V.

Aus Moskau waren sie gekommen. Sie war schon lange Witwe, „aber doch Hofrätin“, wie sie sagte; ihr Mann hatte sein Beamtengehalt gehabt und fast nichts hinterlassen, „außer einer Pension von zweihundert Rubeln. Aber was sind zweihundert Rubel?“ Immerhin hatte sie ihre Tochter erziehen und das Gymnasium beenden lassen können ... „Und wie sie gelernt hat, wie gut sie gelernt hat! – sogar die Silberne Medaille hat sie nach dem Schlußexamen bekommen ...“ (Hier begann sie natürlich wieder zu weinen.) Ihr verstorbener Mann hatte früher einmal an einen hiesigen, Petersburger, Kaufmann ein Kapital von viertausend Rubeln verloren. Da erfuhren sie, daß dieser Kaufmann inzwischen reich geworden war, – „und ich habe Dokumente, ich begann mich zu erkundigen, und da sagte man mir, ich solle einen Prozeß anstrengen, ich würde bestimmt alles wieder bekommen ... Und so fragte ich denn bei ihm an, und der Kaufmann schien darauf einzugehen; aber man riet uns doch, selbst herzureisen. Und so machten wir uns denn auf die Reise. Vor einem Monat trafen wir hier ein. Aber was haben wir denn für Mittel? So nahmen wir dieses Zimmerchen, weil es das kleinste von allen ist und in einem anständigen Hause, das sahen wir doch gleich, und darum war es uns am meisten zu tun. Wir sind doch unerfahrene Frauen, ein jeder kann uns beleidigen. Nun, Ihnen bezahlten wir für einen Monat voraus, hier etwas Geld und dort etwas Geld, für dies und für das, Petersburg ist doch so teuer, unser Kaufmann aber denkt nicht daran, uns etwas auszuzahlen: ‚Kenne Sie nicht und weiß von nichts,‘ sagt er. Mein Dokument ist aber nicht ganz so, wie es sein müßte, das sehe ich ja auch selbst ein. Und da riet man mir denn: Gehen Sie doch zu unserem berühmten Rechtsanwalt; der ist sogar Professor gewesen, ist nicht so ein gewöhnlicher Advokat, sondern sozusagen ein bedeutender Jurist, damit er mir dann schon wirklich sagt, was ich nun tun soll. So nahm ich denn meine letzten fünfzehn Rubel und trug sie zu ihm hin; er ließ mich denn auch zu sich hereinbitten, hörte mich aber nicht einmal drei Minuten lang an: ‚Ich sehe schon,‘ sagt er, ‚ich weiß schon,‘ sagt er, ‚wenn der Kaufmann will,‘ sagt er, ‚dann wird er es zurückgeben, wenn er aber nicht will, dann nicht,‘ sagt er, ‚und wenn Sie einen Prozeß anstrengen, können Sie noch die Kosten tragen. Am besten ist, Sie legen es gütlich bei.‘ Und er scherzte noch mit einem Bibelspruch: ‚Seien Sie willfärtig mit Ihrem Widersacher, dieweil Sie noch auf dem Wege sind,‘ sagt er, ‚denn sonst kommt man nicht von dannen heraus, bis daß man den letzten Heller bezahlt hat,‘ – und damit geleitet er mich hinaus und lacht noch. Da waren sie nun, meine fünfzehn Rubel! Ich komme zurück zu meiner Olä, wir sitzen uns gegenüber, da begann ich denn zu weinen. Sie weint nicht; sitzt so stolz, ist unwillig. Und immer ist sie so gewesen, von Kindheit an, schon als ganz kleines Mädchen, niemals hat sie geklagt, niemals geweint, sie sitzt nur und sieht so streng aus, daß mir ganz bange wird, sie anzusehen. Und werden Sie es mir glauben: ich habe doch Angst vor ihr gehabt, wirklich, hab’ schon lange Angst vor ihr gehabt, und schon oft habe ich weinen wollen, hab’ es aber nicht gewagt, wenn sie dabei war. So ging ich denn zum letztenmal zum Kaufmann, weinte mich bei ihm aus: ‚Schon gut,‘ sagt er, hört mich nicht einmal an. Und dabei waren wir, das muß ich Ihnen nun schon gestehen, wir waren, da wir doch nicht darauf gerechnet hatten, solange hierbleiben zu müssen, so waren wir denn schon lange ohne Geld. Da mußte ich denn nach und nach von unseren Kleidern dies und jenes forttragen: was wir versetzten, davon lebten wir denn. Alle unsere Sachen hatten wir schon versetzt, bis sie schließlich ihre letzte Wäsche zusammensuchte und mir abgab; nun hielt ich es nicht mehr aus und fing bitterlich zu weinen an. Da stampfte sie mit dem Fuß auf, sprang auf und lief selbst zum Kaufmann. Er ist Witwer; er sprach mit ihr: ‚Kommen Sie übermorgen,‘ sagt er, ‚um fünf; vielleicht sage ich Ihnen dann etwas.‘ Sie kam ganz froh zurück: ‚Übermorgen wird er mir Bescheid geben,‘ sagt sie. Nun, auch ich war froh, aber ins Herz kroch mir dabei doch so was Kaltes: was wird das nun sein? denk’ ich so bei mir, aber sie zu fragen wag’ ich doch nicht. Übermorgen, hatte er gesagt, sollte sie zu ihm kommen, aber wie sie dann von ihm zurückkehrte, war sie ganz bleich und zitterte am ganzen Körper und warf sich aufs Bett – da erriet ich alles und wagte nichts mehr zu fragen. Was glauben Sie wohl, er hatte ihr fünfzehn Rubel angeboten, dieser Räuber, und gesagt: ‚Und wenn ich volle Unschuld finde, geb’ ich vierzig Rubel und noch was drüber.‘ Und hatte ihr das so ins Gesicht gesagt, hatte sich nicht geschämt, das so zu sagen! Da war sie auf ihn losgestürzt, erzählte sie mir, aber er hatte sie zurückgestoßen und sich im Nebenzimmer sogar vor ihr eingeschlossen. Und dabei hatten wir, ich schwöre es Ihnen, nichts mehr zu essen. So brachten wir unsere letzte warme Jacke hin, sie war mit Hasenfell gefüttert, und verkauften sie, und dann ging sie und machte in der Zeitung bekannt, daß sie in allen Fächern unterrichtet, auch in der Arithmetik. ‚Wenigstens dreißig Kopeken wird man mir doch zahlen,‘ sagte sie zu mir. Aber zu guter Letzt, Mütterchen, hat sie mich wirklich in Schrecken versetzt: kein Wort hat sie mit mir gesprochen, stundenlang sitzt sie am Fenster und starrt auf das Dach des Hauses gegenüber, bis sie plötzlich auffährt: ‚Meinetwegen Wäsche waschen, meinetwegen Erde graben!‘ oder so was ruft sie aus und stampft mit dem Fuß. Und mit keiner Menschenseele sind wir hier bekannt, kennen keinen, an den wir uns wenden, den wir um Rat fragen könnten. Was wird nun aus uns werden? denk’ ich. Aber mit ihr darüber zu reden, wag’ ich schon gar nicht. Einmal schlief sie ein bißchen am Tage, und wie sie erwachte, die Augen aufschlug, sah sie mich an: ich saß auf dem Koffer und sah sie gleichfalls an: da stand sie schweigend auf, kam zu mir, schlang fest, so fest, ihre Arme um mich, und da erst konnten wir uns beide nicht mehr beherrschen und brachen in Tränen aus, und so saßen wir denn und weinten und ließen uns nicht aus den Armen. Zum erstenmal in ihrem Leben war sie so. Und während wir noch so beieinander sitzen, kommt Ihre Nastassja herein und sagt: ‚Da ist eine Dame, die sich nach Ihnen erkundigt und Sie sprechen will.‘ Das war erst vor vier Tagen. Die Dame kommt herein: wir sehen, sie ist so schön angezogen, spricht zwar Russisch, hat aber so eine deutsche Aussprache: ‚Sie haben in der Zeitung bekanntgemacht, daß Sie Stunden geben,‘ sagt sie. Da waren wir so froh, baten sie, doch Platz zu nehmen, und sie lachte so freundlich: ‚Nicht zu mir,‘ sagt sie, ‚aber meine Nichte hat kleine Kinder; wenn es Ihnen recht ist, bemühen Sie sich vielleicht zu uns, dann können wir alles besprechen.‘ Sie gab uns ihre Adresse, bei der Wosnessenskibrücke wohnte sie, im Hause Nummer soundso, und auch die Wohnungsnummer nannte sie. Dann ging sie. Oletschka wollte keine Zeit verlieren, ging noch am selben Tage hin – nach zwei Stunden kam sie zurück, außer sich, weint und schlägt um sich wie in Krämpfen. Später erzählte sie mir: ‚Ich fragte den Hausknecht nach der Wohnung,‘ sagte sie, ‚die und die Nummer. Der sah mich,‘ sagte sie, ‚so merkwürdig an: „Was wollen Sie denn dort in dieser Wohnung?“‘ hat er sie so eigentümlich gefragt, daß sie schon gleich hätte Verdacht schöpfen können. Sie aber war ja schon immer so stolz und ungeduldig, solche Fragen und Unhöflichkeiten hat sie nie ertragen. ‚Dort hinauf,‘ sagt schließlich der Hofknecht und weist mit dem Finger nach der Treppe, und dann hat er sich umgedreht und ist in seine Kammer gegangen. Und können Sie sich denken: sie geht hinein, erkundigt sich – da kommen schon von allen Seiten Frauenzimmer herbeigelaufen! ‚Bitte, treten Sie näher, bitte hier, bitte sehr!‘ – lauter Frauenzimmer, und sie lachen, umringen sie, und alle sind geschminkt und aufgeputzt und schamlos, spielen auf dem Klavier, ziehen sie mit – ‚ich wollte fort,‘ sagte sie, ‚wollte hinauslaufen, aber sie hielten mich fest.‘ Da hatte schreckliche Angst sie erfaßt, und die Knie hatten ihr gezittert, aber man ließ sie einfach nicht fort, man beredete sie, man war so freundlich, Portweinflaschen werden entkorkt, es wird eingeschenkt, angeboten, genötigt. Da war sie denn aufgesprungen und hatte geschrien, so laut sie konnte: ‚Lassen Sie mich, lassen Sie mich!‘ und da war sie zur Tür gestürzt, die Tür wird aber von ihnen zugehalten, sie aber schreit und ruft um Hilfe; da springt plötzlich die herzu, die bei uns gewesen war, und schlägt meiner Olä zweimal ins Gesicht und stößt sie zur Tür hinaus. ‚Du bist es nicht wert, du altes Fell, in einem feinen Hause zu sein!‘ schreit sie ihr zu, und eine andere schreit ihr noch auf die Treppe nach: ‚Du bist selbst zu uns gekommen, um dich uns aufzudrängen, weil du nichts zu fressen hast, wir aber hätten eine solche Fratze überhaupt nicht beachtet!‘ Diese ganze Nacht war sie wie im Fieber, sie phantasierte sogar im Schlaf, und am nächsten Morgen brannten ihre Augen, sie stand auf, ging umher, – ‚der Polizei anzeigen,‘ sagt sie, ‚ich bringe sie vor den Richter, vors Gericht!‘ Ich schweige, denke so bei mir: und was gewinnst du dadurch, womit beweist du? Sie aber geht immer noch ruhelos umher, ringt die Hände, die Tränen rollen ihr über die Wangen, aber die Lippen hat sie zusammengepreßt, unbeweglich. Und ihr ganzes Gesicht war von Stund’ an verfinstert, und so blieb es auch bis zum Ende. Am dritten Tage wurde ihr leichter, sie schwieg, als hätte sie sich beruhigt. Und gerade an dem Tage, gegen vier Uhr nachmittags, suchte uns Herr Werssiloff auf.

Ich muß wohl offen sagen: ich kann noch immer nicht verstehen, wie das kam, daß meine Olä, die doch schon so mißtrauisch geworden war, damals gleich nach seinem ersten Wort ihn anzuhören begann! Was uns beide am meisten und von vornherein für ihn einnahm, das war, daß er so ernst, ja sogar streng aussah; und er sprach so ruhig, so sachlich, und dabei ist er so höflich, – was sage ich, höflich, – geradezu ehrerbietig ist er, und dabei nicht eine Spur von einem Sicheinschmeichelnwollen. Man sieht sofort, dieser Mensch ist mit reinen Gedanken gekommen. Er sagte: ‚Ich habe Ihre Anzeige in der Zeitung gelesen, Sie haben sie aber,‘ sagt er, ‚nicht ganz richtig abgefaßt, und der Fehler könnte leicht zu einem falschen Urteil über Sie verleiten.‘ Und er fing an, ihr das zu erklären, aber ich muß sagen, ich habe nicht alles ganz verstanden – von der Arithmetik sagte er da etwas. Nur sehe ich, meine Olä wird plötzlich ganz rot und ist wieder wie neubelebt, hört ihn aufmerksam an, spricht mit ihm so bereitwillig (und er muß doch auch ein sehr kluger Mensch sein!), und was höre ich: sie bedankt sich bei ihm sogar. Er fragte sie nach allem so sachlich und gewissenhaft, und man merkte gleich, daß er lange in Moskau gelebt hatte, und es erwies sich, daß er die Direktrice des ersten Mädchengymnasiums persönlich kannte. ‚Stunden,‘ sagt er, ‚werde ich Ihnen bestimmt verschaffen, denn ich bin hier mit vielen bekannt und kann auch viele einflußreiche Persönlichkeiten darum bitten, und falls Sie eine dauernde Stellung wünschen, so könnte man auch das im Auge behalten ... vorläufig aber – verzeihen Sie,‘ sagt er, ‚wenn ich eine offene Frage an Sie richte: Könnte ich Ihnen nicht jetzt gleich irgendeinen Dienst erweisen? Betrachten Sie es so,‘ sagt er, ‚daß nicht ich Ihnen einen Gefallen erweise, sondern Sie mir damit ein Vergnügen bereiten, wenn Sie es zulassen, daß ich Ihnen in irgendeiner Form meine Hilfe anbieten darf. Fassen Sie es meinetwegen als Darlehen auf,‘ sagt er, ‚und sobald Sie eine Stellung erhalten haben, können Sie das ja in kürzester Zeit mit mir verrechnen. Sollte ich jemals in eine ähnliche Lage geraten, während Sie wohlhabend sind, so würde ich mich, glauben Sie mir bei meiner Ehre, wegen einer solchen Hilfe ohne weiteres an Sie wenden, würde auch meine Frau und Tochter in solchem Fall zu Ihnen schicken ...‘ oder so ungefähr drückte er sich aus, ich habe nicht alle seine Worte behalten, ich weiß nur, daß mir Tränen in die Augen traten, denn ich sah, daß auch bei meiner Olä die Lippen bebten vor Dankbarkeit: ‚Wenn ich es annehme,‘ antwortete sie, ‚so tue ich das nur, weil ich Vertrauen habe zu einem ehrlichen und humanen Menschen, der mein Vater sein könnte ...‘ Und so hübsch sagte sie ihm das, so zurückhaltend und vornehm, so – ‚einem humanen Menschen,‘ sagte sie. Er erhob sich sofort. ‚Unbedingt,‘ sagte er, ‚unbedingt werde ich Ihnen Privatstunden und auch eine Anstellung verschaffen: ich werde unverzüglich das Nötige tun, denn Ihre Zeugnisse genügen ja vollkommen ...‘ Ich vergaß vorhin zu sagen, daß er sich gleich als erstes alle ihre Zeugnisse vom Gymnasium hatte zeigen lassen und sie durchgesehen hatte, und dann hatte er sie noch selbst in verschiedenen Fächern examiniert ... Olä sagte noch später zu mir: ‚Mamachen, er hat mich doch in allen Fächern examiniert, und wie klug er ist, Mamachen,‘ sagt sie, ‚ich habe noch niemals mit einem so klugen und gebildeten Menschen gesprochen ...‘ Und sie strahlt nur so. Das Geld – es waren sechzig Rubel – lag noch auf dem Tisch. ‚Legen Sie es fort, Mamachen,‘ sagt sie, ‚wenn ich meine Anstellung habe, wird es unsere erste Pflicht sein, ihm das so bald als möglich zurückzugeben, wir werden ihm beweisen, daß wir anständig sind; und daß wir Takt haben, das hat er schon gesehen.‘ Dann schwieg sie wieder ein Weilchen, ich sehe, sie sinnt und atmet so tief. ‚Wissen Sie,‘ sagt sie plötzlich zu mir, ‚wissen Sie, Mamachen, wenn wir taktlos wären, so würden wir seine Hilfe vielleicht aus Stolz nicht angenommen haben; daß wir sie aber von ihm angenommen haben, gerade dadurch haben wir ihm unser Zartgefühl bewiesen, und daß wir ihm unser Vertrauen schenken, als einem ehrenwerten Manne mit schon ergrauendem Haar, nicht wahr?‘ Ich verstand sie nicht gleich und fragte: ‚Aber warum denn, Olä, warum soll man von einem edlen und reichen Menschen nicht eine Wohltat annehmen, wenn er außerdem noch ein Mensch mit einem guten Herzen ist?‘ Sie runzelte die Stirn. ‚Nein, Mamachen,‘ sagt sie, ‚das ist es nicht, nicht die Wohltat war nötig, sondern seine Menschlichkeit‘ sagt sie, ‚die ist hier das Wertvolle. Und das Geld, das hätten wir lieber gar nicht annehmen sollen, Mamachen: da er doch versprochen hat, mir eine Anstellung zu verschaffen, so ist auch das schon genug ... wenn wir es auch noch so nötig hätten.‘ – ‚Ach, Olä,‘ sag ich, ‚wir haben es doch wohl mehr als nur nötig, wie sollen wir denn ohne dem auskommen? – da mußten wir es doch schon annehmen,‘ sag ich, der Gedanke kam mir sogar spaßig vor, und ich lächelte noch über sie. Ich war so froh innerlich, aber nach einer Stunde sagt sie mir auf einmal: ‚Mamachen,‘ sagt sie, ‚warten Sie noch etwas, geben Sie das Geld noch nicht aus,‘ – und so bestimmt sagte sie es. ‚Warum nicht?‘ frage ich. – ‚Ich will es nicht!‘ sagt sie kurz, bricht ab und verstummt. Für den ganzen Abend blieb sie stumm; erst in der Nacht, so gegen zwei Uhr, wache ich auf und höre, Olä bewegt sich in ihrem Bett: ‚Sie schlafen nicht, Mamachen?‘ – ‚Nein,‘ sag ich, ‚ich schlafe nicht.‘ – ‚Wissen Sie,‘ sagt sie, ‚er hat mich doch beleidigen wollen!‘ – ‚Was fällt dir ein,‘ sag ich, ‚wie kommst du darauf?‘ – ‚Bestimmt hat er das gewollt,‘ sagt sie, ‚das ist ein gemeiner Mensch, nicht eine Kopeke dürfen Sie von seinem Gelde ausgeben!‘ sagt sie. Ich wollte ihr zureden, fing sogar in meinem Bett zu weinen an – sie drehte sich zur Wand: ‚Seien Sie still,‘ sagt sie, ‚lassen Sie mich schlafen!‘ Am Morgen sehe ich sie an, sie geht umher, aber sie ist gar nicht wiederzuerkennen, – und ich sage Ihnen, glauben Sie mir oder glauben Sie mir nicht, vor Gottes Gericht kann ich’s beschwören: sie war da nicht mehr ganz bei Sinnen! In derselben Stunde, wo man sie in diesem unanständigen Hause beleidigt hatte, war ihr Herz irre geworden ... und auch ihr Verstand. Ich sah sie an diesem Morgen an und wunderte mich über sie; mir wurde schon ganz angst und bange; und ich denke noch so bei mir: ich werde ihr heute lieber nicht widersprechen, mit keinem Wort. ‚Seine Adresse hat er uns also richtig nicht angegeben,‘ sagt sie. ‚Schäm dich, Olä,‘ sag ich, ‚das ist sündhaft von dir: du hast doch selbst gestern gehört, was er gesagt hat, hast ihn nachher noch selbst gelobt, warst selbst vor Dankbarkeit dem Weinen nahe ...‘ Kaum hatte ich das gesagt – da schrie sie auf, stampfte mit dem Fuß: ‚Sie sind eine Frau mit niedrigen Gefühlen,‘ sagt sie, ‚altmodisch sind Sie erzogen,‘ sagt sie, ‚Ihre Auffassungen stammen noch aus der Zeit der Leibeigenschaft ...!‘ und was sie da noch alles sagte, plötzlich nimmt sie ihren Hut, läuft hinaus, ich rufe sie noch zurück, will sie halten, – was ist mit ihr, denke ich, wohin will sie nun laufen? Sie aber lief aufs Adreßbureau, dort erfuhr sie, wo Herr Werssiloff wohnt, und kam zurück: ‚Heute noch,‘ sagt sie, ‚sofort bring ich ihm das Geld zurück und werfe es ihm ins Gesicht; er hat mich beleidigen wollen, ganz wie Ssafronoff (so heißt unser Kaufmann); nur hat Ssafronoff mich wie ein roher Bauer beleidigt, dieser aber wie ein hinterlistiger Jesuit!‘ Und da kommt und klopft noch zu unserem Unglück dieser Herr an die Tür. ‚Ich höre, es ist hier von Herrn Werssiloff die Rede,‘ sagt er, ‚da müssen Sie mich fragen, ich allein kann Ihnen alles sagen.‘ Wie sie das hört und den Namen Werssiloff, da klammert sie sich schon an ihn, wie außer sich ist sie, und spricht und spricht, daß ich sie nur ansehen und mich wundern kann: mit keinem hatte sie so gesprochen, so schweigsam war sie immer gewesen, und nun plötzlich ist sie so, mit diesem ganz fremden Menschen? Ihre Wangen glühen, ihre Augen blitzen ... Und da sagt er noch: ‚Sie haben vollkommen recht, gnädiges Fräulein. Werssiloff,‘ sagt er, ‚ist genau so einer wie die hiesigen Generäle, von denen die Zeitungen zu berichten wissen. So ein General wirft sich in Gala, steckt alle seine Orden an und besucht dann alle Gouvernanten, die durch die Zeitungen Stunden suchen, und so geht er und findet, was er sucht; und wenn er das nicht findet, dann sitzt er ein Weilchen, redet, verspricht Gott weiß was alles, und geht wieder, – nun, und hat sich doch wenigstens eine kleine Zerstreuung verschafft. Tja!‘ sagte er. Meine Olä lachte sogar, aber so böse klang es, dieser Herr aber, was sehe ich, erfaßt ihre Hand und scheint ihre Hand an sein Herz ziehen zu wollen: ‚Mein Fräulein,‘ sagt er, ‚auch ich habe mein eigenes Kapital und könnte es in jedem Augenblick einem schönen Mädchen anbieten, aber es ist besser,‘ sagt er, ‚ich küsse ihr zunächst nur das kleine Händchen ...‘ und er zieht, sehe ich, ihre Hand an die Lippen und will sie schon küssen. Wie aber Olä da aufsprang, und ich nun auch – und da haben wir beide ihn einfach hinausgejagt! Kurz vor Abend aber entriß Olä mir das Geld, lief fort und kam atemlos wieder. ‚Mamachen,‘ sagt sie, ‚ich habe mich an einem ehrlosen Menschen gerächt!‘ – ‚Ach, Olä, Olä,‘ sag ich, ‚jetzt ist vielleicht auch unser Glück dahin, einen edlen, wohltätigen Menschen hast du beleidigt!‘ Und ich mußte weinen vor Unwillen über sie, ich konnte nicht anders. Da fährt sie auf und schreit: ‚Ich will nicht,‘ schreit sie, ‚ich will nicht! Und wenn er auch der anständigste Mensch ist, ich will sein Almosen nicht! Und daß mich jemand bedauert oder bemitleidet, das ertrag ich nicht, das will ich nicht!‘ Als ich an diesem Abend zu Bett ging, dachte ich an nichts. Wie oft habe ich diesen großen Nagel in unserer Wand betrachtet, der dort von Ihrem Spiegel stecken geblieben ist, – aber niemals ist mir so was in den Sinn gekommen, ich bin überhaupt nicht darauf verfallen, weder gestern noch früher, niemals hab ich an so etwas auch nur gedacht, nicht mal befürchtet, und von Olä hätt ich so was schon ganz und gar nicht erwartet. Ich schlafe gewöhnlich sehr fest, ja ich schnarche sogar, das Blut dringt mir im Schlaf so zu Kopf, manchmal auch zu Herzen, und dann schreie ich auf im Schlaf, so daß Olä mich schon oft in der Nacht geweckt hat: ‚Wie fest Sie schlafen, Mamachen,‘ sagt sie, ‚man kann Sie ja gar nicht aufwecken, wenn es nötig ist.‘ – ‚Ach, Olä,‘ sag ich, ‚ich weiß ja, daß ich fest schlafe.‘ Und so fest muß ich denn auch an diesem Abend eingeschlafen sein, und darauf hat sie wohl nur gewartet, um dann leise aufzustehen, ohne befürchten zu müssen, daß ich aufwachte. Und dieser Riemen von unserem Koffer, so ein langer Riemen, der trieb sich schon den ganzen Monat im Zimmer herum, und noch am Morgen dachte ich: ‚Ach, den muß man doch endlich einmal weglegen, damit er nicht ewig so im Wege liegt.‘ Und den Stuhl hat sie dann wohl mit dem Fuß umgestoßen, und damit er keinen Lärm machte, hatte sie ihren Rock an der Seite untergebreitet. Und ich bin dann wohl erst lange, lange nachher, erst nach einer Stunde oder noch später, aufgewacht. ‚Olä!‘ ruf ich, ‚Olä!‘ – Und gleich ahnte ich etwas, wie ich sie rufe. War es nun, daß ich ihr Atmen von ihrem Bett her nicht mehr hörte, oder daß ich in der Dunkelheit doch vielleicht sah, daß ihr Bett leer war, – ich stand plötzlich auf und tappte mit der Hand: im Bett ist niemand, und das Kissen ist kalt. Da sank mir der Mut, ich stehe und rühre mich nicht vom Fleck, wie leblos, und im Kopf ist mir ganz schwindelig. ‚Sie ist wohl aus dem Zimmer gegangen,‘ denk ich, und ich mach einen Schritt, aber da seh ich, beim Bett, in der Ecke, neben der Tür – da ist so etwas, als stünde sie selbst dort. Ich stehe, schweige, sehe sie an, und es ist mir, als ob sie aus der Dunkelheit mich gleichfalls ansähe, ohne sich zu rühren ... ‚Aber warum ist sie denn,‘ denk ich, ‚auf den Stuhl gestiegen?‘ – ‚Olä,‘ flüstere ich ganz verzagt, ‚Olä, hörst du?‘ – Und da war’s mir auf einmal, als werde alles in mir erleuchtet, ich schritt, streckte beide Arme aus, gerade auf sie zu, umfaßte sie, sie aber, sie schaukelt in meinen Armen, ich greife zu, sie aber schaukelt – da begriff ich alles und will doch nichts begreifen ... Schreien will ich, aber es ist keine Stimme in mir ... Ach, dachte ich! Da fiel ich wie getroffen zu Boden und schrie ...“

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„Wassin,“ sagte ich am Morgen gegen sechs Uhr, „wenn Ihr Stebelkoff nicht dazwischen gekommen wäre, dann wäre das Unglück vielleicht gar nicht geschehen.“

„Wer kann das wissen. Wahrscheinlich wäre es dennoch geschehen. In diesem Fall kann man nicht so urteilen, hier war auch ohnedies schon alles reif ... Freilich, dieser Stebelkoff ist bisweilen ...“

Er sprach den Satz nicht zu Ende und runzelte die Stirn, wie über einen sehr unangenehmen Gedanken. Gegen sieben Uhr fuhr er wieder fort. Er hatte es übernommen, alle erforderlichen Schritte zu tun. Schließlich blieb ich ganz allein. Es war schon hell geworden. Im Kopf hatte ich ein leichtes Schwindelgefühl. Werssiloff stand mir vor Augen: die Erzählung dieser Mutter hatte ihn mir in einem ganz anderen Licht gezeigt. Um besser darüber nachdenken zu können, legte ich mich auf Wassins Bett, so wie ich war, angekleidet und in Stiefeln – nur auf einen Augenblick und ganz ohne die Absicht, zu schlafen –, und auf einmal war ich eingeschlafen, ich weiß selbst nicht, wie. Ich schlief gute vier Stunden; niemand weckte mich.

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