gewesen! Ja, ich bin ein unehelicher Sohn und habe mich vielleicht wirklich dafür rächen wollen, daß ich ein unehelicher Sohn bin, und vielleicht wirklich an irgendeinem ‚Gevatter Teufel‘, weil ja der Teufel selber nicht herausbringen könnte, wen hier die Schuld trifft! Aber vergessen Sie nicht, daß ich das Bündnis mit den Spitzbuben nicht eingegangen bin und meine Leidenschaften besiegt habe! Schweigend werde ich den Brief vor ihr hinlegen und davongehen, ohne auf ein Wort von ihr zu warten! – das werden Sie selbst sehen!“
„Gib her, gib ihn her, leg den Brief sofort hier auf den Tisch! Du – du lügst ja doch nur wieder!“
„Er ist in meiner Tasche eingenäht; Marja Iwanowna hat ihn selbst in den alten Rock eingenäht, und als ich mir hier den neuen Rock bestellte, habe ich ihn aus dem alten herausgenommen und ihn eigenhändig in den neuen eingenäht; hier ist er, fühlen Sie, wenn Sie sich überzeugen wollen, ob ich lüge!“
„Gib ihn her, hol ihn heraus!“ bestürmte mich Tatjana Pawlowna aufgeregt.
„Um keinen Preis! Ich sage Ihnen noch einmal: ich werde ihn in Ihrem Beisein vor Katerina Nikolajewna hinlegen und davongehen, ohne auch nur ein einziges Wort von ihr zu erwarten; aber sie soll wissen und mit eigenen Augen sehen, daß ich ihn freiwillig übergebe, ohne Zwang, und ohne Dank zu erwarten.“
„Also wieder eine Rolle spielen? Bist immer noch verschossen, junger Hund?“
„Sie können mir soviel Bosheiten an den Kopf werfen, wie Sie wollen: ich mag sie ja verdient haben und nehme sie Ihnen nicht übel. Oh, mag ich ihr doch als ein kleiner Junge erscheinen, der gegen sie eine Verschwörung angezettelt hat, – aber sie soll wissen, daß ich mich selbst besiegt und ihr Glück über alles in der Welt gestellt habe! Macht nichts, Tatjana Pawlowna, macht nichts! Ich rufe mir zu: Mut und Hoffnung! Und wenn das mein erster Schritt auf dem Schauplatz des Lebens gewesen ist, so habe ich ihn doch gut und vornehm abgeschlossen! Und was tut es, daß ich sie liebe,“ fuhr ich begeistert und mit glänzenden Augen fort, „ich schäme mich dessen nicht: Mama ist ein Engel des Himmels, sie aber ist – die Königin der Erde! Werssiloff wird zu Mama zurückkehren. Und so brauche ich mich vor ihr meiner Liebe nicht zu schämen; ich habe doch gehört, was sie und Werssiloff dort gesprochen haben, ich stand hinter der Portiere ... Oh, wir sind alle drei – ‚Menschen ein und desselben Wahnsinns!‘ Wissen Sie, wer das gesagt hat: ‚Menschen ein und desselben Wahnsinns‘? Das ist ein Ausspruch von ihm, von Andrei Petrowitsch! Und wissen Sie auch, daß wir vielleicht mehr sind, denn drei? Ja, ich wette, daß Sie die vierte sind! Wollen Sie, daß ich’s sage? – Ich wette, daß Sie selbst ihr ganzes Leben lang in Andrei Petrowitsch verliebt gewesen sind, und es vielleicht heute noch sind ...“
Wie gesagt, ich war begeistert und befand mich in einem Glücksrausch, aber ich kam nicht dazu, meinen Satz zu Ende zu sprechen: ihre Hand fuhr plötzlich mit verblüffender Geschwindigkeit in meine Haare und riß meinen Kopf zweimal aus aller Kraft nach vorn herunter ... dann ließ sie mich ebenso plötzlich fahren, ging in eine Ecke, kehrte das Gesicht zur Wand und verhüllte es mit dem Taschentuch.
„Junger Hund! Wage es nicht, mir das noch einmal zu sagen!“ sagte sie schluchzend.
Das kam alles so unerwartet, daß ich einfach starr war. Ich stand da und sah sie an und wußte nicht, was ich tun sollte.
„Pfui, du Esel! Komm her und gib mir alten Närrin einen Kuß!“ sagte sie plötzlich weinend und lachend. „Aber daß du mir nie wieder, nie wieder davon zu sprechen wagst ... Und dich liebe ich und habe dich mein ganzes Leben lang geliebt ... Esel.“
Ich küßte sie. Ich möchte hierzu in Klammern bemerken, daß ich seit der Zeit Tatjana Pawlownas bester Freund bin.
„Ach ja! Was fällt mir ein!“ rief sie plötzlich und schlug sich vor die Stirn. „Was sagtest du da: der alte Fürst sei bei dir in der Wohnung? Ja, ist das auch wirklich wahr?“
„Ich versichere es Ihnen!“
„Ach, mein Gott! Ach, mir wird ganz übel, wenn ich daran denke!“ rief sie und lief im Zimmer herum. „Und sie können ja mit ihm alles machen, was sie nur wollen! Ach, daß der Blitz nicht einschlägt in diese Dummköpfe! Und schon seit heute früh, sagst du? Da seht doch mal die Anna Andrejewna! Da seht ihr jetzt die Nonne! Und diese da, die Principessa, die ahnt ja wieder mal noch nichts!“
„Was für eine Principessa?“
„Na, die Königin der Erde, das sogenannte Ideal! Aber was sollen wir jetzt tun?“
„Tatjana Pawlowna, hören Sie!“ rief ich, endlich wieder bei Besinnung. „Wir reden hier Dummheiten und vergessen darüber die Hauptsache: ich bin ja gekommen, um Katerina Nikolajewna zu holen, und die warten dort alle darauf, daß ich zurückkehre!“
Und hierauf erklärte ich, daß ich ihr das Dokument nur unter einer Bedingung ausliefern würde: wofern sie mir verspräche, sich mit Anna Andrejewna zu versöhnen und zu dieser Heirat ihre Zustimmung zu geben.
„Vorzüglich!“ unterbrach mich Tatjana Pawlowna. „Das hab’ ich ihr ja auch schon hundertmal gesagt! Er wird ja doch noch vor der Hochzeit sterben – also wird es sowieso nicht zur Heirat kommen, und wenn er ihr im Testament Geld hinterlassen will, der Anna, so hat er’s ihr doch schon ohnedem verschrieben ...“
„Ist es denn Katerina Nikolajewna wirklich nur ums Geld zu tun?“
„Nein, das nicht, aber sie fürchtete immer, das Dokument sei in Annas Händen, und ich fürchtete das auch! Deswegen haben wir doch auf sie aufgepaßt. Als gute Tochter wollte sie ihrem alten Vater nicht diesen Schmerz bereiten. Dem Bjoring aber, dem deutschen Nußknacker, dem war es natürlich um das Geld zu tun.“
„Und trotzdem bringt sie es über sich, diesen Bjoring zu heiraten?“
„Ja, was fängst du denn mit so einer Närrin an? Wer eine Närrin ist, ist eben eine Närrin. ‚Ruhe‘, sagt sie, werde er ihr geben! ‚Irgendeinen muß man doch heiraten, und zum Heiraten scheint er mir der Geeignetste zu sein,‘ sagt sie. Na, wir werden ja sehen, wie lange er ‚der Geeignetste‘ sein wird. Die Haare wird sie sich noch raufen, aber dann wird es zu spät sein!“
„Ja, warum lassen Sie es denn zu? Sie lieben sie doch, sie haben ihr doch ins Gesicht gesagt, daß Sie in sie verliebt sind!“
„Und das bin ich auch! Ich liebe sie mehr als euch alle zusammen, und doch bleibe ich dabei, daß sie eine Närrin ist!“
„Also dann laufen Sie jetzt und holen Sie sie her, und wir bringen hier alles in Ordnung und fahren dann mit ihr zu ihrem Vater.“
„Aber das geht doch nicht, das geht doch nicht, Dummkopf! Das ist es ja eben! Ach, was soll man da tun! Ach, mir wird schlecht, wenn ich daran denke!“ Sie lief wieder ratlos im Zimmer umher, griff aber schon nach ihrem Schal. „Wenn du doch um vier gekommen wärst, jetzt ist es ja schon acht Uhr, und sie ist vorhin zu Pelischtschoffs zum Diner gefahren und wollte nachher mit ihnen in die Oper.“
„Herrgott, ist es denn nicht möglich, sie in der Oper zu finden ... nein, nein, das geht nicht! Aber was wird denn jetzt aus dem Alten werden? Er wird ja noch in dieser Nacht sterben!“
„Hör mal: gehe nicht dahin zurück, gehe zu Mama und übernachte dort, und morgen früh ...“
„Nein, den Alten lasse ich um keinen Preis allein, möge kommen, was da wolle.“
„Ja, du hast recht, laß ihn nicht allein. Und ich, weißt du ... ich laufe zu ihr und werde ihr einen Zettel hinterlassen ... ich werde schon so schreiben, daß es außer ihr niemand versteht. Ich schreibe ihr, daß das Dokument hier ist, und daß sie morgen genau um zehn Uhr früh bei mir sein soll – aber pünktlich um zehn! Sei unbesorgt, sie wird kommen, auf mich hört sie schon; und dann bringen wir die ganze Sache auf einmal in Ordnung. Du aber laufe zurück und unterhalte den Alten, erheitere ihn so gut du nur kannst, und dann bring ihn zu Bett, vielleicht macht er es noch bis morgen früh! Und auch der Anna Andrejewna jag keinen Schrecken ein, ich hab’ sie doch auch lieb; du bist zu ihr ungerecht, weil du da vieles nicht verstehst: auch sie ist doch beleidigt, auch ihr ist von klein auf Unrecht widerfahren! Ach, alle kommt ihr mir auf den Hals! Und vergiß nicht, ihr von mir zu sagen, ich selber hätte ihre ganze Sache in die Hand genommen, ich selbst, und von ganzem Herzen, und sie solle ganz ruhig sein, ihr Stolz wird nicht verletzt werden ... Wir haben uns ja in den letzten Tagen ganz und gar überworfen, mußt du wissen, wir haben uns beinah angespien und beschimpft! Na, lauf nur ... Warte, zeig mir noch einmal die Tasche ... ist’s auch wahr, ist’s wahr? Ist es auch wirklich wahr, daß du den Brief hast?! Gib ihn mir doch wenigstens zur Nacht, was kann dir das denn ausmachen? Laß ihn hier, ich werde ihn dir ja nicht auffressen. Vielleicht kommt er dir noch über Nacht abhanden ... oder du änderst vielleicht deine Absicht?“
„Um keinen Preis gebe ich ihn her!“ rief ich aus. „Da, fühlen können Sie ihn meinetwegen noch einmal, hier ist er ... aber ihn dalassen – um keinen Preis!“
„Ja, ein Papier ist drin.“ Sie betastete mit den Fingern meine Tasche. „Na, schon gut, also lauf jetzt, und ich gehe zu ihr, vielleicht auch ins Theater, du hast ganz recht damit! Lauf nur, lauf!“
„Warten Sie, Tatjana Pawlowna, sagen Sie mir noch: was macht Mama?“
„Sie lebt.“
„Und Andrei Petrowitsch?“
Sie winkte mit der Hand ab.
„Er wird schon wieder zur Besinnung kommen!“
Ich lief ermutigt und voller Hoffnung nach Hause, obschon mir nicht alles so geglückt war, wie ich es erwartet hatte. Aber o weh, das Schicksal hatte anders beschlossen, und mich erwartete etwas ganz Unvorhergesehenes – fürwahr: es gibt doch ein Schicksal und ein Verhängnis in der Welt!