An diesem neunzehnten September entschloß ich mich außerdem noch zu einem „Schritt“.
Seit meiner Ankunft in Petersburg hatte ich zum erstenmal Geld in der Tasche; denn meine in zwei Jahren zusammengesparten sechzig Rubel hatte ich, wie bereits erwähnt, sogleich meiner Mutter gegeben; ein paar Tage zuvor aber hatte ich mir fest vorgenommen, an dem Tage, an dem ich mein Monatsgehalt erhielt, einen „Versuch“ zu machen, wie ich ihn schon seit langem beabsichtigte. Und gerade am Abend vorher hatte ich im Inseratenteil einer Zeitung etwas gefunden, auf alle Fälle ausgeschnitten und zu mir gesteckt: es war das eine „Bekanntmachung vom St. Petersburger Bezirksgericht“ usw., daß am 19. September cr. um 12 Uhr vormittags im Kasaner Viertel, in der und der Gegend, im Hause Nummer soundso die gerichtliche Versteigerung des Mobiliars einer gewissen Frau Lebrecht stattfinden werde, und daß die Taxationsliste der betreffenden Gegenstände, und natürlich auch diese selbst, am Tage der Versteigerung dem Publikum zur Orientierung und Besichtigung in besagtem Hause bereitgestellt sein würden usw.
Es war kurz nach ein Uhr. Ich eilte zu Fuß nach dem Kasaner Viertel. Schon seit drei Jahren benutzte ich keine Droschke mehr, – ich hatte mir das so geschworen (anderenfalls hätte ich mir auch nicht diese sechzig Rubel ersparen können). Ich war noch nie zu einer Auktion gegangen, ich hatte mir das noch nicht erlaubt; und obschon mein erster Schritt auf diesem Gebiet nur ein Versuch sein sollte, so hatte ich mir doch von vornherein eines fest vorgenommen: nicht eher wollte ich mir diesen Versuch gestatten, als bis ich das Gymnasium beendet, mit allen gebrochen und mich in mein Gehäuse verkrochen hätte, also erst dann, wenn ich vollkommen frei sein würde. Freilich war ich nun noch längst nicht in meinem Gehäuse und auch noch weit davon entfernt, frei zu sein. Aber der Schritt sollte ja auch nur als Versuch in Frage kommen, als Probe, nur so, um zu sehen, wie es ist, fast nur, um meine Zukunftsträume danach gestalten zu können; dann aber wollte ich, vielleicht lange Zeit hindurch, nichts Derartiges mehr unternehmen, vielleicht sogar bis zu dem Zeitpunkt, wo ich damit ernstlich begänne. Für alle anderen war dies nur eine kleine, nichtssagende Auktion, für mich aber – der erste Balken des Schiffes, auf dem ich wie Kolumbus ausfahren wollte, um Amerika zu entdecken. Das waren ungefähr die Gefühle, die ich damals hatte.
Ich fand das Haus, ging, wie in der Notiz angegeben war, über den Hof und betrat die Wohnung der Frau Lebrecht. Diese Wohnung bestand aus einem Vorraum und vier nicht großen, niedrigen Zimmern. Im ersten Zimmer befanden sich viele Menschen, vielleicht ganze dreißig an der Zahl; aber nur die Hälfte von ihnen mochte sich aus Käufern zusammensetzen – die anderen waren augenscheinlich nur aus Neugier gekommen oder als Liebhaber jeglicher Versammlungen oder auch als heimlich Beauftragte der Frau Lebrecht. Es waren da außer Krämern und Juden, die es auf die Goldsachen abgesehen hatten, auch einige „sauber“ gekleidete Leute. Sogar die Physiognomien einzelner von ihnen haben sich meinem Gedächtnis eingeprägt. Im nächsten Zimmer rechts, dessen Tür offen stand, hatte man gerade zwischen die Türpfosten einen Tisch gestellt, so daß er den Eingang zu jenem Zimmer versperrte; dort aber befanden sich alle die unter den Hammer gekommenen Sachen, die verauktioniert werden sollten. Links lag ein anderes Zimmer, dessen Tür geschlossen war, doch von Zeit zu Zeit ein klein wenig geöffnet wurde, und dann sah man, daß jemand verstohlen durch den Spalt lauerte – wahrscheinlich jemand von den zahlreichen Sprößlingen der Frau Lebrecht, die sich an dem Tage natürlich in einer recht beschämenden Lage befanden. Hinter dem Tisch in der Tür saß, das Gesicht dem Publikum zugewandt, der Gerichtsvollzieher, der die Sachen zu versteigern hatte. Als ich eintrat, war ungefähr die Hälfte schon verkauft. Ich drängte mich sogleich bis dicht an den Tisch heran. Es wurden gerade zwei Bronzeleuchter ausgeboten. Ich sah mich nach den anderen Sachen um.
Dabei drängten sich mir sogleich Zweifel auf: was konnte ich hier überhaupt kaufen? Was finge ich zum Beispiel mit diesem Paar Bronzeleuchter an, wo brächte ich sie jetzt unter, und könnte ich denn so überhaupt jemals zum Ziel gelangen? Wird denn die Sache auch wirklich so gemacht, und wird meine Berechnung auch wirklich richtig sein? War es nicht schließlich eine ganz kindische Berechnung? Und während mir diese Gedanken durch den Kopf fuhren, stand ich und wartete, – etwa wie man am Spieltisch wartet, wenn man noch nicht gesetzt hat, obschon man mit der Absicht, unbedingt zu spielen, an den Tisch getreten ist und gerade noch denkt: „Wenn ich will, setze ich, wenn ich will, gehe ich fort – ganz wie ich will.“ Das Herz pocht dann noch nicht, aber es ist, als verlangsame sich sein Schlagen, und hin und wieder erbebt es nur so eigenartig, – eine Empfindung, die nicht ohne Reiz ist. Aber die Unentschlossenheit fängt bald an, einem lästig zu werden, und dann wird man plötzlich gleichsam blind und taub und streckt die Hand aus und nimmt eine Karte, aber alles ganz wie mechanisch, fast sogar wie gegen den eigenen Willen, als führte ein Fremder unsere Hand; und plötzlich ist es geschehen! – Da hat man gleich eine ganz andere Empfindung, die geradezu ungeheuer ist. Ich rede hier nicht von Auktionen, sondern nur von mir, – wer könnte denn sonst auf einer Auktion Herzklopfen bekommen?
Es waren da Leute, die sich sehr ereiferten, andere wiederum, die schwiegen und warteten, und wieder andere, die dies oder jenes kauften und es nachher bereuten. Doch kann ich nicht sagen, daß sie mir leid taten: ein Herr zum Beispiel, der sich verhört hatte und eine Milchkanne aus Neusilber für eine silberne kaufte und statt etwa zwei Rubel ganze fünf Rubel zahlen mußte, erweckte nicht das geringste Mitleid in mir, im Gegenteil, dieser Zwischenfall erheiterte mich sogar. Der Gerichtsvollzieher brachte übrigens auch nach Möglichkeit Abwechslung in die Versteigerung: nach den Leuchtern kamen Ohrringe zum Ausbot, nach den Ohrringen ein Sofakissen, dann eine Schatulle, – wahrscheinlich, um das Interesse wachzuerhalten, oder vielleicht auch, um den verschiedenen Wünschen der Kauflustigen nachzukommen. Ich hielt es nicht zehn Minuten aus, wandte mich zuerst dem Kissen zu, darauf der Schatulle, aber im entscheidenden Moment bot ich dann doch nicht mit: diese Gegenstände erschienen mir ganz unmöglich. Da hielt der Gerichtsvollzieher ein Album in der Hand.
„Ein Album, in einem roten Saffianeinband, gebraucht, mit Aquarell- und Tuschzeichnungen, in einem Futteral mit geschnitzter Elfenbeineinlage und mit silbernem Schloß – zwei Rubel!“
Ich trat näher: ein elegantes Ding, aber die Elfenbeinschnitzerei war an einer Stelle schon etwas schadhaft. Nur ich allein war nähergetreten, die anderen schwiegen. Konkurrenten gab es also nicht. Ich hätte ja das Schloß öffnen und das Album herausnehmen können, um es zu betrachten, ließ es aber bleiben – „gleichviel,“ dachte ich, „das ist ja egal“.
„Zwei Rubel fünf Kopeken,“ sagte ich mit vor Aufregung unsicherer Stimme.
Niemand bot mehr. So fiel es mir zu. Ich holte sogleich mein Geld hervor, bezahlte, nahm das Album und zog mich in einen Winkel des Zimmers zurück. Dort erst nahm ich es aus dem Futteral, um es schnell, fast fieberhaft zu durchblättern: das war nun, abgesehen von dem Futteral, das wertloseste Ding der Welt, – ein Stammbuch von der Größe eines Bogen Postpapiers kleinen Formats, ein dünnes Büchlein mit abgenutztem Goldschnitt, – genau von der Art, wie sie in früheren Jahren bei jungen Mädchen, die ein Institut besuchten, so überaus beliebt waren. Mit Tusche und Wasserfarben waren da Tempel auf Bergen gemalt, Amoretten, ein Teich, auf dem Schwäne schwammen, und dazu natürlich Gedichte.
„... Vor mir liegt eine weite Reise,
Weshalb ich Abschied nehmen muß,
Drum send’ ich Dir auf diese Weise
Hiermit noch einen letzten Gruß.“
(Da hab’ ich richtig noch eines von ihnen behalten!) Ich gestand mir, daß ich „hereingefallen“ war: wenn es etwas gab, was kein Mensch brauchen konnte, so war das dieses alte Album.
„Tut nichts,“ schloß ich schnell meinen Gedankengang, „die erste Karte verspielt man immer; das hat sogar eine gute Vorbedeutung.“
Ich war entschieden vergnügt.
„Ach, da bin ich zu spät gekommen! Sie haben es? Sie haben es erstanden?“ hörte ich plötzlich neben mir die Stimme eines Herrn, der sehr stattlich aussah und gut gekleidet war. Er war gerade erst eingetreten.
„Zu spät gekommen! Schade, sehr schade! – Für wieviel, wenn ich fragen darf?“
„Für zwei Rubel fünf Kopeken.“
„Ach, wie schade! – Würden Sie es mir nicht abtreten?“
„Gehen wir hinaus,“ flüsterte ich ihm zu, während mein Herzschlag stockte.
Wir gingen hinaus auf die Treppe.
„Ich trete es Ihnen für zehn Rubel ab,“ sagte ich, mit einem Gefühl von Kälte im Rücken.
„Zehn Rubel! Ich bitte Sie, was fällt Ihnen ein!“
„Wie Sie wollen.“
Er sah mich mit aufgerissenen Augen an und maß mich von oben bis unten: ich war gut gekleidet und glich wohl nicht im entferntesten einem Juden oder Trödler.
„Aber ich bitt’ Sie! – Das ist doch ein altes, lumpiges Album, das zu nichts mehr zu gebrauchen ist, auch das Futteral ist ja nichts mehr wert – wer wird denn so etwas noch kaufen?“
„Sie wollen es doch.“
„Aber doch nur aus einem besonderen Grunde! – Ich erfuhr es erst gestern, – und solcher, die das kaufen wollen, gibt es doch außer mir keinen einzigen! Was fällt Ihnen ein!“
„Ich hätte fünfundzwanzig Rubel fordern sollen; aber da Sie dann vielleicht doch zurückgetreten wären, so habe ich, um das Wagnis nicht zu übertreiben, nur zehn gefordert. Davon lasse ich keine Kopeke ab.“
Ich kehrte ihm den Rücken und ging.
„So nehmen Sie vier Rubel!“ rief er mir nach und holte mich mit schnellen Schritten ein, – ich war schon auf dem Hof. „Nun, meinetwegen: fünf!“
Ich schwieg und ging weiter.
„Nun denn – da haben Sie!“ Er nahm zehn Rubel aus seinem Portemonnaie, ich gab ihm das Album.
„Aber Sie müssen doch zugeben, daß das nicht ehrlich ist! Zwei Rubel und zehn – was?“
„Weshalb nicht ehrlich? Einfach Markt!“
„Was ist denn hier für ein Markt!“ (Er wurde wütend.)
„Wo Nachfrage ist, ist auch Markt. Hätten Sie sich nicht eingefunden, – keine vierzig Kopeken hätt’ ich dafür bekommen.“
Ich sagte es zwar ganz ernst, aber innerlich lachte ich, – lachte nicht gerade vor Entzücken, sondern – ja, ich weiß es eigentlich selbst nicht, weshalb ich lachte, jedenfalls aber geriet ich dabei etwas außer Atem.
„Hören Sie,“ wandte ich mich leise an ihn – ich konnte es nicht zurückhalten, was sich mir auf die Lippen drängte, und ich sagte es ganz freundschaftlich zu ihm und hatte ihn dabei sogar furchtbar lieb – „hören Sie, als James Rothschild, der Verstorbene – der Pariser, Sie wissen doch, der eintausendsiebenhundert Millionen Francs hinterlassen hat“ (er nickte mit dem Kopf), „als also dieser James Rothschild – damals war er noch jung – zufällig ein paar Stunden früher als alle anderen von der Ermordung des Herzogs von Berry erfuhr und davon ungesäumt gewissen Leuten Mitteilung machte, verdiente er allein dadurch in wenigen Minuten ein paar Millionen – sehen Sie, so machen es solche Leute!“
„Ja, sind Sie denn Rothschild?“ schrie er mich wütend an, als hätte er es mit einem Narren zu tun.
Ich ließ ihn stehen und ging fort. Ein einziger Schachzug – und ich hatte sieben Rubel fünfundneunzig Kopeken verdient! Gut, sagen wir: es war ein Zufall, ein kindisches Spiel, ich gebe es zu, aber immerhin stimmte dieser „Zufall“ mit meiner Berechnung überein, und da war es nur natürlich, daß er einen ungeheuer tiefen Eindruck auf mich machte ... Übrigens, wozu Gefühle beschreiben? Den Zehnrubelschein hatte ich in meiner Westentasche, ich steckte zwei Finger hinein, um ihn zu befühlen – und so ging ich weiter, ohne die Hand herauszuziehen. Als ich etwa hundert Schritte gegangen war, zog ich den Schein hervor, um ihn zu betrachten: ich besah ihn von allen Seiten und hätte ihn am liebsten geküßt. Da rollte eine Equipage vor das Haus, an dem ich gerade vorübergehen wollte. Der Portier öffnete die Tür, und aus dem Hause trat eine Dame, elegant, jung, schön, in Seide und Samt gekleidet, mit einer fast meterlangen Schleppe – und sie ging an mir vorüber zur Equipage. Plötzlich entglitt ihrer Hand ein entzückendes kleines Ledertäschchen und fiel hin, ohne daß sie es bemerkte: sie stieg ein. Der Diener bückte sich, um das Ding aufzuheben, doch schon war ich hinzugesprungen, hob es auf und reichte es der Dame, indem ich den Hut lüftete. (Ich trug einen Zylinder und war als selbständiger junger Mann gut gekleidet.) Die Dame sagte zurückhaltend, doch mit dem liebenswürdigsten Lächeln: „Merci m’sieu.“[20] Die Equipage rollte davon. Ich küßte meinen Zehnrubelschein.