II.

Es war mir plötzlich eingefallen, daß Wassin von Kraffts Selbstmord doch bestimmt schon unterrichtet sein mußte und vielleicht sogar hundertmal mehr erfahren hatte als ich; und so war es auch. Wassin erklärte sich sogleich bereit, mir alles Nähere mitzuteilen, was er denn auch tat, übrigens ohne große Erregung. Ich schloß daraus, daß er wohl sehr abgespannt wäre, und so verhielt es sich, wie sich herausstellte, tatsächlich. Schon früh am Morgen hatte man ihn benachrichtigt, und er war dann selbst hingegangen. Krafft hatte sich mit dem Revolver erschossen (mit demselben, den ich früher schon erwähnt habe), gegen Abend, als es schon dunkelte, was aus seinen Aufzeichnungen hervorging. Den letzten Satz hat er kurz vor dem Schuß geschrieben: er bemerkt, daß er fast in vollkommener Dunkelheit schreibe und das Geschriebene selbst kaum sehen könne; die Kerze aber wolle er nicht anzünden, weil sonst nachher leicht ein Brand entstehen könne. „Und sie jetzt noch anzünden, um sie vor dem Schuß wieder auszulöschen, ganz wie mein Leben, das will ich nicht“ – hatte er fast auf der letzten Zeile noch seltsam hinzugefügt. Diese Aufzeichnungen vor dem Tode waren von ihm einen Tag vorher angefangen worden, gleich nach seiner Rückkehr nach Petersburg und noch vor seinem Besuch bei Dergatschoff; nachdem ich von ihm fortgegangen war, hatte er in jeder Viertelstunde etwas geschrieben und die letzten drei oder vier Bemerkungen nach jeden fünf Minuten. Ich sprach meine Verwunderung darüber aus, daß Wassin von diesen Aufzeichnungen (man hatte sie ihm zu lesen gegeben) keine Abschrift gemacht hatte, was er doch um so mehr hätte tun können, als das Ganze, wie er mir sagte, nicht mehr als ein Bogen mit zumeist nur kurzen Bemerkungen gewesen war. „Wenn Sie doch wenigstens die letzte Seite abgeschrieben hätten!“ äußerte ich mit Bedauern. Wassin erwiderte darauf mit einem Lächeln, er habe es auch so behalten, und überdies wären die Bemerkungen ohne jedes System, wären einfach Bemerkungen über alles mögliche gewesen, was einem so in den Sinn kommt. Ich wollte ihm schon auseinandersetzen, daß gerade solche Gedanken in diesem Fall, also kurz vor dem Selbstmorde, wertvoll zu erfahren wären, unterließ es aber und bat ihn nur, mir wenigstens das zu sagen, was er vom Gelesenen behalten hatte, und er besann sich denn auch auf ein paar Aussprüche, wie zum Beispiel auf einen, den Krafft eine Stunde vor dem Schuß geschrieben hatte: daß „ihn fröstele“, daß er, „um sich zu erwärmen, einen Schluck Wein habe trinken wollen, aber der Gedanke, daß das einen größeren Bluterguß verursachen könnte, habe ihn davon abgehalten“. – „Und alles ungefähr von dieser Art,“ schloß Wassin seinen Bericht.

„Und das nennen Sie belanglos!“ rief ich aus.

„Wann hätte ich das so genannt? Ich habe nur keine Abschrift gemacht. Aber wenn es auch nicht belanglos ist, so ist dieses Tagebuch doch etwas ziemlich Alltägliches oder besser gesagt, etwas ganz Natürliches, nämlich so, wie es in diesem Fall anders nicht hätte sein können ...“

„Aber es sind doch die letzten Gedanken, die letzten Gedanken!“

„Die letzten Gedanken sind bisweilen ungeheuer nichtssagend. In genau so einem Tagebuch beklagt sich ein ähnlicher Selbstmörder darüber, daß in einer so bedeutungsvollen Stunde ihm auch nicht ein einziger ‚höherer Gedanke‘ komme, sondern lauter kleinliche und leere Gedanken ihn heimsuchten.“

„Und das, daß ihn fröstele, auch das soll ein leerer Gedanke sein?“

„Das heißt, meinen Sie buchstäblich das Frösteln und den Bluterguß? Es ist doch eine bekannte Tatsache, daß sehr viele von denen, die fähig sind, an ihren bevorstehenden Tod zu denken, gleichviel, ob es ein freiwilliger ist oder nicht, sehr häufig um das schöne Aussehen ihrer Leiche besorgt sind. So wird wohl auch Krafft bei dem Gedanken an einen reichlichen Bluterguß ein gewisses Unbehagen empfunden haben.“

„Ich weiß nicht, ob das eine bekannte Tatsache ist, ... und wie das überhaupt ist,“ stotterte ich, „aber ich wundere mich, daß Sie das so natürlich finden, und doch – wie lange ist es denn her, daß Krafft unter uns saß, mit uns sprach, sich ereiferte? Sollte er Ihnen denn wirklich nicht einmal leid tun?“

„Oh, selbstverständlich tut er mir leid, aber das ist doch etwas ganz anderes. Jedenfalls hat Krafft seinen Tod selbst als logische Folgerung hingestellt. Es erweist sich, daß alles, was gestern bei Dergatschoff über ihn gesagt wurde, sehr richtig war: er hat ein dickes Heft hinterlassen, und das ist voll von gelehrten Schlüssen darüber, daß die Russen – eine zweitrangige Menschenrasse seien, Schlüsse auf Grund der Phrenologie, der Kraniologie und sogar der Mathematik, und daß es sich folglich für einen Russen überhaupt nicht zu leben lohne. Vielleicht ist hierbei das am meisten Charakteristische, daß man daraus jeden beliebigen logischen Schluß ziehen kann; daß man sich aber infolge des Schlusses erschießt, das kommt natürlich nicht immer vor.“

„Wenigstens muß man seinem Charakter Anerkennung zollen.“

„Vielleicht, und dann nicht nur diesem,“ bemerkte Wassin ausweichend, so daß es mir nicht klar war, ob er damit eine Dummheit oder eine Schwäche der Vernunft meinte. Mich reizte das alles sehr.

„Sie haben gestern selbst von Gefühlen gesprochen, Wassin.“

„Ich verneine sie auch jetzt nicht; aber angesichts der vollbrachten Tat erscheint in ihr etwas so grob fehlerhaft, daß ein strenger Blick auf die Sache unwillkürlich selbst das Mitleid irgendwie verdrängt.“

„Wissen Sie was: ich habe es schon vorhin aus Ihren Augen erraten, daß Sie Krafft tadeln würden, und um diesen Tadel nicht zu hören, nahm ich mir vor, Sie nicht nach Ihrer Meinung zu fragen. Aber Sie haben sie von selbst ausgesprochen, und jetzt bin ich gegen meinen Willen gezwungen, Ihnen recht zu geben; aber dabei bin ich doch unzufrieden mit Ihnen! Es tut mir leid um Krafft.“

„Wir sind etwas weit abgekommen ...“

„Ja, allerdings,“ unterbrach ich ihn, „aber es bleibt uns doch wenigstens der eine Trost, den in solchen Fällen die am Leben gebliebenen Richter immer ruhig so für sich sagen können: ‚Da hat sich nun ein Mensch erschossen, der gewiß Mitleid und Nachsicht verdient, aber schließlich sind wir doch am Leben geblieben, und folglich ist zu großer Trauer eigentlich kein Grund vorhanden.‘“

„Ja, versteht sich, wenn man von diesem Standpunkt aus ... Ach so, Sie haben das, glaube ich, nur aus Ironie gesagt! Aber es ist sehr richtig. Ich trinke um diese Zeit immer meinen Tee und werde ihn gleich bestellen, – Sie werden mir doch wohl Gesellschaft leisten.“

Er ging hinaus, und im Vorübergehen maß er mit den Augen meinen Koffer und mein Bündel.

Ich hatte allerdings etwas recht Boshaftes sagen wollen, um Krafft zu rächen, und ich hatte es gesagt so gut ich es verstand; merkwürdig war aber, daß er meinen Ausspruch, daß solche Menschen wie wir doch am Leben geblieben sind, im ersten Augenblick für Ernst genommen hatte. Aber wie dem auch sein mochte, immerhin hatte er in allem mehr recht als ich, sogar was die Gefühle betraf. Ich gestand mir das ohne jedes Mißvergnügen ein, fühlte aber sehr deutlich, daß ich ihn nicht liebte.

Als man den Tee gebracht hatte, sagte ich ihm, daß ich ihn für diese eine Nacht um seine Gastfreundschaft bäte, aber wenn es nicht ginge, daß ich hier übernachtete, so sollte er es mir unumwunden sagen, dann würde ich eben in eine Herberge gehen. Darauf setzte ich ihm in aller Kürze meine Gründe auseinander und sagte ihm geradezu und einfach, daß ich mich mit Werssiloff endgültig überworfen hätte; die Einzelheiten überging ich. Wassin hörte mich aufmerksam an, jedoch ohne sich im geringsten zu wundern oder aufzuregen. Überhaupt antwortete er nur auf meine Fragen, aber er tat es bereitwillig und ließ es auch an Ausführlichkeit nicht fehlen. Von dem Brief aber, mit dem ich am Vormittag zu ihm gekommen war, um ihn um Rat zu fragen, schwieg ich ganz und sagte nur, ich hätte ihm einen Besuch machen wollen. Da ich Werssiloff mein Wort gegeben hatte, daß jetzt außer mir niemand von diesem Brief etwas wüßte, glaubte ich nicht mehr das Recht zu haben, von diesem Brief jemandem, wem es auch sei, etwas zu sagen. Und aus irgendeinem Grunde widerstand es mir auf einmal sehr, Wassin von manchem Mitteilung zu machen. Von manchen Dingen, aber nicht von allen; so erzählte ich ihm von den Szenen auf dem Korridor und im Nebenzimmer bei seinen Nachbarinnen, und wie sich dann noch die letzte Szene in der Wohnung Werssiloffs abgespielt hatte, und es gelang mir, ihn zu interessieren: er hörte sehr aufmerksam zu, besonders als ich von Stebelkoff erzählte. Wie Stebelkoff mich über Dergatschoff hatte ausfragen wollen, mußte ich ihm zweimal erzählen, und er wurde sogar ganz nachdenklich; zum Schluß lachte er übrigens einmal kurz auf. In diesem Augenblick schien es mir plötzlich, daß Wassin durch nichts und niemand jemals in eine für ihn schwierige Situation gebracht werden könnte; und ich weiß noch, der erste Gedanke daran kam mir in einer für Wassin äußerst schmeichelhaften Form.

„Überhaupt konnte ich vieles von dem, was Herr Stebelkoff mir sagte, nicht ganz verstehen,“ schloß ich meinen Bericht, „er hat eine etwas irreführende Ausdrucksweise ... und es ist irgend so was Leichtsinniges in ihm ...“

Wassin machte sogleich ein ernstes Gesicht.

„Ihm fehlt allerdings die Gabe des Wortes, aber er hat schon über manches auf den ersten Blick sehr richtige Bemerkungen gemacht, und überhaupt sind Leute, wie er, mehr Männer der Tat, mehr Geschäftsleute, als Männer des abstrakten Denkens; unter diesem Gesichtswinkel muß man sie denn auch betrachten und beurteilen ...“

Das sagte er genau so, wie ich es mir von ihm gedacht hatte.

„Er hat übrigens bei Ihren Nachbarinnen arg geschürt, Gott weiß, womit es noch hätte enden können.“

Von diesen Nachbarinnen wußte Wassin mir nur zu berichten, daß sie erst seit etwa drei Wochen in diesem Zimmer wohnten und irgendwoher aus der Provinz gekommen waren; ihr Zimmer sei das kleinste und wie aus allem zu ersehen wäre, müßten sie sehr arm sein; jetzt säßen sie hier und warteten auf irgend etwas. Er wußte nicht, daß die Junge in den Zeitungen Beschäftigung als Lehrerin gesucht hatte, hatte aber von Werssiloffs Besuch bei ihnen schon gehört; Werssiloff war während seiner Abwesenheit dagewesen, aber die Wirtin hatte ihm davon erzählt. Die Nachbarinnen lebten, wie er sagte, geradezu ängstlich zurückgezogen und schienen sogar vor der Wirtin Angst zu haben. In den letzten Tagen war auch ihm schließlich aufgefallen, daß bei ihnen vielleicht nicht alles stimmte, aber zu solchen Szenen, wie ich sie an diesem Tage miterlebt hatte, war es in seiner Anwesenheit noch nie gekommen. Dieses Gespräch über die Nachbarinnen erwähne ich wegen des Folgenden. Im Nebenzimmer herrschte währenddessen Totenstille. Mit besonderem Interesse vernahm Wassin, daß Stebelkoff es für unbedingt notwendig gehalten hatte, mit der Wirtin wegen der Nachbarinnen zu sprechen, und daß er zweimal gesagt hatte: „Sie werden es schon sehen, denken Sie an meine Worte!“

„Und Sie werden auch wirklich sehen, daß ihm das nicht grundlos in den Kopf gekommen ist,“ sagte Wassin. „In solchen Sachen hat er einen erstaunlich scharfen Blick.“

„Ja, wie, muß man denn Ihrer Meinung nach der Wirtin raten, die Frauen aus dem Hause zu jagen?“

„Nein, ich meinte das nicht in dem Sinne, sondern man müsse achtgeben, daß bei ihnen nicht irgendeine Geschichte passiert ... Übrigens, alle solche Geschichten pflegen, ob nun so oder so, doch immer auf eine Weise zu enden ... Sprechen wir nicht davon.“

Was Werssiloffs Besuch bei den Nachbarinnen betraf, weigerte er sich mit aller Entschiedenheit, irgendein Urteil darüber auszusprechen.

„Alles ist möglich; der Mensch hat plötzlich Geld in der Tasche gefühlt ... Übrigens, es ist aber auch wahrscheinlich, daß er einfach Arme beschenkt hat; das – würde seiner Tradition entsprechen und dem, was man sich von ihm erzählt, und vielleicht auch seinen Neigungen.“

Ich erzählte, was Stebelkoff von einem „Säugling“ geschwätzt hatte.

„In diesem Fall irrt sich Stebelkoff ganz und gar,“ sagte Wassin, als ich zu Ende erzählt hatte, mit besonderem Ernst und Nachdruck (und das merkte ich mir). „Stebelkoff,“ fuhr er fort, „verläßt sich zuweilen gar zu sehr auf seine praktische gesunde Vernunft und macht deshalb seine Folgerung entsprechend seiner Logik, die oft allerdings recht scharfsinnig ist; indessen kann die Wirklichkeit ein viel phantastischeres und ungewöhnlicheres Kolorit haben, je nachdem von welcher Art die handelnden Personen sind. So ist es auch in diesem Fall: er kennt die Sache nur zum Teil und hat nun logisch den Schluß gezogen, daß es Werssiloffs Kind sei; und doch ist es nicht Werssiloffs Kind.“

Ich drang mit Bitten in ihn und erfuhr zu meiner großen Verwunderung: das Kind stammte vom Fürsten Ssergei Ssokolski. Lydia Achmakoff hatte manchmal, ob nun infolge ihrer Krankheit oder einfach aus phantastischer Charakteranlage, wie eine Wahnsinnige gehandelt. So hatte sie sich noch vor ihrer Schwärmerei für Werssiloff in den Fürsten verliebt, und der Fürst hatte „kein Bedenken getragen, ihre Liebe anzunehmen“, wie Wassin sich ausdrückte. Das Verhältnis dauerte nur allerkürzeste Zeit: es war zwischen ihnen sehr bald zum Zerwürfnis gekommen, und Lydia hatte den Fürsten von sich gestoßen, „worüber dieser, glaube ich, sehr froh war,“ sagte Wassin.

„Sie war ein sehr eigenartiges Mädchen,“ fuhr er fort, „und mitunter vielleicht nicht ganz zurechnungsfähig. Jedenfalls hatte der Fürst, als er nach Paris abreiste, keine Ahnung davon, in welchem Zustande er sein Opfer zurückließ, ja, er hat das sogar bis zum Schluß, bis zu seiner Rückkehr, nicht gewußt.“ – Werssiloff, der inzwischen der Freund der jungen Dame geworden war, hatte ihr nun die Heirat mit ihm angeboten, eben wegen des erwähnten Umstandes (von dem, wie es scheint, auch ihre Eltern fast bis zuletzt nichts geahnt haben). Das in ihn verliebte junge Mädchen war bezaubert durch ihn und sah in dem Antrag Werssiloffs, nach Wassins Äußerung, „nicht nur die Selbstaufopferung seinerseits“, die sie übrigens auch zu schätzen wußte. „Übrigens, natürlich, er wird schon verstanden haben, die Sache richtig zu machen,“ meinte Wassin. Das Kind (ein Mädchen) war einen Monat oder sechs Wochen zu früh zur Welt gekommen und irgendwo in Deutschland zum Aufziehen untergebracht worden; später aber hatte Werssiloff das Kind nach Rußland bringen lassen, und jetzt war es vielleicht sogar in Petersburg.

„Und die Phosphorstreichhölzer?“ fragte ich.

„Davon weiß ich nichts,“ schloß Wassin. „Lydia Achmakoff starb zwei Wochen nach der Geburt des Kindes: was da geschehen ist, weiß ich nicht. Der Fürst, der damals gerade aus Paris zurückgekehrt war, erfuhr nur, daß sie ein Kind zur Welt gebracht hatte, und da hat er, wie es scheint, zuerst nicht glauben wollen, daß es von ihm wäre ... Überhaupt wird diese Geschichte von allen Seiten so geheim gehalten, sogar jetzt noch.“

„Aber was ist das für ein Mensch, dieser Fürst!“ rief ich empört. „Was ist das für ein Verhalten zu einem kranken Mädchen!“

„Sie war damals noch nicht so krank ... Außerdem hat sie ihn ja selbst von sich gestoßen ... Allerdings hat er seinen Abschied vielleicht etwas zu bereitwillig angenommen.“

„Sie verteidigen noch einen solchen Schurken?“

„Nein, ich nenne ihn nur nicht einen Schurken. Hierbei ist noch vieles andere mit im Spiel, außer wirklicher Schurkerei. Überhaupt war das ein ziemlich alltäglicher Fall.“

„Sagen Sie, Wassin, Sie waren mit ihm doch gut bekannt? Ich würde mich gern auf Ihr Urteil verlassen, gerade jetzt und wegen eines Umstandes, der mich nicht wenig angeht.“

Aber hierauf antwortete mir Wassin merklich zurückhaltend. Den Fürsten kannte er, aber unter welchen Umständen er seine Bekanntschaft gemacht hatte – verschwieg er, und offenbar mit Absicht. Er meinte nur, der Fürst verdiene wegen seines Charakters eine gewisse Nachsicht. „Er hat viele gute Eigenschaften, und es ist in ihm ehrliches Wollen ... und er ist auch sehr eindrucksfähig, aber er hat weder genügend gesunde Vernunft, noch wirkliche Willenskraft, um seine Wünsche zu beherrschen. Eigentlich ist er ganz ungebildet; eine Menge von Ideen und Erscheinungen sind für ihn nicht faßbar, indessen sind es gerade diese, die ihn faszinieren. Und dann behauptet er, was er für seine Überzeugung hält, und wird Ihnen aufdringlich beweisen wollen, daß er recht habe, zum Beispiel so: ‚Ich bin ein Fürst und stamme von Rjurik ab; aber warum soll ich nicht Schustergeselle werden, wenn ich mir mein Brot verdienen muß und zu keinem anderen Erwerb fähig bin? Auf meinem Schild wird stehen: „Schuster Fürst Soundso“ – und es wird sogar vornehm sein.‘ Und er wird es nicht nur sagen, er geht hin und tut es auch wirklich, – das ist die Hauptsache,“ fügte Wassin hinzu. „Indessen handelt es sich hierbei nicht um Überzeugungskraft, sondern einzig um leichtsinnigste Eindrucksfähigkeit. Dafür stellt sich dann später unfehlbar die Reue ein, und dann verfällt er immer in irgendein entgegengesetztes Extrem; und darin besteht sein ganzes Leben. In unserer Zeit sind viele auf diese Art in Ungelegenheiten geraten,“ bemerkte Wassin, „eben dadurch, daß sie in unserer Zeit geboren sind.“

Ich wurde unwillkürlich nachdenklich.

„Ist es wahr, daß er von seinem Regiment gezwungen worden ist, den Dienst zu quittieren?“ erkundigte ich mich.

„Ich weiß nicht, inwieweit er dazu gezwungen worden ist, aber er hat das Regiment allerdings wegen Unannehmlichkeiten verlassen. Ist es Ihnen bekannt, daß er im vorigen Herbst, als er schon den Abschied erhalten hatte, zwei oder drei Monate in Luga verbracht hat?“

„Ich ... ich weiß, daß Sie damals in Luga waren.“

„Ja, eine Zeitlang auch ich. Der Fürst war auch mit Lisaweta Makarowna bekannt.“

„Ja? Das wußte ich nicht. Ich muß gestehen, ich habe mit meiner Schwester noch so wenig gesprochen ... Aber wie, – ist er denn im Hause meiner Mutter empfangen worden?“ fragte ich bestürzt.

„O nein; er war ja nur entfernt bekannt, durch ein drittes Haus.“

„Ja, richtig, was war es doch, was meine Schwester mir von diesem Kinde sagte? War denn auch dieses Kind in Luga?“

„Eine Zeitlang.“

„Und wo ist es jetzt?“

„Unbedingt in Petersburg.“

„Nein, nie im Leben werde ich glauben,“ rief ich maßlos aufgebracht, „daß meine Mutter an dieser Geschichte mit der Lydia auch nur im geringsten beteiligt gewesen ist!“

„Die Rolle Werssiloffs in dieser ganzen Geschichte hat, wenn man von allen diesen Intrigen absieht, die zu erklären ich nicht versuchen will, eigentlich nichts besonders Tadelnswertes,“ bemerkte Wassin mit einem nachsichtigen Lächeln. Ich glaube, es wurde ihm schwer, mit mir zu sprechen, aber er ließ es sich nicht merken.

„Nie, nie werde ich es glauben, daß eine Frau ihren Mann einer anderen Frau abtreten könnte!“ rief ich wieder erregt, „niemals werde ich das glauben! ... Ich schwöre Ihnen, meine Mutter kann in dieser Geschichte nie und nimmer eine Rolle gespielt haben!“

„Allein, es scheint doch, daß sie nicht widersprochen hat?“

„Ich hätte an ihrer Stelle schon aus Stolz nicht widersprochen!“

„Ich, meinerseits, muß es vollständig ablehnen, über eine solche Sache zu urteilen,“ äußerte sich Wassin dazu.

Es war wirklich möglich, daß Wassin, trotz all seinem unstreitigen Verstande, von den Frauen vielleicht überhaupt nichts verstand, so daß ein ganzer Kreis von Ideen und Erscheinungen für ihn fremd blieb. Ich verstummte. Wassin war zeitweilig in einer Aktiengesellschaft angestellt, und ich wußte, daß er gewöhnlich noch Arbeit nach Hause mitnahm. Auf meine beharrlichen Fragen gestand er endlich, daß er auch jetzt eine Arbeit hatte – irgendwelche Rechnungen zu prüfen –, und ich bat ihn dringend, sich durch mich nicht davon abhalten zu lassen. Das war ihm, glaube ich, sehr angenehm; aber noch bevor er sich an die Arbeit setzte, machte er für mich auf dem Diwan ein Nachtlager zurecht. Zuerst wollte er mir sein Bett abtreten, doch als ich darauf nicht einging, war er, glaube ich, auch damit sehr zufrieden. Von der Wirtin verschaffte er sich ein Kissen und eine Decke. Wassin war ungemein artig und freundlich, aber es war mir doch gewissermaßen peinlich, zu sehen, wie er sich so um meinetwillen bemühte. Es war mir viel angenehmer zumute gewesen, als ich einmal, etwa drei Wochen vorher, bei Jefim auf der Petersburger Seite zufällig übernachtet hatte. Auch er hatte ein Lager für mich bereitet, gleichfalls auf einem Diwan in seinem Zimmer, – und zwar heimlich, damit die Tante nichts davon hörte, denn er fürchtete, sie könnte böse werden, wenn sie erführe, daß seine Freunde bei ihm übernachteten. Wir hatten während des Herrichtens nicht wenig gelacht: das Bettlaken wurde durch ein Hemd ersetzt, und das fehlende Kissen durch einen zusammengelegten Mantel. Ich weiß noch, als das Werk beendet war, schlug Jefim mit liebevollem Stolz auf die Sprungfedern der Polsterung, schnippte vor Vergnügen mit den Fingern und sagte:

„Vous dormirez comme un petit roi!“[32]

Und seine dumme Lustigkeit und dazu diese französische Phrase, die zu ihm paßte wie ein Sattel auf eine Kuh, waren so komisch gewesen, daß ich mich damals bei diesem närrischen Kauz mit Vergnügen und ganz vorzüglich ausgeschlafen hatte. Bei Wassin dagegen war ich erst froh, als er endlich, mit dem Rücken zu mir, an seiner Arbeit saß. Ich streckte mich auf dem Diwan aus und dachte, während ich auf seinen Rücken sah, lange und über vieles nach.

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