II.

Schon auf der Treppe vernahm ich einen großen Lärm in unserer Wohnung. Die Tür zu ihr war offen. Im Vorzimmer stand ein mir unbekannter Bedienter in Livree. Meine Wirtsleute, sowohl Pjotr Ippolitowitsch wie seine Frau, standen gleichfalls dort und schienen sehr erschrocken zu sein und auf irgend etwas zu warten. Auch die Tür zum Zimmer des Fürsten stand offen, und von dort scholl eine wahre Donnerstimme heraus, die ich sofort erkannte: es war Bjorings Stimme. Ich hatte noch nicht zwei Schritte machen können, als ich plötzlich sah, wie der Fürst, der ganz verweint war und zitterte, von Bjoring und Baron R. (demselben, der bei Werssiloff als Bjorings Bevollmächtigter erschienen war) aus dem Zimmer geleitet wurde. Der alte Fürst schluchzte laut und hielt sich an Bjoring, den er immer wieder küßte und umarmte. Jetzt sah ich auch, was Bjorings Geschrei zu bedeuten hatte: es galt Anna Andrejewna, die dem Fürsten ins Vorzimmer folgen wollte; er drohte ihr, und wenn ich mich nicht irre, stampfte er sogar mit dem Fuß – kurz, der rohe Soldat und Deutsche kam in ihm zum Vorschein, ungeachtet seiner ganzen Zugehörigkeit zur „höchsten Gesellschaft“. Später hat es sich freilich herausgestellt, daß er der Meinung gewesen war, Anna Andrejewna hätte sich eines schweren Verbrechens schuldig gemacht und würde ihre Tat noch vor Gericht verantworten müssen. Aus Unkenntnis der Sachlage übertrieb er das Geschehene, wie das bei vielen Menschen vorzukommen pflegt, und deshalb glaubte er, das Recht zu haben, sie mit aller Rücksichtslosigkeit zu behandeln. Er hatte noch keine Zeit gehabt, sich den Vorfall so recht klarzumachen: man hatte ihn anonym benachrichtigt, wie sich später herausstellte (worauf ich noch zurückkommen werde), und er war sofort, und zwar in der Gemütsverfassung des wildgewordenen Herrenmenschen losgefahren, also in einem Zustande, in dem selbst die geistreichsten Leute dieser Rasse wie die Schuster zu einer Keilerei bereit sind. Anna Andrejewna hatte dieser Überrumpelung mit der größten Würde standgehalten, aber das sah ich nicht mehr. Ich sah nur noch, wie Bjoring, der den alten Fürsten hinausgeführt hatte, diesen plötzlich dem Baron R. überließ, sich jähzornig nach Anna Andrejewna umwandte und sie, wahrscheinlich in Erwiderung auf eine Bemerkung von ihr, wütend anschrie:

„Sie sind eine Intrigantin! Sie haben es nur auf sein Geld abgesehen! Von nun an sind Sie aus der Gesellschaft ausgestoßen, und Sie werden sich vor Gericht zu verantworten haben! ...“

Sie sind es, der den armen Kranken ausnutzen will und ihn bis zum Irrsinn gebracht hat ... und jetzt schreien Sie mich an, weil ich eine schutzlose Frau bin und niemand hier ist, der mich verteidigen könnte ...“

„Ach ja, Sie sind ja seine Braut, seine Braut!“ Bjoring lachte boshaft und schallend auf.

„Baron, Baron ... chère enfant, je vous aime!“[128] schluchzte der Fürst und streckte die Arme nach Anna Andrejewna aus.

„Kommen Sie, Fürst, kommen Sie, hier war eine ganze Verschwörung gegen Sie angezettelt, vielleicht sogar gegen Ihr Leben!“ rief Bjoring.

„Oui, oui, je comprends, j’ai compris au commencement[129] ...“

„Fürst,“ unterbrach ihn Anna Andrejewna mit erhobener Stimme, „Sie beleidigen mich und lassen es zu, daß man mich beleidigt!“

„Weg da!“ schrie Bjoring sie plötzlich an.

Das war zuviel für mich!

„Schurke!“ brüllte ich ihn an, außer mir. „Anna Andrejewna, ich beschütze Sie!“

Was nun folgte, will und kann ich nicht ausführlich schildern. Es kam zu einem schrecklichen und widerlichen Auftritt; ich war plötzlich wie von Sinnen. Ich glaube, ich stürzte auf ihn los und schlug ihn, oder wenigstens versetzte ich ihm einen tüchtigen Stoß. Er schlug mich gleichfalls aus aller Kraft auf den Kopf, so daß ich hinfiel. Als ich zu mir kam, lief ich ihnen nach, die Treppe hinunter; ich weiß noch, daß mir das Blut aus der Nase floß. Vor der Haustür wartete eine Equipage auf sie, und während sie dem Fürsten beim Einsteigen halfen, stürzte ich mich, obgleich der Bediente mich zurückstieß, wieder auf Bjoring. Da tauchte plötzlich die Polizei auf. Bjoring packte mich am Kragen und befahl dem Schutzmann herrisch, mich sofort auf die Wache zu bringen. Ich schrie, er müsse mitgenommen werden, das Protokoll wäre sonst unvollständig, und man dürfe mich nicht so ohne weiteres und nahezu aus meiner Wohnung auf die Wache führen. Da aber das Ganze sich doch auf der Straße zutrug und nicht in meiner Wohnung, und da ich schrie, schimpfte und mich widersetzte – hinzu kam noch, daß Bjoring in seiner Uniform war – so bedachte sich der Schutzmann nicht lange und machte Anstalt, mich abzuführen. Darüber geriet ich völlig außer mir: ich wehrte mich aus allen Kräften, schlug wie rasend um mich, und schlug auch den Schutzmann. Auf einmal waren zwei Schutzleute da, und ich wurde nun tatsächlich auf die Wache geführt. In meiner Erinnerung habe ich nur noch eine blasse Vorstellung davon, wie ich in ein dunstiges, vollgerauchtes Zimmer gebracht wurde, in dem sich eine Menge der verschiedensten Menschen befanden, die teils saßen, teils standen und warteten, teils schrieben; ich schrie auch hier wieder, erhob Einspruch und verlangte das Protokoll. Aber jetzt handelte es sich schon nicht mehr um ein Protokoll allein, sondern bereits um einen viel verzwicktern Fall, da ich Unfug getrieben und mich der Polizeigewalt widersetzt hatte. Hinzu kam, daß ich wohl fürchterlich aussah. Irgend jemand schrie mich plötzlich drohend an. Der Schutzmann berichtete inzwischen von meinem Unfug und von dem Obersten in der Uniform eines Garderegiments ...

„Ihr Name?“ schrie mich jemand an.

„Dolgoruki!“ brüllte ich.

„Fürst Dolgoruki?“

Außer mir antwortete ich mit einem unsagbar groben Schimpfwort, und dann ... dann, erinnere ich mich, wurde ich „zur Ernüchterung“ in eine dunkle Kammer geschleppt. Oh, ich erhebe nicht Einspruch dagegen. Noch kürzlich haben wir ja in den Zeitungen die Beschwerde eines Herrn gelesen, der die ganze Nacht in der Haft gesessen hat, sogar gefesselt und gleichfalls in der Ernüchterungskammer. Dabei war er, glaub ich, noch nicht einmal schuldig – ich aber war schuldig. Ich warf mich auf die Pritsche, auf der bereits zwei schwer Betrunkene schliefen. Mein Kopf tat mir weh, in meinen Schläfen hämmerte es, mein Herz klopfte. Ich werde dann wohl das Bewußtsein verloren haben, und ich glaube, ich habe sogar phantasiert. Ich weiß nur noch, daß ich mitten in der stockdunklen Nacht plötzlich wach wurde und mich auf der Pritsche aufsetzte. Mit einem Schlage fiel mir alles wieder ein, und ich verstand alles; ich stützte die Ellbogen auf die Knie, stützte den Kopf in die Hände und versank in tiefes Nachdenken.

Oh, ich will meine Gefühle nicht schildern, und ich habe auch gar keine Zeit dazu, aber eins möchte ich doch bemerken: ich habe vielleicht innerlich niemals frohere Augenblicke erlebt, als während jenes Sinnens in der dunklen Nacht, auf der Pritsche und in der Haft. Das wird dem Leser vielleicht unverständlich erscheinen, wie eine Art Tintenkleckserschwärmerei oder wie ein Ausdruck übertriebener Originalitätshascherei – und doch war es so, wie ich sage. Es war eine jener Stunden, wie sie vielleicht jeder Mensch erlebt, die einem aber kaum mehr als einmal im Leben beschieden sind. In einer solchen Stunde entscheidet der Mensch über sein Schicksal, setzt sich selbst seine Anschauung fest und sagt sich einmal für sein ganzes Leben: „Dort liegt die Wahrheit, und den Weg mußt du gehen, um zur Wahrheit zu kommen.“ Ja, diese Augenblicke wurden zum Licht meiner Seele. Ich war von dem hochmütigen Baron Bjoring beleidigt worden und erwartete, am nächsten Morgen von jener Dame der vornehmen Gesellschaft beleidigt zu werden, und ich wußte, daß ich mich nur zu gut an ihnen rächen konnte, aber ich beschloß, daß ich mich nicht rächen werde. Ich war entschlossen, trotz der großen Versuchung, das Dokument nicht aller Welt bekanntzugeben (auch dieser Gedanke war mir ungerufen schon durch den Kopf gewirbelt): ich sagte mir nochmals, daß ich morgen diesen Brief vor ihr hinlegen und, wenn es sein mußte, statt Dankbarkeit sogar ihr spöttisches Lächeln hinnehmen, und trotzdem kein Wort sagen und auf ewig von ihr gehen würde ... Übrigens, wozu das hier breittreten! Doch was am nächsten Morgen mit mir geschehen, wie man mich verhören, und was man schließlich mit mir machen werde – darüber nachzudenken vergaß ich fast ganz. Ich bekreuzte mich mit Inbrunst, legte mich wieder auf die Pritsche hin und schlief frohgemut ein wie ein Kind.

Ich erwachte spät, als es schon hell war. Ich sah mich um und sah, daß ich allein war. Ich setzte mich auf und begann schweigend zu warten; ich wartete lange, vielleicht eine gute Stunde. Es wird ungefähr neun Uhr gewesen sein, als auf einmal ein Schutzmann hereintrat, um mich vorzuführen. Ich übergehe die Einzelheiten, da sie nebensächlich sind; ich habe jetzt nur noch die Hauptsache zu beenden. Ich bemerke bloß, daß man zu meiner nicht geringen Verwunderung überraschend höflich mit mir umging: ich wurde da irgend etwas gefragt, ich antwortete, und dann wurde mir ohne weiteres erlaubt, nach Haus zu gehen. Ich ging schweigend hinaus; in ihren Blicken las ich mit Genugtuung ein gewisses Staunen über einen Menschen, der sogar in einer solchen Lage seine Würde zu bewahren verstanden hatte. Ich würde das nicht erwähnt haben, wenn es nicht wirklich auffallend gewesen wäre. Aber wie groß war meine Überraschung, als ich am Ausgang plötzlich Tatjana Pawlowna vor mir sah. In zwei Worten sei hier nur noch erklärt, weshalb ich damals so schnell aus der Haft entlassen wurde.

Früh am Morgen, schon vor acht Uhr, war Tatjana Pawlowna in meiner Wohnung erschienen, das heißt, bei Pjotr Ippolitowitsch, – sie hatte sogar eine Droschke genommen – in der Annahme, den alten Fürsten noch anzutreffen, und statt dessen hatte sie auf einmal den Bericht von den Geschehnissen am Abend vorher vernommen und, was die Hauptsache war, erfahren, daß man mich auf die Polizeiwache geführt hatte. Da war sie denn schleunigst zu Katerina Nikolajewna geeilt (die schon am Abend, nach ihrer Rückkehr aus dem Theater, ihren Vater zu Hause vorgefunden hatte), war zu ihr ins Schlafzimmer gestürzt, hatte sie aufgeweckt, ihr Angst und Bange gemacht und meine sofortige Befreiung verlangt. Darauf war sie mit einem Brief von ihr zu Bjoring gefahren, hatte von ihm sofort ein Schreiben „an den zuständigen Polizeioffizier“ erwirkt, in dem er, Baron Bjoring, dringend darum ersuchte, mich unverzüglich aus der Haft zu entlassen, da ich „infolge eines Mißverständnisses“ verhaftet worden sei. Mit diesem Schreiben war sie dann auf der Polizeiwache erschienen: und selbstverständlich hatte man ihre Bitte sofort berücksichtigt.

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