Ich eilte nach Hause und – sonderbar – ich war sehr zufrieden mit mir. Natürlich spricht man nicht so mit Frauen, und noch dazu mit solchen Frauen, oder nein: mit einer solchen Frau; denn Tatjana Pawlowna zählte für mich nicht mit. Vielleicht darf man einer Frau von dieser Art niemals ins Gesicht sagen, daß man auf ihre Intrigen einfach pfeift, ich aber hatte es gesagt und war gerade damit sehr zufrieden. Abgesehen von allem anderen, war ich wenigstens überzeugt, daß ich mit diesem Ton alles Lächerliche, das in meiner Situation lag, ausgelöscht hatte. Aber ich hatte keine Zeit, mich lange bei diesen Gedanken aufzuhalten: Krafft beschäftigte mich mehr als alles andere. Nicht, daß der Gedanke an ihn mich so furchtbar gequält hätte, aber immerhin war ich aufs tiefste erschüttert, war es sogar in solchem Maße, daß selbst die allgemein menschliche Empfindung einer gewissen Genugtuung bei fremdem Unglück – ich meine, wenn jemand sich ein Bein bricht oder seine Ehre einbüßt oder ein geliebtes Wesen verliert oder etwas Ähnliches ihm widerfährt –, daß sogar diese Empfindung einer niedrigen Genugtuung einer ganz anderen und vollständig ungeteilten Empfindung Platz gemacht hatte, und zwar dem Leid: einem Bedauern des Toten. Das heißt, ob es gerade ein Bedauern war, das weiß ich nicht, aber jedenfalls war es ein überaus starkes und gutes Gefühl. Und damit war ich gleichfalls zufrieden. Es ist erstaunlich, wie viele nebensächliche Gedanken in einem auftauchen können, gerade wenn man durch irgendeine furchtbare Nachricht ganz erschüttert ist, die, wie man eigentlich meinen sollte, alle anderen Gefühle ersticken und alle nebensächlichen Gedanken verscheuchen müßte, besonders die kleinlichen – aber gerade diese sind dann die zudringlichsten. Ich erinnere mich noch, wie allmählich ein ziemlich fühlbares nervöses Zittern meinen Körper ergriff und mehrere Minuten andauerte und sich sogar in der ganzen Zeit fortsetzte, während der ich zu Hause war und die Sache mit Werssiloff erledigte.
Diese Erledigung fand unter seltsamen und außergewöhnlichen Umständen statt. Ich habe bereits erwähnt, daß wir in einem besonderen Hause auf dem Hof wohnten, und unsere Wohnung trug die Nummer dreizehn. Noch bevor ich auf den Hof trat, hörte ich in der Nähe eine weibliche Stimme laut, ungeduldig und gereizt fragen: „Wo ist hier die Wohnung Nummer dreizehn?“ Ich bemerkte eine Frauengestalt, die die Tür eines kleinen Ladens gleich neben der Pforte geöffnet hatte; aber man schien ihr nichts zu antworten, oder vielleicht sagte man ihr sogar eine Ungezogenheit, und sie stieg empört und böse die kleine Ladentreppe wieder herunter. „Wo ist denn hier der Hausknecht?“ rief sie erregt und stampfte vor Ungeduld mit dem Fuß auf. Ich hatte diese Stimme sofort wiedererkannt.
„Ich gehe in die Wohnung Nummer dreizehn,“ sagte ich, auf sie zutretend, „wen suchen Sie?“
„Ich suche hier schon eine ganze Stunde den Hausknecht, ich habe alle gefragt, bin alle Treppen hinaufgestiegen.“
„Die Wohnung ist auf dem Hof. Erkennen Sie mich nicht wieder?“
Sie hatte mich schon erkannt.
„Sie suchen Werssiloff, Sie haben mit ihm abzurechnen, und ich auch,“ fuhr ich fort. „Ich bin gekommen, um für immer Abschied zu nehmen. Gehen wir.“
„Sie sind sein Sohn?“
„Das hat damit nichts zu tun. Übrigens, allerdings, ich bin sein Sohn, obgleich ich Dolgoruki heiße, ich bin ein Unehelicher. Dieser Herr hat eine Menge unehelicher Kinder. Wenn Gewissen und Ehre es verlangen, verläßt selbst der leibliche Sohn das Elternhaus. Das steht schon in der Bibel. Außerdem ist ihm jetzt eine Erbschaft zugefallen, ich will sie aber nicht mit ihm teilen, und so gehe ich, um von meiner Hände Arbeit zu leben. Wenn es nötig ist, opfert ein hochherziger Mensch sogar sein Leben. Krafft hat sich erschossen, Krafft! – und einzig um einer Idee willen! Können Sie sich das vorstellen, er war noch ein junger Mann und berechtigte zu großen Hoffnungen ... Hier, bitte hier! Wir wohnen in einem besonderen Haus. Schon die Bibel spricht davon, daß die Kinder ihre Väter verlassen und ihr eigenes Nest begründen ... Wenn die Idee einen treibt ... wenn man eine Idee hat! Die Idee ist die Hauptsache, die Idee ist alles ...“
So und ähnlich sprach ich die ganze Zeit zu ihr, während wir zu unserer Wohnung schritten. Der Leser wird wohl bemerken, daß ich mich nicht gerade schone, und wo es nötig ist, mich selbst an den Pranger stelle: ich will lernen, die Wahrheit zu sagen. Werssiloff war zu Hause. Ich trat ein, ohne den Mantel abzulegen; sie gleichfalls. Sie war furchtbar ärmlich gekleidet: über einem dunklen Kleidchen hing irgendein Zeugstück, das einen Kragen oder eine Mantille vorstellen sollte, und auf dem Kopf hatte sie ein altes, abgenutztes Matrosenhütchen, das ihr sehr schlecht zu Gesicht stand. Als wir eintraten, saß meine Mutter mit einer Handarbeit auf ihrem gewohnten Platz, und meine Schwester trat aus ihrem Zimmer, um zu sehen, wer da käme, und blieb in der Tür stehen. Werssiloff tat wie gewöhnlich nichts; als wir eintraten, erhob er sich und sah mich mit einem strengen, fragenden Blick an.
„Ich habe hiermit nichts zu schaffen,“ beeilte ich mich zu versichern und stellte mich abseits am Fenster auf. „Ich traf diese Dame soeben unten an der Hofpforte; sie suchte Sie, und niemand konnte ihr den Weg hierher zeigen. Ich aber bin jetzt in einer eigenen Angelegenheit gekommen, die zu erklären ich nach der Dame das Vergnügen haben werde ...“
Werssiloff fuhr aber trotzdem fort, mich neugierig anzusehen.
„Erlauben Sie,“ begann das junge Mädchen ungeduldig.
Werssiloff wandte sich ihr zu.
„Ich habe lange darüber nachgedacht, aus welchem Grunde es Ihnen eingefallen sein könnte, dieses Geld gestern bei mir zu lassen ... Ich ... mit einem Wort ... Da, nehmen Sie Ihr Geld!“ rief sie wieder empört, außer sich, wie ich sie schon schreien gehört hatte, und sie schleuderte das Päckchen Banknoten auf den Tisch. „Ich habe Ihre Wohnung im Adreßbureau aufsuchen müssen, sonst hätte ich es Ihnen früher zurückgebracht. Hören Sie, Sie!“ wandte sie sich plötzlich an meine Mutter, die auf einmal erbleichte; „ich will Sie nicht kränken, Sie sehen ehrlich aus, und vielleicht ist das sogar Ihre Tochter. Ich weiß nicht, ob Sie seine Frau sind oder wer sonst, aber Sie sollen es erfahren, daß dieser Herr Zeitungsanzeigen ausschneidet, solche, in denen Gouvernanten und Lehrerinnen für ihr letztes Geld Stunden suchen, und dann geht er zu diesen Unglücklichen und sucht sie ehrlos zu machen, indem er sie mit Geld ins Unglück zieht. Ich verstehe nicht, wie ich gestern das Geld von ihm annehmen konnte, – er sah so ehrlich aus! ... Schweigen Sie, kein Wort! Sie sind ein Lump, mein Herr! Und selbst wenn Sie mit ehrlicher Absicht gekommen sein sollten, so will ich doch Ihr Almosen nicht. Kein Wort! Schweigen Sie! Oh, wie mich das freut, daß ich Sie jetzt vor Ihren Frauen habe entlarven können! Seien Sie verflucht!“
Sie lief schnell hinaus, nur auf der Schwelle blieb sie noch eine Sekunde lang stehen und rief noch höhnisch zurück: „Sie sollen ja, sagt man, eine Erbschaft gemacht haben!“ Und sie verschwand wie ein Schatten. Ich erinnere nochmals daran: sie war außer sich, sie glich einer Rasenden. Werssiloff war tief bestürzt: er stand wie in Gedanken versunken und als überlege er: auf einmal wandte er sich hastig zu mir.
„Du kennst sie überhaupt nicht?“
„Ich habe vorhin zufällig gesehen und gehört, wie sie auf dem Korridor bei Wassin außer sich geriet, schrie und Sie verfluchte; gesprochen aber habe ich dort nicht mit ihr und weiß auch sonst nichts, und jetzt traf ich sie hier unten vor der Hofpforte. Das wird wohl dieselbe Lehrerin sein, von der Sie gestern sprachen, die Unterricht ‚auch in der Arithmetik‘ erteilt?“
„Ja, dieselbe. Einmal im Leben wollte ich etwas Gutes tun, und ... Doch übrigens, was hast du?“
„Hier, diesen Brief,“ erwiderte ich kurz. „Eine Erklärung halte ich für überflüssig: er kommt von Krafft, der ihn vom verstorbenen Andronikoff erhalten hat. Aus dem Inhalt werden Sie alles ersehen. Ich füge nur hinzu, daß jetzt kein Mensch auf der ganzen Welt von diesem Brief etwas weiß, außer mir; denn Krafft, der mir diesen Brief gestern übergab, hat sich gleich nach meinem Fortgehen erschossen.“
Während ich das atemlos und eilig sagte, nahm er den Brief, hielt ihn unschlüssig in der linken Hand und beobachtete mich aufmerksam. Als ich den Selbstmord Kraffts erwähnte, sah ich ihn scharf an, um zu sehen, welchen Eindruck diese Nachricht auf ihn machte. Und was sah ich? – sie machte überhaupt keinen Eindruck auf ihn: nicht einmal seine Augenbrauen zuckten! Als er bemerkte, daß ich innehielt, zog er seine Lorgnette hervor, die ihn nie verließ und an einem schwarzen Bande hing, hielt den Brief näher zum Licht, sah nach der Unterschrift und begann ihn aufmerksam zu lesen. Ich kann gar nicht sagen, wie sehr diese hochmütige Gefühllosigkeit mich verletzte. Er mußte Krafft sehr gut gekannt haben, und es war doch wirklich keine so gewöhnliche Nachricht! Und schließlich war es nur natürlich, daß ich mit ihr gern einen großen Eindruck gemacht hätte. Ich wartete vielleicht noch eine halbe Minute, aber da der Brief, wie ich wußte, lang war, wandte ich mich um und ging hinaus. Mein Koffer war schon längst gepackt, es blieben mir nur noch ein paar Sachen zu einem Bündel zusammenzuschnüren. Ich dachte an meine Mutter, und daß ich nun so fortgegangen war, ohne an sie auch nur heranzutreten. Nach zehn Minuten, als ich schon ganz fertig war und gerade fortgehen wollte, um mir eine Droschke zu holen, trat meine Schwester in mein Zimmer.
„Hier, Mama schickt dir deine sechzig Rubel und läßt dich nochmals bitten, ihr zu verzeihen, daß sie Andrei Petrowitsch davon gesagt hat. Und dann noch zwanzig Rubel. Du hast gestern fünfzig Rubel für deinen Unterhalt gegeben; aber Mama sagt, mehr als dreißig könne man von dir auf keinen Fall nehmen; denn mehr ist für dich nicht ausgegeben worden, und den Rest von zwanzig Rubeln schickt sie dir zurück.“
„Nun gut, und besten Dank, wenn es sich wirklich so verhält. Leb wohl, Lisa, ich fahre jetzt!“
„Wohin fährst du jetzt?“
„Vorläufig in eine Herberge, nur um nicht in diesem Hause zu übernachten. Sage Mama, daß ich sie liebe.“
„Sie weiß es. Und sie weiß, daß du auch Andrei Petrowitsch liebst. Schämst du dich nicht, daß du diese Unglückliche hergeführt hast!“
„Ich schwöre dir, ich habe sie nicht hergeführt, – ich traf sie hier vor der Hofpforte!“
„Nein, du hast sie hergeführt.“
„Ich versichere dir ...“
„Denke nach, frage dich ehrlich, und du wirst einsehen, daß du sie dazu veranlaßt hast.“
„Ich war nur sehr froh, daß Werssiloff beschämt wurde. Stell dir vor, er hat von Lydia Achmakoff ein Kind, einen Säugling ... übrigens, wozu sage ich dir das.“
„Er? Ein kleines Kind? Aber das ist doch nicht sein Kind! Wo hast du diese Unwahrheit gehört?“
„Ach, was weißt du davon.“
„Ich soll nichts davon wissen? Aber ich habe doch in Luga dieses Kind selbst gepflegt! Höre, Bruder: ich sehe schon längst, daß du überhaupt noch nichts weißt, und dabei beleidigst du Andrei Petrowitsch, und ... Mama gleichfalls.“
„Wenn er recht hat, so bin ich im Unrecht, und das wäre alles, euch aber liebe ich deshalb nicht weniger. Warum bist du so rot geworden, Schwester? So, und jetzt wirst du noch röter! Nun gut, aber trotzdem werde ich diesen Fürstenbengel für die Ohrfeige, die er Werssiloff in Ems gegeben hat, zum Duell fordern. Und wenn Werssiloff in der Geschichte mit der Achmakoff untadelig war, dann erst recht.“
„Bruder, besinne dich, was fällt dir ein!“
„Gut, daß der Prozeß jetzt beendet ist ... Da sieh, jetzt bist du auf einmal ganz bleich geworden.“
„Ach, aber der Fürst wird sich ja mit dir gar nicht duellieren,“ sagte Lisa, noch im Schreck mit einem bleichen Lächeln.
„Dann werde ich ihn öffentlich beleidigen! ... Was hast du nur, Lisa?“
Sie war so erbleicht, daß sie nicht mehr stehen konnte und auf den Diwan sank.
„Lisa!“ hörten wir unten die Mutter rufen.
Sie nahm sich zusammen und erhob sich; sie lächelte mir freundlich zu.
„Bruder, laß diese Dummheiten, oder warte so lange, bis du manches erfahren hast; du weißt noch so schrecklich wenig.“
„Ich werde es nicht vergessen, Lisa, daß du erbleicht bist, als du hörtest, daß ich mich duellieren werde.“
„Ja, ja, vergiß auch das nicht!“ rief sie lächelnd mir noch einmal zum Abschied zu und verließ mich.
Ich holte mir eine Droschke und schaffte mit Hilfe des Kutschers meine Sachen aus der Wohnung. Niemand zeigte sich oder hielt mich zurück. Ich ging nicht zum Abschied zu meiner Mutter, um nicht Werssiloff zu begegnen. Als ich schon in der Droschke saß, kam mir auf einmal ein Gedanke:
„Zur Ssemjonoffbrücke, an die Fontanka,“ befahl ich dem Kutscher und fuhr wieder zu Wassin.