VII.

Jetzt von etwas ganz anderem.

Einen Monat vorher, d. h. einen Monat vor jenem neunzehnten September, beschloß ich damals in Moskau, mich endgültig von ihnen allen loszusagen und hinfort nur noch meiner Idee zu leben, d. h. restlos in ihr aufzugehen. Ich sage und schreibe es auch so hin: „restlos in ihr aufzugehen“; denn dieser Ausdruck deckt sich am besten mit meinem Hauptgedanken – eben mit der Idee, für die allein ich auf Erden leben will. Was das für eine „Idee“ ist, das werde ich später noch ausführlich erklären. In der jahrelangen verträumten und verschwärmten Einsamkeit meines Moskauer Lebens hatte sie sich langsam entwickelt, dann aber, in der sechsten Klasse des Gymnasiums, hatte sie fast plötzlich von mir vollständig Besitz ergriffen und mich dann vielleicht keinen einzigen Augenblick mehr verlassen. Es war seitdem, als habe diese Idee mein ganzes Leben verschlungen. Auch vorher schon hatte ich mehr in Träumen als in der Wirklichkeit gelebt, ja eigentlich hatte ich schon von Kindheit an mein Leben in einer Traumwelt zugebracht, in einer Traumwelt von jener bewußten Art. Doch mit der Entstehung dieser größten und alles übrige in mir verschlingenden Idee wurden auch meine Träume bestimmter, gewannen sie feste Umrisse und feste Gestalt: aus kindisch dummen Phantastereien wurden fast über Nacht vernünftige Zukunftspläne. Die Schule hatte das Träumen nicht verhindert, so konnte sie auch meiner „Idee“ nichts anhaben. Übrigens will ich hier doch bemerken, daß ich das Gymnasium im letzten Jahr als schlechter Schüler beendete, während ich bis dahin immer einer der ersten gewesen war, und schuld daran war natürlich nichts anderes als diese Idee, infolge eines (vielleicht falschen) Schlusses, den ich aus ihr gezogen hatte. So war denn nicht das Gymnasium ein Hindernis für die Idee, sondern umgekehrt, die Idee ein Hindernis für das Gymnasium. Und ebenso verhinderte sie das weitere Studium, ich meine den Besuch einer Universität. Nach dem Abiturium beabsichtigte ich, nicht nur unverzüglich mit allen Verwandten zu brechen, sondern falls nötig auch mit der ganzen Welt – und das, obschon ich damals erst zwanzig Jahre alt war. So schrieb ich nach Petersburg, daß man mich hinfort in Ruhe lassen, kein Geld mehr zu meinem Unterhalt senden, und mich, wenn möglich, vollständig vergessen solle (letzteres, versteht sich, falls man sich meiner überhaupt noch erinnerte). Und zum Schluß erklärte ich unumwunden, die Universität „um keinen Preis“ besuchen zu wollen. Sah ich mich doch damals vor ein unvermeidliches Dilemma gestellt: entweder verzichtete ich auf die Universität und die Weiterbildung, oder ich schob die Umsetzung der Idee in die Tat noch auf ganze vier Jahre hinaus. Furchtlos und ohne zu zögern entschied ich mich für die Idee und gab das Studium auf, zumal ich alles schon mathematisch berechnet hatte und vom Erfolg überzeugt war.

Auf meinen Brief erhielt ich eine Antwort von Werssiloff, meinem natürlichen Vater, den ich bis dahin bloß einmal, und auch da nur einen Augenblick lang gesehen hatte (und doch hatte er, so kurz der Augenblick auch war, einen mächtigen, ja bestrickenden Eindruck auf mich gemacht). Er antwortete auf meinen Brief, der übrigens gar nicht an ihn gerichtet gewesen war, mit einem eigenhändigen Schreiben, in dem er mich nach Petersburg zu kommen aufforderte und mir daselbst eine private Anstellung versprach.

Eine solche Aufforderung von diesem verschlossenen, stolzen Menschen, der sich so hochmütig und nachlässig zu mir verhalten und sich bis dahin, nachdem er mich gezeugt und dann unbekümmert unter fremden Leuten meinem Schicksal überlassen hatte, der mich nicht nur nicht kannte, sondern sein Verhalten zu mir nicht einmal bereute (vielleicht aber, wer kann’s wissen, hatte er von meinem ganzen Dasein kaum mehr als eine dunkle und jedenfalls ungenaue Vorstellung; denn, wie es sich später herausstellte, hatte nicht er für meinen Unterhalt in Moskau gezahlt, sondern auch das war von anderer Seite geschehen), – ja, die Aufforderung dieses Menschen, sage ich, der sich so plötzlich meiner erinnerte und mich eines eigenhändigen Schreibens würdigte, – diese Aufforderung verführte mich und entschied mein Schicksal. Unter anderem gefiel mir sein Brief (eine einzige Seite kleinen Formats) auch deshalb, weil er in ihm mit keinem Wort vom Studium sprach: weder bat er mich, meinen Entschluß zu ändern, noch machte er mir deshalb einen Vorwurf, – kurz, er kam mir mit keiner einzigen der in solchen Fällen üblichen elterlichen Redensarten. Und eben das gefiel mir, obschon es, genau genommen, gerade kein hübscher Zug von ihm war, da dieses Verhalten noch deutlicher seine Gleichgültigkeit mir gegenüber bewies. Ich entschloß mich aber auch noch aus dem Grunde zur Fahrt, weil dieser „Abstecher“ meiner Idee und ihrer Ausführung schließlich nichts anhaben konnte. „Ich kann mir ja die Geschichte dort mal ansehen,“ philosophierte ich, „jedenfalls aber bleibe ich nur für einige Zeit bei ihnen, vielleicht nur für die allerkürzeste. Sollte ich jedoch sehen, daß dieser Schritt, so bedingt und klein er auch ist, mich dennoch von meinem Hauptziel ablenken könnte, so breche ich unverzüglich mit allen, soviel ihrer dort sind, lasse alles liegen und ziehe mich sofort zurück in mein Gehäuse. Ja, gerade in mein ‚Gehäuse‘! Ich verkrieche mich in ihm wie eine Schnecke, verstecke mich wie eine Schildkröte in ihrer Schale.“ Dieser Vergleich gefiel mir sehr. „Ich werde nicht allein sein,“ fuhr ich in Gedanken fort, während ich die letzten Tage in Moskau wie in einem Rausch umherging, „jetzt werde ich niemals mehr allein sein, wie bisher alle die langen entsetzlichen Jahre. Jetzt habe ich meine Idee, von der ich nie mehr lassen werde, selbst dann nicht, wenn sie mir dort auch alle, Gott weiß wie sehr, gefallen, mich vielleicht relativ sogar glücklich machen sollten, und ich womöglich ganze zehn Jahre bei ihnen verbliebe!“ Eben diese Überzeugung aber war es, die in meine Pläne und Ziele einen Zwiespalt brachte und mich die ganze Zeit über in Petersburg unfrei machte (denn ich weiß wirklich nicht, ob ich in Petersburg auch nur einen einzigen Tag erlebt habe, an dem ich nicht an meine Idee gedacht und nicht den nächsten Tag als meinen letzten Termin festgesetzt hätte, um mit allen zu brechen und fortzugehen). Und dieser Zwiespalt war, glaube ich, die Hauptursache oder zum mindesten eine von den Hauptursachen, warum ich im Laufe dieses Jahres so viele Unvorsichtigkeiten, so viele Häßlichkeiten, ja sogar Niedrigkeiten und, versteht sich, auch unzählige Dummheiten begangen habe.

Natürlich, wie hätte es anders sein sollen: ich bekam plötzlich einen Vater, etwas, was ich bis dahin noch nie besessen! Dieses Geschenk berauschte mich, der Gedanke daran verdrängte während der Reisevorbereitungen und der Fahrt fast alle anderen Gedanken. Das heißt, daß er mein „Vater“ war, bedeutete für mich eigentlich noch nicht einmal so viel; denn ich bin kein Freund von Zärtlichkeiten; aber dieser Mensch hatte mich nicht kennen wollen und sich so ohne jede Achtung zu mir verhalten, während ich mich von Kindheit an mit allen Fibern, allen Gedanken und Träumen gleichsam an ihn festgesogen hatte (wenn man sich im übertragenen Sinne so ausdrücken darf). Jeder meiner Träume hatte, so weit ich zurückdenken kann, mit ihm in Zusammenhang gestanden, sich gewöhnlich nur mit ihm beschäftigt, oder war wenigstens im Endergebnis auf ihn hinausgelaufen. Ich weiß nicht, liebte ich ihn, oder haßte ich ihn? – ich weiß nur, daß alle meine Zukunftspläne und Träume nur um ihn kreisten, er war der Mittelpunkt des ganzen Lebens, das noch vor mir lag, – und das hatte sich ganz von selbst so gemacht, das war mit meiner Entwicklung Schritt für Schritt mitgegangen.

Zu meinem Entschluß, der Aufforderung nach Petersburg Folge zu leisten, trug auch noch ein mächtiger Umstand bei, der durch einen gewissen verlockenden Reiz vielleicht sogar zum ausschlaggebenden für mich wurde. Das war etwas, was mein Herz schon ganze drei Monate vor meiner Abreise aus Moskau (als von Petersburg noch gar keine Rede war) schneller hatte schlagen lassen: es zog mich in jenen unbekannten Ozean namentlich deshalb so mächtig hinein, weil ich sogleich als Herrscher und Herr sogar über fremde Schicksale – und noch wessen Schicksale! – dort auftreten konnte. Aber es waren nur großmütige und nicht despotische Gefühle, die in mir kochten, – das sei hier vorausgeschickt, damit man aus meinen Worten keine falschen Schlüsse ziehe. Dachte doch Werssiloff gewiß nichts anderes von mir (d. h. wenn er mich überhaupt dessen würdigte, sich über mich ein paar Gedanken zu machen), daß da nun ein kleiner Knabe angereist kommen werde, ein Gymnasiast, ein grüner Jüngling, der beim Anblick dieser ihm neuen Welt die Augen vor Verwunderung weiß Gott wie weit aufreißen werde. Ich aber kannte indessen schon sein größtes Geheimnis und hatte ein Dokument in Händen, für das er (jetzt weiß ich es und kann es mit der größten Sicherheit behaupten) damals, gerade damals, mehrere Jahre seines Lebens hingegeben haben würde, wenn ich ihm nur für diesen Preis das Dokument ausgeliefert hätte. Übrigens sehe ich soeben, daß ich hier in Rätseln rede, während doch in erster Linie Tatsachen vonnöten sind. Ohne Tatsachen lassen sich Gefühle nicht beschreiben, wenigstens nicht so, daß ein anderer sie nachfühlen könnte. Zudem wird von diesen meinen Empfindungen noch genug die Rede sein – habe ich doch nur deshalb zu schreiben angefangen, um auch mir selbst Klarheit zu verschaffen. So aber, so ohne Anhaltspunkte zu schreiben – da gleicht das Geschriebene Fiebertraumgesichten oder Wolken.

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