Meine Hoffnung ging doch nicht ganz in Erfüllung: ich traf sie nicht allein an; Werssiloff war allerdings nicht da, aber dafür saß bei meiner Mutter Tatjana Pawlowna – immerhin ein fremder Mensch. Meine großmütige Stimmung ward deshalb im Nu um die Hälfte weniger großmütig. Es ist merkwürdig, wie schnell sich in solchen Fällen meine Stimmung verändert: ein Sandkörnchen oder Härchen genügt schon, um das Gute zu verscheuchen und das Böse an seine Stelle treten zu lassen. Meine schlechten Eindrücke aber sind zu meinem Bedauern nicht so schnell zu verscheuchen, obschon ich keineswegs nachtragend bin. Als ich eintrat, schien mir im Augenblick, daß meine Mutter ihre anscheinend recht lebhafte Unterhaltung mit Tatjana Pawlowna schnell und hastig abbrach. Meine Schwester war erst kurz vor mir von ihrer Arbeit zurückgekehrt und war noch in ihrem Stübchen.
Die Wohnung bestand aus drei Zimmern. Das eine davon, das mittlere, in dem sich gewöhnlich alle aufhielten, unser Wohn- und Empfangszimmer zugleich, war ein ziemlich großer Raum und sah beinahe anständig aus. In ihm waren wenigstens Polstermöbel, rote Sofas, übrigens mit recht abgenutztem Bezug (Werssiloff duldete keine Überzüge), dazu einige Teppiche, ein paar Tische und überflüssige Tischchen. Rechts von diesem Raum lag Werssiloffs Zimmer; das war eng und schmal und hatte nur ein Fenster. Dort stand ein kläglicher Schreibtisch, auf dem etliche ungelesene Bücher und vergessene Papiere lagen, und vor dem Tisch stand ein nicht minder kläglicher Polstersessel mit einer zerbrochenen und infolgedessen schief hervorstehenden Feder, über die Werssiloff oft genug seufzte und schimpfte. In demselben Kabinett wurde für ihn abends auf einem weichen, aber gleichfalls verschlissenen Diwan ein Lager zurechtgemacht. Er haßte dieses sogenannte Kabinett und tat, glaube ich, nie etwas in ihm, sondern zog es vor, stundenlang müßig im Wohnzimmer zu sitzen. Links vom Wohnzimmer lag ein genau so großes Zimmer wie das Kabinett, dort schliefen meine Mutter und meine Schwester. Ins Wohnzimmer trat man aus einem Korridor, an dessen Ende eine Tür in die Küche führte, wo die Köchin Lukerja ihr Wesen trieb. Wenn diese Lukerja kochte oder briet, so ließ sie erbarmungslos den Geruch von verbranntem Fett durch die ganze Wohnung ziehen. Es gab Augenblicke, wo Werssiloff einzig wegen dieses Küchengeruchs sein ganzes Leben verwünschte und sein Schicksal verfluchte, und in diesem einen Punkte konnte ich ihm vollkommen nachfühlen. Auch ich haßte diese Gerüche, obschon sie nicht bis in mein Zimmer drangen. Ich wohnte oben unter dem Dach im Giebelstübchen, wohin ich auf einer kleinen, überaus steilen und knarrenden Treppe hinaufstieg. An Sehenswürdigkeiten gab es bei mir dort nur ein halbrundes Fenster und eine entsetzlich niedrige Decke. Auf dem mit Wachstuch überzogenen Diwan machte mir Lukerja abends mit Bettlaken und einem Kopfkissen ein Nachtlager zurecht, und sonst waren an Möbeln nur noch zwei Sachen da: ein einfacher Tisch aus ungestrichenen Brettern und ein Stuhl mit geflochtenem und schon durchlöchertem Sitz.
Übrigens waren bei uns immerhin noch etliche Überbleibsel eines ehemaligen Komforts: im Wohnzimmer z. B. stand eine sogar sehr schöne Porzellanlampe; an einer Wand hing eine vorzügliche große Gravüre der Dresdener Madonna, und an der anderen Wand, ihr gegenüber, eine teure Photographie der berühmten Bronzetür des Florentiner Baptisteriums. In demselben Zimmer hing ferner in einer Ecke ein großer Heiligenschrein mit altertümlichen Heiligenbildern, ein Familienerbstück, und eines von ihnen (das Bild aller Heiligen) hatte eine reiche silbervergoldete Bekleidung (die einmal versetzt werden sollte) und ein Muttergottesbild eine Bekleidung aus perlenbesticktem Samt. Vor den Heiligenbildern hing ein Lämpchen, das am Vorabend jedes Feiertages angezündet wurde. Werssiloff verhielt sich zu den Heiligenbildern, im Sinne ihrer Bedeutung, scheinbar ganz gleichgültig, zog nur zuweilen die Stirne kraus, wenn das Lämpchen brannte und beklagte sich, indem er sich merklich bezwang, nur wie beiläufig, über den von der vergoldeten Bekleidung zurückgeworfenen Lichtschein, der ihn angeblich blende, was für seine Augen schädlich sei, aber immerhin verhinderte er meine Mutter nicht, das Lämpchen anzuzünden.
Ich trat gewöhnlich schweigend und mit finsterem Gesicht ins Zimmer, sah keinen an, sondern irgendwohin in eine Ecke, und zuweilen grüßte ich nicht einmal, wenn ich nach Hause kam. Ich war sonst immer früher heimgekehrt als diesmal, und das Mittagessen hatte man mir immer nach oben gebracht. Als ich aber nun eintrat, sagte ich plötzlich: „Guten Abend, Mama,“ was ich früher nie getan hatte, aber auch diesmal brachte ich es aus einem gewissen Schamgefühl heraus nicht fertig, sie dabei anzusehen, und ich setzte mich am anderen Ende des Zimmers hin. Ich war sehr müde, aber daran dachte ich nicht.
„Dieser Flegel fährt ja immer noch fort, wie ein Tölpel hier einzutreten,“ fiel Tatjana Pawlowna sogleich gehässig über mich her.
Schimpfworte hatte sie sich auch früher erlaubt, und das war zwischen ihr und mir eigentlich schon zur Gewohnheit geworden.
„Guten Abend ...“ antwortete meine Mutter unsicher, als habe mein Gruß sie ganz verlegen gemacht.
„Das Essen ist längst fertig,“ fügte sie fast verwirrt hinzu, „wenn nur die Suppe nicht kalt geworden ist, aber die Koteletts werde ich gleich ...“
Und sie wollte schon eilig aufstehen, um in die Küche zu gehen, und vielleicht zum erstenmal in diesem ganzen Monat schämte ich mich plötzlich, daß sie so eilfertig aufsprang, um mich zu bedienen, wie ich das bis dahin selbst von ihr verlangt hatte.
„Nein, danke sehr, Mama, ich habe schon gegessen. Wenn ich nicht störe, werde ich mich hier etwas ausruhen.“
„Ach ... ja, gewiß! ... Warum denn nicht ... bleiben Sie nur ...“
„Seien Sie unbesorgt, Mama, ich werde gegen Andrei Petrowitsch nicht mehr ausfallend sein,“ sagte ich plötzlich.
„Ach Gott, welch eine Großmut von ihm!“ rief Tatjana Pawlowna wieder gehässig aus. „Aber Täubchen, Ssonjä, sagst du denn wirklich immer noch ‚Sie‘ zu ihm? Wer ist er denn, daß er so geehrt werden muß, und dazu noch von seiner leiblichen Mutter! Und sieh doch einer, da bist du noch ganz verlegen geworden vor ihm, pfui!“
„Es wäre mir selbst viel angenehmer, Mama, wenn Sie mich duzen würden.“[7]
„Ach ... nun, gut, gut, dann werde ich ...“ beeilte sich meine Mutter, allen Wünschen nachzukommen. „Ich ... ich habe ja auch nicht immer ‚Sie‘ gesagt ... aber von jetzt ab werde ich es nicht mehr tun, ich werde wissen, wie ...“
Sie errötete vor Verlegenheit. Ihr Gesicht hatte entschieden etwas überaus Anziehendes ... Es war ein treuherziges, durchaus nicht gewöhnliches Gesicht, ein wenig bleich, vielleicht blutarm. Ihre Wangen waren sehr mager, sogar eingefallen, und auf der Stirn bildeten sich schon viele Runzeln, aber um die Augen herum hatte sie noch gar keine Runzeln, und diese Augen, die recht groß und offen waren, leuchteten immer in einem stillen, beruhigenden Licht, das mich schon vom ersten Tage an zu ihr hingezogen hatte. Es war mir auch lieb, daß in ihrem Gesicht gar nichts Trauriges oder Bedrücktes lag, im Gegenteil, ihr Gesichtsausdruck wäre sogar ein froher gewesen, wenn sie sich nicht so oft aufgeregt hätte, mitunter sogar ganz ohne Ursache. Sie erschrak nicht selten und erhob sich plötzlich von ihrem Platz in ganz grundloser Furcht, oder sie lauschte ängstlich auf jedes Wort, wenn man über etwas Neues sprach, bis sie sich überzeugte, daß sich deshalb nichts veränderte und alles beim alten blieb – dieses „beim alten bleiben“ war für sie gleichbedeutend mit der Überzeugung, daß alles gut war. Wenn sich nur nichts veränderte, wenn nur nichts Neues geschah, und mochte es auch etwas noch so Gutes sein! ... Man hätte glauben können, sie sei als Kind einmal mit der Androhung von etwas „Neuem“ entsetzlich eingeschüchtert worden. Außer ihren Augen gefiel mir auch noch das Oval ihres länglichen Gesichtes, und ich vermute, wenn ihre Backenknochen nur um ein Härchen weniger breit gewesen wären, hätte man sie nicht nur in der Jugend, sondern auch jetzt noch hübsch nennen können. Sie war noch nicht über neununddreißig, aber in ihrem dunkelblonden Haar glänzten schon viele silberne Fäden.
Tatjana Pawlowna blickte sie mit entschiedenem Unwillen an.
„Diesen Bengel siezen! Und so vor ihm zu zittern! Sei doch nicht lächerlich, Ssofja! Kannst mich nur ärgern, wenn du so bist, damit du’s weißt!“
„Ach, Tatjana Pawlowna, warum sind Sie denn jetzt so zu ihm! Aber Sie scherzen wohl nur, – nicht?“ fragte meine Mutter, da sie im Gesicht Tatjana Pawlownas so etwas wie ein Lächeln bemerkte.
Tatjana Pawlownas Schelten konnte man in der Tat manchmal nicht ernst nehmen, diesmal jedoch lächelte sie (d. h. wenn sie es wirklich tat) natürlich nur über meine Mutter; denn sie liebte deren Güte über alles und hatte zweifellos schon bemerkt, wie glücklich die Gute in diesem Augenblick über meine Friedfertigkeit war.
„Es kann mir natürlich nicht gleichgültig sein, daß Sie so über mich herfallen, Tatjana Pawlowna, und noch dazu gerade jetzt, nachdem ich beim Eintreten ‚Guten Abend, Mama‘ gesagt habe, was ich früher nicht getan habe,“ bemerkte ich schließlich, da mir das notwendig erschien.
„Das ist mir mal schön!“ brauste sie sofort auf, „denkt euch nur, er hält das für ’ne Heldentat! Soll man dir nicht noch kniend dafür danken, daß du einmal im Leben höflich gewesen bist? Und was ist denn das für eine Höflichkeit! Warum siehst du denn in den Winkel, wenn du eintrittst? Als ob ich nicht wüßte, wie du zu ihr bist und sie behandelst! Hättest auch mir ‚Guten Tag‘ sagen können, hab’ deine Windeln gewickelt, bin deine Patin!“
Selbstverständlich verschmähte ich jeden Rechtfertigungsversuch. In diesem Augenblick trat meine Schwester ins Zimmer, und ich wandte mich schnell an sie:
„Lisa, ich habe heute Wassin gesehen, und er erkundigte sich nach dir. Du bist mit ihm bekannt?“
„Ja, von Luga her, im vorigen Jahr,“ antwortete sie mir ganz schlicht, setzte sich neben mich und sah mich freundlich an.
Ich weiß nicht, weshalb ich eigentlich erwartet hatte, daß sie sofort erröten würde, wenn ich ihr das von Wassin erzählte. Meine Schwester war blond, hellblond, ihre Haarfarbe hatte sie weder von der Mutter, noch vom Vater; aber ihre Augen, das Oval des Gesichts hatte sie fast ganz von der Mutter. Ihre Nase war sehr gerade, nicht groß und regelmäßig; und dann noch eine kleine Besonderheit: leichte kleine Sommersprossen im Gesicht, von denen bei der Mutter keine Spur vorhanden war. Werssiloffsches hatte sie nur wenig, es sei denn die Schlankheit der Gestalt, den hohen Wuchs und im Gang eine gewisse anmutige Schönheit. Mit mir verband sie nicht die geringste Ähnlichkeit – wir waren wie zwei entgegengesetzte Pole.
„Ich habe drei Monate in Luga mit ihnen verkehrt,“ fügte Lisa nach einer Weile hinzu.
„Du meinst doch Wassin allein? – warum sagst du dann ‚mit ihnen‘, Lisa? Mit ihm, sagt man, – ‚mit ihnen‘ sagen Bediente von ihrer Herrschaft. Verzeih, Schwester, daß ich dich verbessere, aber es tut mir weh, daß man deine Bildung, wie es scheint, vernachlässigt hat.“
„Und von dir ist es schändlich, in Gegenwart deiner Mutter solche Bemerkungen zu machen!“ donnerte mich Tatjana Pawlowna sofort an. „Außerdem faselst du – nichts ist vernachlässigt worden!“
„Es ist mir gar nicht eingefallen, meiner Mutter einen Vorwurf zu machen!“ verteidigte ich mich schroff. „Damit Sie es wissen, Mama, ich betrachte Lisa als Ihr zweites Ich: Sie haben aus ihr, was Güte und Charakter betrifft, etwas ebenso Entzückendes gemacht, wie Sie es sicherlich selbst waren und auch jetzt sind und ewig sein werden ... Ich rede nur von der äußeren Politur, von allen diesen gesellschaftlichen Dummheiten, die nun einmal notwendig sind. Ich bin nur darüber ungehalten, daß Werssiloff dich auf diesen Fehler bestimmt nicht aufmerksam gemacht hätte, Lisa, – dermaßen hochmütig und gleichgültig verhält er sich zu uns. Das ist es, was mich ärgert!“
„Selbst ist er wie ein Bärenjunges, und dabei will er anderen Politur beibringen! Und unterstehen Sie sich nicht, mein Gnädigster, hinfort noch in Gegenwart Ihrer Mutter statt Andrei Petrowitsch nur ‚Werssiloff‘ zu sagen,[8] desgleichen nicht in meiner Gegenwart, – das dulde ich nicht!“ Tatjana Pawlownas Augen blitzten.
„Mama, ich habe heute mein Monatsgehalt erhalten, fünfzig Rubel; hier, bitte, nehmen Sie sie.“
Ich trat zu ihr und gab ihr das Geld; sie war sofort wieder erschrocken und aufgeregt.
„Ach, ich weiß nicht, ob ich es annehmen soll!“ sagte sie ängstlich, als fürchte sie sich, das Geld zu berühren.
Ich verstand sie nicht.
„Aber ich bitte Sie, Mama, wenn Sie beide mich als Sohn und Bruder betrachten, so ...“
„Ach, ich fühle mich schuldig vor dir ... ich würde dir etwas gestehen, aber ich wage nicht ...“
Sie sagte es mit einem schüchternen und bittenden Lächeln. Ich verstand sie wieder nicht und unterbrach sie:
„Übrigens, ist es Ihnen bekannt, Mama, daß heute der Prozeß Andrei Petrowitschs mit den Ssokolskis seinen Abschluß gefunden hat?“
„Ach, ich weiß!“ rief sie erschrocken aus und legte vor Schreck die Handflächen zusammen (ihre gewöhnliche Gebärde).
„Heute?“ Tatjana Pawlowna zuckte am ganzen Körper zusammen. „Aber das kann doch nicht sein, er hätte es sonst gesagt! Hat er es dir gesagt?“ wandte sie sich an meine Mutter.
„Ach nein, daß es heute sei, das hat er nicht gesagt. Aber ich habe schon die ganze Woche solche Angst gehabt. Meinetwegen kann er ihn verlieren, ich würde ein Gebet sprechen, wenn es nur überstanden wär’ und alles wieder beim alten bliebe, ach wirklich!“
„So hat er es nicht einmal Ihnen gesagt, Mama!“ rief ich aus. „Da sieht man, was für ein Mensch das ist! Da haben wir gleich ein Beispiel seines Hochmuts und seiner Gleichgültigkeit, – was habe ich soeben noch gesagt?“
„Aber wie, womit hat es denn geendet, wie hat man entschieden? Wer hat dir das überhaupt gesagt?“ stieß Tatjana Pawlowna erregt hervor und stürzte sich auf mich. „So sprich doch endlich!“
„Da kommt er ja selbst! Vielleicht wird er was erzählen,“ sagte ich, da ich seine Schritte im Korridor hörte, und setzte mich schnell neben Lisa.
„Bruder, um Gottes willen, schone Mama und sei gegen Andrei Petrowitsch nachsichtig,“ flüsterte mir die Schwester zu.
„Das werde ich, das werde ich, mit diesem Vorsatz bin ich ja heute zurückgekehrt,“ sagte ich und drückte ihr die Hand.
Sie sah mich sehr mißtrauisch an, – und hatte recht.