VIII.

Doch um endlich zu jenem neunzehnten September zu kommen, will ich vorher nur noch kurz erwähnen, daß ich sie alle, d. h. Werssiloff, meine Mutter und meine Schwester (letztere sah ich, nebenbei bemerkt, zum erstenmal im Leben) in den bedrängtesten Verhältnissen, fast gänzlich mittellos oder sogar buchstäblich vor der Bettelarmut antraf. Ich hatte davon schon in Moskau gehört, aber das, was ich dann vorfand, hatte ich doch nicht erwartet. Schon von Kindheit an war ich gewöhnt, diesen Menschen, diesen meinen „zukünftigen Vater“ mir geradezu in einem Glorienschein vorzustellen; ich konnte ihn mir überhaupt nicht anders denken, als überall auf dem ersten Platz. Werssiloff hatte mit meiner Mutter bis dahin noch niemals zusammen in einer Wohnung gelebt, sondern für sie immer eine andere gemietet, und das hatte er natürlich nur getan, um jenen erbärmlichen „Anstand“, was diese Kreise so nennen, in den Augen der Welt zu wahren. Jetzt aber lebten sie alle zusammen in einem hölzernen Gartenhaus, oder richtiger, in einem Flügel eines Mietwohnhauses in einer kleinen Querstraße im Stadtteil „Ssemjonowski Polk“. Von ihren Sachen war fast alles schon versetzt, so daß ich meiner Mutter, natürlich ohne Werssiloffs Wissen, meine heimlichen sechzig Rubel gab. Ja, mein „heimliches“ Geld; denn niemand wußte es, daß ich es mir von meinem Taschengelde – ich bekam in jedem Monat fünf Rubel – im Laufe von zwei Jahren zusammengespart hatte. Angefangen zu sparen hatte ich gleich am ersten Tage meiner „Idee“, und deshalb durfte Werssiloff kein Wort von diesem Gelde erfahren. Davor zitterte ich.

Doch diese Hilfe war nur wie ein Tropfen auf einen heißen Stein. Meine Mutter arbeitete und meine Schwester gleichfalls – sie stickten für Geld. Werssiloff dagegen tat nichts, war launisch wie ein verzogenes Kind, und ließ sich durch nichts abhalten, sein früheres Leben mit all den vielen kostspieligen Gewohnheiten weiterzuführen. Nichts war ihm recht, namentlich bei Tisch, wo er an jeder Speise herummäkelte, und überhaupt war sein ganzes Verhalten zu den anderen geradezu despotisch. Aber meine Mutter, meine Schwester, Tatjana Pawlowna und die ganze Familie des seligen Andronikoff (eines etwa drei Monate vor meiner Ankunft verstorbenen Bürochefs, der nebenbei auch Werssiloffs Vermögen verwaltet hatte), auch diese ganze Familie, die aus lauter Frauenzimmern älterer Jahrgänge bestand, kurz: alle diese Frauen verhielten sich zu ihm in nahezu andachtsvoller Ehrfurcht und dienten ihm wie einem Götzen. Ich hätte so etwas gar nicht für möglich gehalten. Vor neun Jahren war er eine unvergleichlich elegantere, auffallendere Erscheinung gewesen. In meiner Erinnerung hatte ich ihn, wie ich bereits erwähnt habe, förmlich in einem Glorienschein gesehen, weshalb ich denn auch nicht begriff, wie er in so kurzer Zeit – in ungefähr neun Jahren – so merklich hatte altern und sich äußerlich verändern können. Es machte mich geradezu traurig, und er tat mir leid, und ich schämte mich fast für ihn. Sein Anblick war mir einer der schwersten ersten Eindrücke nach meiner Ankunft. Übrigens machte er deshalb noch längst nicht den Eindruck eines alten Mannes: er war ja auch erst fünfundvierzig; und als ich mich aufmerksamer in ihn hineinsah, fand ich in seinen Gesichtszügen sogar etwas noch weit Auffallenderes, Fesselnderes, als es seine frühere Schönheit, deren ich mich noch so gut entsann, gehabt hatte. Es war weniger Glanz, weniger äußere Schönheit, ja sogar weniger Vornehmheit in ihm, aber das Leben hatte doch etwas weitaus Interessanteres in dieses Gesicht hineingezeichnet, als es jene ganze frühere Schönheit jemals gewesen war.

Indessen bildete die Armut nur einen zehnten oder zwanzigsten Teil von allem Widerwärtigen, das ihm in letzter Zeit zugestoßen war, das wußte ich. Außer der Armut gab es da etwas noch weit Ernsteres, – ganz abgesehen davon, daß er immer noch Aussicht hatte, den Erbschaftsprozeß, den er schon seit einem Jahr gegen den Fürsten Ssokolski führte, zu gewinnen und somit schon in nächster Zeit in den Besitz eines Gutes im Werte von über siebzigtausend Rubel zu gelangen. Ich habe bereits erwähnt, daß dieser Werssiloff schon ganze drei Erbschaften in seinem Leben durchgebracht hatte, und da sollte ihn nun wieder eine herausreißen! Die Sache mußte in den nächsten Tagen zur Verhandlung kommen. Daraufhin war ich auch nach Petersburg gerufen worden – in der Hoffnung, daß auch dieses Vermögen ihnen zufallen werde. Nichtsdestoweniger hielt es schwer, irgendwo Geld aufzutreiben, da die bloße Hoffnung auf den günstigen Ausgang des Rechtsstreites für Geldleiher eine zu unsichere Bürgschaft war, und so mußte man eben geduldig ausharren.

Aber Werssiloff suchte auch niemanden auf, obschon er zuweilen auf den ganzen Tag fortging. Er war schon seit länger als einem Jahr aus der Gesellschaft „ausgestoßen“. Die Vorgeschichte dieser Ausstoßung war mir trotz meiner größten Bemühungen in der Hauptsache leider völlig unaufgeklärt geblieben, obgleich ich damals schon einen ganzen Monat nach der Ursache geforscht hatte. War Werssiloff schuldig oder unschuldig – das allein wollte ich wissen, und deshalb war ich nach Petersburg gekommen! Alle hatten sich von ihm abgewandt, unter anderen auch alle einflußreichen Aristokraten, mit denen zu verkehren und in Beziehung zu bleiben er eigentlich immer vorzüglich verstanden hatte. Und die Ursache dieser allgemeinen Abwendung war das Gerücht von seinem „feigen“ und, was in den Augen der „Gesellschaft“ noch weit schlimmer ist, „skandalösen“ Verhalten in einer Sache, die vor einem Jahre in Deutschland sich zugetragen haben sollte. Ja, man sprach sogar von einer Ohrfeige, die er eben damals nahezu öffentlich bekommen habe, und zwar von einem der Fürsten Ssokolski, und auf die er nicht mit einer Forderung geantwortet hatte. Sogar seine Kinder (die ehelichen), sein Sohn und seine Tochter, hatten sich daraufhin von ihm zurückgezogen und vermieden es, mit ihm in Berührung zu kommen, was ihnen ja nicht schwer fiel, da sie nicht bei ihm lebten. Beide waren sie durch die Fanariotoffs, ihre Verwandten mütterlicherseits, und den alten Fürsten Ssokolski, Werssiloffs ehemaligen Freund, in den höchsten Kreisen zu Hause. Übrigens konnte ich in Werssiloff, nachdem ich ihn doch schon einen ganzen Monat beobachtet hatte, nichts anderes sehen als einen unglaublich hochmütigen Menschen, der nicht etwa von der Gesellschaft ausgestoßen worden war, sondern der vielmehr selbst die Gesellschaft hinausgeworfen hatte – so unbeirrt und überlegen war sein ganzes Verhalten. Aber, fragt es sich, hatte er auch das Recht zu diesem Verhalten? – das war es, was mich quälte. Ich mußte unbedingt die ganze Wahrheit in kürzester Zeit erfahren; denn ich war gekommen, – um diesen Menschen zu richten. Noch verbarg ich meine Macht vor ihm, aber lange durfte das nicht mehr währen; denn ich wollte wissen, wofür ich mich zu entscheiden hatte: ihn anzuerkennen oder mich für immer von ihm loszusagen. Letzteres wäre mir zu schwer gewesen, und ich litt darunter ... Ich will endlich ein volles Geständnis ablegen: dieser Mensch war mir teuer!

Inzwischen lebte ich bei ihnen in ihrer Wohnung, arbeitete und tat mir Zwang an, um ihnen keine Grobheiten zu sagen. Oder richtiger: sehr oft bezwang ich mich nicht. Ich lebte schon einen Monat bei ihnen und kam mit jedem Tage mehr zu der peinlichen Überzeugung, daß ich es entschieden um keinen Preis fertig brächte, mich mit einer direkten Frage nach dem tatsächlichen Sachverhalt an ihn selbst zu wenden. Dieser stolze Mensch stand förmlich wie ein leibhaftiges Rätsel vor mir, und noch dazu wie eines, das mich aufs tiefste gekränkt hatte und täglich von neuem kränkte. Er war ja sogar sehr nett zu mir, scherzte und unterhielt sich ganz unbefangen, mir aber wäre Streit und Widerspruch lieber gewesen als diese scherzhafte Behandlung seinerseits. Alle meine Gespräche mit ihm hatten stets etwas Zweideutiges, d. h. es lag in seinem Ton immer ein leiser, seltsamer Unterton wie von ganz feinem Spott. Er hatte mich von Anfang an, kaum daß ich aus Moskau eingetroffen war, gewissermaßen nicht ernst genommen. Warum aber und wozu er mich das überhaupt merken ließ, konnte ich mir nicht erklären. Allerdings erreichte er damit, daß er für mich ein Rätsel blieb und ich ihn nicht zu durchschauen vermochte; nur wollte ich mich deshalb noch längst nicht so weit erniedrigen, ihn zu bitten, in ernstem Tone mit mir zu reden. Überdies lag auch etwas geradezu wunderbar Unwiderstehliches in seiner ganzen Art und Weise, ein Etwas, womit ich nichts anzufangen wußte, d. h. wie ich mich dem gegenüber verhalten sollte. Kurz, er ging mit mir um wie mit dem grünsten Jüngling, was ich bald kaum noch zu ertragen vermochte, obschon ich im voraus gewußt hatte, daß es so und nicht anders sein würde. Infolgedessen hörte auch ich auf, ernst mit ihm zu sprechen; ich wollte abwarten, wie lange das noch so weitergehen und was dann kommen werde. Ja, eigentlich hörte ich sogar ganz auf zu sprechen. Ich erwartete jemand, und erst nach dessen Eintreffen in Petersburg konnte ich die Wahrheit zu erfahren hoffen. Jedenfalls bereitete ich mich schon auf den endgültigen Bruch mit ihnen vor und richtete mich bereits danach ein. Meine Mutter tat mir leid; aber ... „entweder er oder ich“ – das war es, was ich ihr und meiner Schwester als Letztes vorschlagen wollte. Sogar den Tag, an dem dies geschehen sollte, hatte ich schon im voraus bestimmt. Vorläufig aber versah ich meine Obliegenheiten in jener privaten Anstellung, die man mir verschafft hatte.

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