IV.

Fast genau zwei Stunden später fuhr ich wirr aus dem Schlaf auf und kam, auf meinem Sofa sitzend, erschrocken zu mir. Hinter der Tür, im Zimmer der Nachbarinnen, ertönten schreckliche Schreie, dazwischen verzweifeltes Weinen und Heulen. Unsere Zimmertür stand offen, und auf dem Korridor, der schon erhellt war, schrien und liefen Leute. Ich wollte schon Wassin anrufen, erriet aber, daß er nicht mehr im Bett war. Ich wußte nicht, wo die Streichholzschachtel lag, so tastete ich nach meinen Sachen und begann mich in der Dunkelheit schnell anzukleiden. Im Nebenzimmer waren die Wirtin und wohl auch die anderen Zimmermieter schon zusammengelaufen. Übrigens war es nur eine Stimme, die so schrie und weinte, eben die der älteren Nachbarin, während die junge Stimme, die ich am Tage gehört und nur zu gut behalten hatte, – gänzlich schwieg; ich erinnere mich noch, daß mir dies gleich als merkwürdig auffiel. Ich hatte noch nicht Zeit gehabt, mich ganz anzuziehen, als Wassin eilig eintrat; im Nu fand er mit gewohnter Hand die Streichhölzer und machte Licht im Zimmer. Er hatte über seiner Wäsche nur seinen Schlafrock an, die Füße staken in Pantoffeln, und er machte sich sogleich ans Ankleiden.

„Was ist geschehen?“ fragte ich ihn bestürzt.

„Eine höchst unangenehme und widerwärtige Sache!“ versetzte er fast wütend. „Diese junge Nachbarin, von der Sie mir erzählten, hat sich in ihrem Zimmer erhängt.“

Ich schrie auf. Ich vermag gar nicht wiederzugeben, was ich empfand! Wir eilten auf den Korridor hinaus. Ich muß gestehen, ich wagte nicht, in ihr Zimmer einzutreten, und so sah ich die Unglückliche erst später, als man sie schon aus der Schlinge genommen hatte, und auch dann, aufrichtig gesagt, nur aus einiger Entfernung, wie sie da lag, mit einem Laken zugedeckt, unter dem nur die zwei schmalen Sohlen ihrer Schuhe hervorsahen. So habe ich ihr denn aus irgendeinem Grunde überhaupt nicht ins Gesicht gesehen. Ihre Mutter war in einer furchtbaren Verfassung; die Wirtin, die übrigens gar nicht so sehr erschrocken zu sein schien, war bei ihr. Desgleichen waren alle übrigen Mieter zugegen und drängten sich da herum. Es waren nicht viele: ein älterer Seemann, der immer sehr brummig war und zu befehlen liebte, sich jetzt aber ganz still verhielt, und ein altes Ehepaar aus dem Tulaschen, ganz ehrenwerte Leute aus dem Beamtenstande. Ich will den Verlauf dieser Nacht, alle diese Laufereien und später auch die offiziellen Besuche, nicht weiter beschreiben; bis zum Morgengrauen zitterte ich buchstäblich die ganze Zeit und hielt es für meine Pflicht, mich nicht hinzulegen, obgleich ich nichts zu tun hatte und auch nichts tat. Eigentlich sahen alle sehr munter aus, ja sogar irgendwie besonders aufgeweckt. Wassin fuhr irgendwohin. Die Wirtin zeigte sich als ganz achtbare Frau, jedenfalls war sie besser, als ich erwartet hatte. Ich erklärte ihr (und das rechne ich mir zur Ehre an), daß man die Mutter jetzt nicht bei der Leiche der Tochter so allein lassen könne, und daß sie die Arme wenigstens bis zum nächsten Tage in ihrem Zimmer bei sich aufnehmen müsse. Sie war dazu gleich bereit, und wie sehr sich die Mutter auch wehrte und sich schluchzend weigerte, die Leiche zu verlassen, zu guter Letzt gelang es doch, sie zur Wirtin hinüberzuführen, die sogleich ihr Teemaschinchen aufstellen ließ. Hierauf zogen sich auch die übrigen in ihre Zimmer zurück und schlossen die Türen, ich aber wollte mich um keinen Preis hinlegen und saß noch lange bei der Wirtin, die sogar froh war über die Gegenwart eines dritten Menschen, der außerdem noch manches auf den Vorfall Bezügliche mitteilen konnte. Der Tee kam uns sehr zustatten, und überhaupt ist die Teemaschine eine der allernotwendigsten Sachen im russischen Leben, besonders bei Katastrophen und Unglücksfällen, namentlich, wenn es plötzliche, schreckliche und ganz außergewöhnliche sind. Selbst diese verzweifelte Mutter trank schließlich zwei Täßchen, natürlich erst nach langem Zureden unsererseits und Versuchen, sie womöglich dazu zu zwingen. Und doch muß ich aufrichtig sagen, daß ich noch nie einen so grausamen und unmittelbaren Schmerz gesehen habe wie damals bei dieser Unglücklichen. Nach den ersten Ausbrüchen der Verzweiflung und Hysterie, begann sie zu sprechen; sie hatte offenbar das Bedürfnis, zu sprechen, und ich hörte ihr gierig zu. Es gibt Unglückliche, besonders unter den Frauen, die man in solchen Fällen unbedingt so viel als möglich sprechen lassen muß. Gibt es doch tatsächlich Menschen, die vom Kummer schon so zermürbt sind, die ihr ganzes Leben lang gelitten, die schon so viel und Ungeheuerliches erduldet haben, und beständig um kleinlicher Dinge willen, daß sie durch nichts mehr erschüttert werden können, auch nicht durch plötzliche Katastrophen, und die sogar am Sarge des geliebtesten Wesens keine einzige der so hart erworbenen Regeln ihres dienstfertigen Umgangs mit Menschen vergessen. Und ich verurteile sie nicht: hier ist es nicht niedrige Selbstsucht, nicht Gefühlsroheit; in diesen Herzen findet sich vielleicht mehr Gold als in denen der anscheinend edelsten Heldinnen, aber die Gewohnheit der langen Erniedrigung, der Selbsterhaltungstrieb, die langjährige Einschüchterung und Niedergedrücktheit erweisen sich schließlich als stärker. Darin hatte die arme Selbstmörderin ihrer Mutter nicht geglichen. Übrigens war in ihren Gesichtszügen, wenn ich mich nicht irre, doch eine Ähnlichkeit vorhanden, obgleich die Verstorbene entschieden gut aussah. Die Mutter war noch keine sehr alte Frau, erst gegen fünfzig, und ebenso blond wie die Tochter, aber ihre Augen und Wangen waren eingefallen und ihre Zähne ungleichmäßig, groß und gelb. Ja, eigentlich war alles an ihr gelblich; die Haut ihres Gesichts und ihrer Hände erinnerte an Pergament; ihr dunkles billiges Kleid hatte vor Alter auch schon einen braungelben Farbton, und den Nagel ihres Zeigefingers der rechten Hand hatte sie, ich weiß nicht weshalb, sorgfältig und sauber mit gelbem Wachs beklebt.

Die Erzählung der armen Frau war zum Teil zusammenhanglos. Ich werde sie wiedergeben, wie ich sie selbst verstanden und soweit ich ihre Worte behalten habe.

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