Ich habe nun die Auseinandersetzung meiner „Idee“ beendet. Wenn ich sie oberflächlich, unverständlich ausgedrückt habe, so bin ich daran schuld und nicht die Idee. Ich habe schon gesagt, daß die einfachsten Ideen am schwersten zu verstehen sind; jetzt kann ich noch hinzufügen, daß sie auch am schwersten zu erklären sind, und bei der vorliegenden war dies um so mehr der Fall, als ich meine „Idee“ in ihrer früheren Gestalt zu erklären hatte. Aber auch für Ideen ist die Regel von den umgekehrten Gesetzen zutreffend: niedrige, billige Ideen werden ungewöhnlich schnell begriffen, und unbedingt von der ganzen Masse, von der Straße sozusagen; und nicht nur das: man hält sie sofort für die größten und genialsten, jedoch – nur am Tage ihres Bekanntwerdens. Das Billige ist nicht dauerhaft. Schnelles Begriffenwerden ist nur das Anzeichen der Trivialität des zu Begreifenden. Die Idee Bismarcks ist in einem Augenblick genial geworden, und Bismarck selbst zum Genie; aber gerade diese Schnelligkeit ist verdächtig: warten wir ab, was in zehn Jahren von seiner Idee übrig sein wird und vielleicht auch vom Herrn Kanzler selbst. Diese im höchsten Grade nicht zur Sache gehörende Bemerkung habe ich natürlich nicht zum Vergleich eingeflochten, sondern gleichfalls nur zur Erinnerung für mich. (Dies zur Erklärung für einen schon gar zu naiven Leser.)
Jetzt aber will ich noch zwei kleine Erlebnisse erzählen, um damit endgültig mit meiner „Idee“ abzuschließen, und zwar so, daß ich später nichts mehr hinzuzufügen noch zu erklären habe, was mich in der Erzählung nur aufhalten würde.
Einmal im Sommer, es war im Juli, zwei Monate vor meiner Abreise nach Petersburg, als ich schon ganz frei geworden war, bat mich Marja Iwanowna, nach dem „Troïtzki Possad“ zu einem alten dort wohnenden Fräulein hinauszufahren und einen Auftrag auszurichten – etwas ganz Nebensächliches, was der Erwähnung nicht wert ist. Auf der Rückfahrt, noch an demselben Tage, bemerkte ich im Waggon einen widerlich häßlichen jungen Mann, der nicht schlecht, aber unsauber gekleidet war, ein finniges Gesicht hatte und die schmutzig braune Hautfarbe, die manchen Brünetten eigen ist. Er zeichnete sich dadurch aus, daß er auf jeder Station und Haltestelle ausstieg und Schnaps trank. Als die Reise sich ihrem Ende näherte, hatte sich um ihn ein vergnügter Kreis gebildet, übrigens eine recht lumpige Gesellschaft. Besonders entzückt war ein schon etwas betrunkener Kaufmann von dieser Fähigkeit des jungen Menschen, ununterbrochen zu trinken und dennoch nüchtern zu bleiben. Und sehr zufrieden schien damit auch ein junger Bursche zu sein, der furchtbar dumm und furchtbar viel sprach, nach deutscher Art gekleidet war und einen sehr schlechten Geruch verbreitete, – ein Kellner, wie ich später erfuhr. Dieser Kellner hatte sich mit dem brünetten jungen Mann alsbald angefreundet, und jedesmal, wenn der Zug hielt, bewog er ihn zum Aufstehen, indem er sagte: „Es ist Zeit für’n Schnäpschen!“ – und dann stiegen sie beide, eng umschlungen, aus. Der junge Mann, der soviel Alkohol schadlos zu sich nehmen konnte, sprach im allgemeinen kaum ein Wort, aber die Gesellschaft um ihn herum wurde immer lauter und zahlreicher; er hörte nur allen zu und verzog fortwährend seinen speichligen Mund zu einem Grinsen; von Zeit zu Zeit aber ließ er, und zwar immer ganz unerwartet, einen sonderbaren Laut hören, der ungefähr wie „Türlürlü!“ klang, und dazu legte er regelmäßig mit einer höchst karikaturhaft wirkenden Armbewegung den Zeigefinger an die Nase. Das machte dem Kaufmann und dem Kellner, wie auch der übrigen Gesellschaft, großen Spaß, und sie lachten äußerst laut und ungezwungen. Es ist unbegreiflich, über was alles die Menschen mitunter lachen können. Auch ich gesellte mich schließlich zu ihnen, und ich weiß nicht, warum dieser junge Mann auch mir gewissermaßen gefiel; vielleicht, weil er die allgemeingültigen, fast zu Gesetzen gewordenen Anstandsformen so unbekümmert außer acht ließ. Kurz, ich erkannte in ihm nicht den Esel, der er war; und wir begannen uns noch im Waggon zu duzen. Beim Aussteigen sagte er mir, er werde am Abend, gegen neun Uhr, auf den Twerskoi Boulevard kommen. Er war, wie sich herausstellte, ein ehemaliger Student. Ich kam auf den Boulevard, und er veranlaßte mich zur Teilnahme an folgendem Stückchen: Wir gingen beide über alle Boulevards, und sobald wir zu späterer Stunde ein alleingehendes Mädchen oder eine junge Frau entdeckten, eine von den anständigen, und in deren Nähe sich nicht viele andere Fußgänger befanden, so gesellten wir uns schnell zu ihr. Ohne sie anzureden, gingen wir neben ihr in gleichem Schritt weiter, er auf der einen, ich auf der anderen Seite, und begannen mit der ruhigsten Miene, als bemerkten wir sie überhaupt nicht, das allerunanständigste Gespräch. Wir nannten die Dinge mit ihren richtigen Namen, taten es mit dem gleichmütigsten Gesicht, als gehöre es sich so, und ergingen uns dann bei der Schilderung verschiedener Scheußlichkeiten und Schweinereien in solchen Finessen, wie sie die schmutzigste Phantasie selbst des schmutzigsten Wollüstlings sich nicht hätte ausdenken können. (Ich hatte natürlich alle diese Kenntnisse schon in den Schulen erworben, sogar schon vor dem Eintritt ins Gymnasium, aber doch nur die Worte, nicht die Sache selbst begriffen.) Das Mädchen erschrak entsetzlich und ging so schnell sie nur konnte, aber auch wir beschleunigten unseren Gang und – sprachen weiter. Unser Opfer konnte natürlich nichts tun, schreien hätte ihr wenig geholfen: sie hatte keine Zeugen, und überhaupt – es wäre doch peinlich gewesen. Dieses Vergnügen setzten wir acht Tage lang fort. Ich verstehe nicht, wie mir das hat gefallen können! Es gefiel mir ja auch gar nicht, aber ... anfangs erschien es mir originell, gleichsam aus den alltäglichen, zu Schablonen gewordenen Äußerungsformen heraustretend; und außerdem konnte ich die Weiber nicht ausstehen. Einmal erzählte ich dem Studenten, daß Jean Jacques Rousseau in seinen „Beichten“ gesteht, er habe als Jüngling mit Vorliebe gewisse, stets bedeckte Körperteile zu entblößen und heimlich hinter Ecken hervorzustecken geliebt, um dann auf vorübergehende Frauen zu warten. Als Antwort pfiff mir der Student wieder nur sein „Türlürlü!“ Ich merkte schon, daß er schrecklich unwissend war und sich für erstaunlich wenige Dinge interessierte. Es war in ihm auch keine Spur von einer verborgenen Idee, wie ich sie in ihm zu finden vermutet hatte. Anstatt der anfangs vermuteten Originalität, fand ich in ihm nur erdrückende Eintönigkeit. Ich mochte ihn nicht, und dieses Gefühl nahm immer noch zu. Schließlich endete alles ganz plötzlich und auf eine völlig unvorhergesehene Weise: wir hatten uns wieder einmal, als es schon ganz dunkel war, einem noch sehr jungen, vielleicht erst sechzehnjährigen Mädchen angeschlossen, das schnell und furchtsam über den Boulevard ging; sie war sehr sauber und bescheiden gekleidet, lebte wohl von ihrer Hände Arbeit und eilte nach Hause, vielleicht zu einer alten Mutter, einer armen, kinderreichen Witwe, – übrigens wozu die Möglichkeiten ausmalen! Das Mädchen ging mit gesenktem Kopf eilig zwischen uns weiter, so schnell sie nur konnte, und hielt krampfhaft den Schleier fest, als wolle sie sich mit ihm die Ohren zuhalten, und so eilte sie furchtsam und zitternd vor uns her, aber plötzlich blieb sie stehen, schlug den Schleier von ihrem, soweit ich mich erinnere, gar nicht häßlichen, aber mageren Gesichtchen zurück und fuhr uns empört mit blitzenden Augen an:
„Ach, wie gemein Sie sind!“
Vielleicht war sie nahe daran, in Tränen auszubrechen; aber es kam anders: sie holte aus und gab dem Studenten mit ihrer kleinen mageren Hand eine Ohrfeige, wie geschickter und gewandter vielleicht noch nie eine gegeben worden ist. Es klatschte nur so! Er wollte losschimpfen und sich auf sie stürzen, aber ich hielt ihn zurück, und das Mädchen konnte sich retten. Zwischen uns aber kam es sofort zum Streit: ich sagte ihm alles ins Gesicht, was sich an Wut in mir angesammelt hatte, sagte ihm, daß er nur ein erbärmlicher Wicht, die Unbegabtheit und Gewöhnlichkeit in Person sei und niemals auch nur den Schatten einer eigenen Idee gehabt habe. Und er beschimpfte wiederum mich ... (ich hatte ihm einmal etwas von meiner außerehelichen Geburt gesagt), dann spien wir aus, und seitdem habe ich ihn nie wieder gesehen. An jenem Abend war ich sehr ungehalten, am anderen Tage war ich es weniger, am dritten – hatte ich den ganzen Vorfall schon vergessen. Und sonderbar, wenn später auch dieses junge Mädchen zuweilen in meiner Erinnerung auftauchte, so geschah das doch immer nur zufällig und flüchtig. Erst nach meiner Ankunft in Petersburg, ungefähr in der dritten Woche, fiel mir auf einmal dieses ganze Erlebnis ein – es fiel mir ein, und ich schämte mich so entsetzlich, daß mir buchstäblich Tränen der Scham in die Augen traten und über die Wangen rollten. Ich quälte mich den ganzen Abend, die ganze Nacht, und auch jetzt noch quält es mich. Ich konnte lange nicht begreifen, wie es mir möglich gewesen war, damals so tief und schmachvoll zu sinken, und vor allem: diesen Fall zu vergessen, mich nicht seiner zu schämen, nicht Reue zu empfinden! Erst jetzt habe ich erraten, woran das lag: meine „Idee“ war schuld daran! Ich will mich kurz fassen und unmittelbar den Schluß ziehen: Hat man etwas Feststehendes, Starkes, was einen unausgesetzt und tief beschäftigt, so ist man dadurch gleichsam der ganzen äußeren Welt entrückt, man lebt bei sich wie in einer Einsiedelei, und alle äußeren Geschehnisse gleiten an einem vorüber, fast ohne dieses innere Wesentliche auch nur zu streifen. So können sich oft Eindrücke fast ganz verflüchtigen, oder man empfindet sie falsch, jedenfalls nicht so, wie man es in normalem Zustande müßte. Und dabei hat man, was das schlimmste ist, immer gleich eine Ausrede zur Hand. Wie oft habe ich in dieser Zeit meine Mutter gequält, wie schändlich meine Schwester sich selbst überlassen. „Ach, ich habe ja meine ‚Idee‘, alles andere ist Nebensache“ – so ungefähr könnte ich das in Worten ausdrücken, womit ich mich gefühlsmäßig über alles hinwegsetzte. Man beleidigte mich, und sogar empfindlich, und ich ging beleidigt davon und sagte mir dann nur: „Nun ja, ich bin niedrig, aber ich habe immerhin meine ‚Idee‘, und davon wissen meine Beleidiger nichts.“ Die „Idee“ tröstete mich in der Erniedrigung und Schande; aber auch alle meine Gemeinheiten versteckten sich gleichsam hinter der Idee; sie machte mir alles gewissermaßen leichter; aber sie hüllte auch alles um mich herum wie in einen Nebel. Doch eine so unklare Auffassung der Ereignisse und Dinge kann natürlich auch der Idee selbst schaden, ganz abgesehen von allem anderen.
Und jetzt will ich noch das zweite Erlebnis erzählen.
Es war im letzten Frühling in Moskau. Marja Iwanowna feierte am ersten April wie gewöhnlich ihren Namenstag. Zum Abend waren Gäste eingeladen, jedoch nur wenige. Da kommt plötzlich Agrafena atemlos ins Zimmer gestürzt und sagt, im Flur vor der Küche schreie ein kleines ausgesetztes Kind, sie wisse nicht, was sie tun solle. Diese Nachricht regte alle auf, alle erhoben sich, gingen hinaus und sahen tatsächlich in einem Korb aus Birkenrinde ein drei oder vier Wochen altes kleines quiekendes Mädchen liegen. Ich nahm den Korb und trug ihn in die Küche, wo ich sogleich einen am Korb befestigten zusammengefalteten Zettel bemerkte. Auf diesem Papier stand geschrieben: „Liebe Wohltäter, erweist wohlwollende Hilfe dem armen Arina getauften Mädchen, und wir werden mit ihr zusammen zeitlebens unsere Tränen zum Throne des Höchsten emporsenden, wünschen Euch auch Glück zum Namensfeste. Euch unbekannte Menschen.“ Da geschah es denn, daß der von mir so sehr geachtete Nikolai Ssemjonowitsch mich zum erstenmal enttäuschte und betrübte: er machte ein sehr ernstes Gesicht und erklärte, das kleine Mädchen müsse sofort ins Findelhaus geschickt werden. Das machte mich ganz traurig. Sie lebten sehr sparsam, hatten aber keine Kinder, worüber Nikolai Ssemjonowitsch immer sehr froh war. Vorsichtig schob ich meine Hände unter die Ärmchen der kleinen Arina und hob sie aus dem Korb; aus den Decken kam ein säuerlicher und scharfer Geruch, wie er lange nicht gebadeten Säuglingen eigen ist. Ich stritt mich zunächst mit Nikolai Ssemjonowitsch wegen des Findelhauses und erklärte dann plötzlich, daß ich das Mädchen auf meine Kosten erziehen lassen würde. Er widersprach mir mit einer gewissen Strenge, trotz seiner sonstigen Weichherzigkeit, und obschon er mit einem Scherz den Streit beilegte, gab er seine Absicht in betreff des Findelhauses doch nicht auf. Es kam aber anders, und ich setzte meinen Willen durch; auf unserem Hof lebte in einem Nebengebäude ein armer Tischler, ein schon älterer Mann und großer Trunkenbold, dessen Frau, ein noch junges und sehr gesundes Weib, gerade ihren Säugling verloren hatte, ihr einziges Kindchen nach achtjähriger kinderloser Ehe. Dieses Kind war gleichfalls ein Mädchen gewesen und zum Glück zufällig auch Arina getauft worden. Ich sage „zum Glück“; denn als wir noch wegen des Findelhauses stritten, war diese Tischlersfrau, die von der Überraschung gehört hatte, nur aus Neugier herbeigelaufen, als sie aber hörte, die Kleine hieße Arina, da hatte sie Mitleid mit dem Kindchen. Die Milch war bei ihr noch nicht vergangen, und so entblößte sie die Brust und stillte das Kind. Ich machte mich nun gleich an sie heran und bat und beredete sie eindringlich, das Kind zu sich zu nehmen, und ich versprach, ihr monatlich dafür zu zahlen. Sie befürchtete, der Mann würde es ihr nicht erlauben, nahm aber das Kind doch für die Nacht zu sich. Am nächsten Morgen gab der Mann seine Einwilligung, vorausgesetzt, daß man acht Rubel monatlich zahlte, was ich denn auch unverzüglich tat, indem ich ihm acht Rubel für den ersten Monat einhändigte. Er vertrank das Geld ohne zu säumen. Nikolai Ssemjonowitsch, der zu meinem Vorhaben immer noch sonderbar lächelte, willigte ein, die Bürgschaft dafür zu übernehmen, daß die acht Rubel in jedem Monat von mir gezahlt werden würden. Ich wollte nun Nikolai Ssemjonowitsch meine sechzig Rubel einhändigen, damit er eine Sicherheit habe, aber er nahm sie nicht. Übrigens wußte er, daß ich Geld besaß, und vertraute mir. Durch dieses taktvolle Verhalten seinerseits war denn auch unser kurzer Streit beigelegt. Marja Iwanowna sagte nichts, aber sie wunderte sich, daß ich eine solche Sorge auf mich nahm. Ich habe das Zartgefühl dieser Menschen immer ganz besonders geschätzt; in diesem Fall erlaubten sie sich nicht den geringsten Scherz über mich, sondern faßten die ganze Sache genau so ernst auf, wie sie war. Ich lief jeden Tag zu Darja Rodiwonowna, sogar dreimal täglich, und nach einer Woche schenkte ich ihr persönlich und heimlich, damit ihr Mann es nicht erführe, noch drei Rubel. Für weitere drei Rubel kaufte ich ein Deckchen und Windeln. Aber am zehnten Tage erkrankte die kleine Rina. Ich holte sofort den Arzt, er verschrieb etwas, und wir blieben die ganze Nacht bei dem Kinde und quälten das arme Dingelchen mit seiner abscheulichen Medizin, aber schon am Morgen sagte er, es sei hoffnungslos, und auf meine Bitten – übrigens waren es, glaube ich, Vorwürfe – erwiderte er nur mit edler Friedfertigkeit: „Ich bin kein Gott.“ Die Zunge, die Lippen, der ganze Mund des kleinen Mädchens waren wie mit einem leichten weißen Ausschlag bedeckt, und am Abend starb die Kleine, die großen schwarzen Augen auf mich gerichtet, als könne sie schon alles verstehen. Ich begreife nicht, wie es mir nicht in den Sinn gekommen ist, die kleine Tote photographieren zu lassen! Und wird man es glauben, ich habe an diesem Abend nicht nur geweint, sondern einfach geheult, was ich mir früher niemals erlaubt hatte. Marja Iwanowna war noch genötigt, mich zu trösten, und das geschah alles wieder ohne den geringsten Spott. Der Tischler fertigte eigenhändig den kleinen Sarg an, Marja Iwanowna schmückte ihn mit Rüschen und legte ein hübsches kleines Kissen hinein, und ich kaufte Blumen, die ich über das Kindchen streute, und so trug man meine arme kleine Blume fort, die ich, wird man es glauben, bis zum heutigen Tage nicht vergessen kann. Bald darauf aber veranlaßte mich dieser ganze unvorhergesehene Zwischenfall zu recht ernsthaftem Nachdenken. Freilich, Rinotschka war mir nicht sehr teuer zu stehen gekommen: alles zusammen – auch der Sarg und die Beerdigung, der Arzt und die Blumen und die Zahlung an Darja Rodiwonowna – machte dreißig Rubel aus. Dieses Geld holte ich bei der Abreise durch Ersparungen von den vierzig Rubeln, die Werssiloff mir zur Reise geschickt hatte, und durch den Verkauf einiger alter Sachen vor der Abreise wieder ein, so daß mein „Kapital“ auf derselben Höhe blieb. „Aber,“ sagte ich mir, „wenn ich mich oft so ablenken lasse, dann werde ich nicht weit kommen.“ Aus der Geschichte mit dem Studenten ging hervor, daß eine „Idee“ von einem so weit Besitz ergreifen kann, daß man sich über äußere Eindrücke gar nicht mehr klar wird oder sogar die ganze tägliche Wirklichkeit unbemerkt an einem vorüberzieht; und aus der Geschichte mit Rinotschka ging das Gegenteil hervor: daß keine „Idee“ von einem (oder wenigstens von mir) so weit Besitz zu ergreifen vermag, daß sie mich davon abhalten könnte, plötzlich vor irgendeiner erschütternden Tatsache stehenzubleiben und auf einmal alles das zu opfern, was ich schon in jahrelanger Arbeit für die „Idee“ getan hatte. Zwei entgegengesetzte Folgerungen, und nichtsdestoweniger waren sie beide richtig.