I.

Ich gebe alle diese Szenen wieder, ohne mich selbst dabei zu schonen, um mir alles deutlich zu vergegenwärtigen und die Eindrücke richtig wiederherzustellen. Als ich oben in meinem Zimmer angelangt war, wußte ich überhaupt nicht, ob ich mich schämen oder ob ich stolz sein sollte, wie einer, der seine Pflicht getan hat. Wäre ich nur ein wenig erfahrener gewesen, so hätte ich gewußt, daß selbst der geringste Zweifel in solchem Fall den Ausschlag zuungunsten des Zweiflers gibt. Aber ein Umstand verwirrte mich endgültig: daß ich dabei so froh war, ich weiß nicht worüber, aber ich war furchtbar froh, obwohl ich zweifelte und einsah, daß ich unten schlecht abgeschnitten hatte. Ja selbst daß Tatjana Pawlowna mich so boshaft beschimpft hatte, erschien mir nur komisch und unterhaltend und ärgerte mich nicht im geringsten. Wahrscheinlich wirkte das alles nur deshalb so, weil ich immerhin die Kette zerrissen hatte und mich nun zum erstenmal vollkommen frei fühlte. Ich fühlte auch, daß ich meine Stellung zu ihnen verdorben hatte: jetzt war ich mir noch viel mehr im unklaren darüber, was ich mit dem von Krafft erhaltenen Brief, der die Erbschaft betraf, anfangen sollte. Wenn ich ihn jetzt noch übergab, würde man entschieden glauben, ich wollte mich an Werssiloff rächen. Aber schon unten, während dieser ganzen Auseinandersetzungen, hatte ich bereits bei mir beschlossen, diese Erbschaftsfrage mit dem Brief von einem Dritten entscheiden zu lassen, und zwar von Wassin, an den ich mich wie an einen Schiedsrichter wenden wollte, oder wenn er es ablehnte, dann von jemand anders – ich wußte schon, von wem. Ich sagte mir: nur einmal, nur zu diesem Zweck, werde ich zu Wassin gehen, dann aber – dann verschwinde ich für alle auf lange Zeit, auf mehrere Monate, und für Wassin noch ganz besonders. Nur meine Mutter und meine Schwester werde ich vielleicht manchmal sehen. Das war alles ziemlich wirr in mir; ich fühlte, daß ich etwas getan hatte, aber nicht so, wie es hätte sein sollen, und – und ich war trotzdem zufrieden. Ich wiederhole: ich war dennoch froh über irgend etwas.

Für diesen Abend nahm ich mir vor, früher schlafen zu gehen, da ich am nächsten Tage weite Wege zu machen hatte. Zunächst mußte ich mir ein Zimmer mieten und umziehen, und dann faßte ich noch verschiedene Entschlüsse, die ich, so oder so, gleich ausführen wollte. Aber dieser denkwürdige Abend sollte nicht ohne eine seltsame Überraschung enden: Werssiloff verstand es, mich noch in höchstes Erstaunen zu setzen. Er war noch nie in mein Stübchen gekommen, und nun plötzlich, ich hatte noch keine Stunde bei mir oben gesessen, hörte ich seine Schritte auf der Treppe: er rief mir zu, ich sollte ihm leuchten. Ich ging mit der Kerze zur Tür und half ihm, auf der kleinen Treppe heraufzusteigen, indem ich ihm die Hand nach unten entgegenstreckte, die er auch ergriff.

„Merci, mein Freund, bisher bin ich noch nie hier heraufgeklettert, nicht einmal, als ich die Wohnung mietete. Ich ahnte, was hier ungefähr sein konnte, aber ... einen solchen Hundestall habe ich doch nicht vermutet.“ Er war in der Mitte meines Stübchens stehengeblieben und schaute sich neugierig um. „Aber das ist ja ein Sarg, ein richtiger Sarg!“

Das Stübchen hatte allerdings eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Inneren eines Sarges, und ich wunderte mich, wie richtig er das sofort herausgefunden und ausgedrückt hatte. Es war ein schmaler, länglicher Raum; in Schulterhöhe neigte sich die Wand in stumpfem Winkel nach vorn, in der Schrägheit des Giebeldaches, und stieß oben wieder in stumpfem Winkel mit der Decke zusammen, die ich mit der Handfläche berühren konnte. Werssiloff hielt sich anfangs unwillkürlich gebückt, als fürchte er, unversehens mit dem Kopf anzustoßen; aber schließlich sah er, daß nichts zu befürchten war, und setzte sich ziemlich ruhig auf meinen Diwan, auf dem schon mein Nachtlager hergerichtet war. Ich setzte mich nicht und betrachtete ihn mit der größten Verwunderung.

„Deine Mutter sagte soeben, sie hätte nicht gewußt, ob sie das Geld von dir annehmen sollte, das du ihr vorhin für Beköstigung und Wohnung angeboten hast. Nun, im Hinblick auf diesen Sarg darf man das Geld nicht nur nicht annehmen, sondern ganz im Gegenteil, dir müßte von uns noch zugezahlt werden! Ich bin hier noch nie gewesen und ... kann mir nicht denken, daß es überhaupt möglich ist, hier zu leben.“

„Ich habe mich daran gewöhnt. Daß ich aber Sie jetzt bei mir sehe, daran kann ich mich auf keine Weise gewöhnen – nach alledem, was sich unten zugetragen hat.“

„Nun ja, du warst unten beträchtlich grob, aber ... ich habe gleichfalls meine besonderen Zwecke, die ich dir auch erklären werde, obschon in meinem Kommen, nebenbei bemerkt, nichts Außergewöhnliches liegt. Selbst das, was sich unten zugetragen hat, auch das ist alles nur in der Ordnung der Dinge; aber erkläre mir, ich bitte dich, nur das eine: war das, was du uns dort unten erzähltest, und wozu du uns so feierlich und großartig vorbereitet hast – war das nun wirklich alles, was du uns eröffnen oder mitteilen wolltest, hattest du weiter nichts zu sagen?“

„Das war alles. Das heißt, nehmen wir an, daß es alles war.“

„Dann war es etwas wenig, mein Freund, ich muß gestehen, nach deinem Anfang, und wie du uns alle zum Lachen gereizt hast, und als ich dann noch sah, wie sehr es dich drängte, zu erzählen – da erwartete ich Größeres.“

„Sollte Ihnen das nicht ganz gleich sein?“

„Ich spreche im Grunde ja nur aus dem Maßgefühl heraus; das war dieses große Vorspiel nicht wert, da war das Maßverhältnis gestört. Einen ganzen Monat hast du geschwiegen, dich gesammelt, und plötzlich – ist nichts dahinter.“

„Ich wollte vieles erzählen, aber ich schäme mich schon, daß ich dies wenige erzählt habe. Es läßt sich nicht alles erzählen, so in Worten ausdrücken, manches wird am besten nie erzählt. Ich aber habe doch genug gesagt, und dennoch haben Sie nichts verstanden.“

„Ah, auch du leidest also manchmal darunter, daß ein Gedanke sich nicht in Worte hineinzwängen läßt! Das ist ein edler Schmerz, mein Freund, und wird nur Auserwählten gegeben; ein Dummkopf ist immer zufrieden mit dem, was er gesagt hat, und außerdem sagt er immer mehr als nötig ist; viel Lärm um nichts.“

„Wie zum Beispiel ich vorhin; auch ich sagte mehr als nötig war; ich verlangte den ‚ganzen Werssiloff‘ – das ist viel mehr als nötig ist; ich brauche Werssiloff überhaupt nicht.“

„Mein Freund, du willst, wie ich sehe, das wieder einholen, was du unten verloren hast. Du scheinst zu bereuen, und da bereuen bei uns nichts anderes heißt, als sofort wieder einen anderen angreifen, so möchtest du mich diesmal gut treffen und nicht wieder vorbeischlagen. Ich bin zu früh gekommen, du bist noch nicht abgekühlt, und zudem fällt es dir sehr schwer, Kritik zu ertragen. Aber so setze dich doch, um Gotteswillen, – ich bin gekommen, um dir etwas mitzuteilen. So, danke. Aus dem, was du unten von dem Fortgehen deiner Mutter sagtest, geht nur zu klar hervor, daß es unter allen Umständen am besten ist, wenn wir uns trennen. Ich bin nun zu dir gekommen, um dich zu bitten, das nach Möglichkeit weniger schroff und ohne einen Skandal zu tun, damit es deine Mutter nicht noch mehr betrübt und erschreckt. Schon daß ich selbst zu dir ging, hat ihr Hoffnung gemacht: sie glaubt, wir würden uns noch versöhnen, und dann werde wieder alles beim alten bleiben. Und ich glaube, wenn wir jetzt hier oben ein- oder zweimal etwas lauter lachen würden, so würden wir ihrem schüchternen Herzen die größte Freude bereiten. Mögen es auch nur schlichte Herzen sein, aber sie lieben doch so innig und ungekünstelt, weshalb sollte man da nicht etwas gut zu ihnen sein, wenn sich Gelegenheit dazu bietet? Das wäre das eine. Und dann zweitens: Warum sollen wir denn mit Rachedurst, mit Zähneknirschen und grimmigen Schwüren auseinandergehen? Zweifellos haben wir nicht die geringste Veranlassung, uns gegenseitig um den Hals zu fallen, aber man kann sich doch auch trennen und sich dabei gegenseitig achten, nicht wahr?“

„Das ist alles – Unsinn! Ich verspreche, ohne Skandal das Haus zu verlassen – und das genügt. Sie sagen, Sie bemühten sich um meiner Mutter willen? Und mir will es scheinen, daß die Ruhe der Mutter hiermit nichts zu tun hat und Sie nur so reden.“

„Du glaubst mir nicht?“

„Sie sprechen mit mir entschieden wie mit einem kleinen Kinde!“

„Mein Freund, ich bin ja bereit, dich tausendmal um Verzeihung zu bitten, für all das, was du mir da vorwirfst, für alle diese Jahre deiner Kindheit und so weiter, aber, cher enfant, was käme denn dabei heraus? Du bist so klug, daß du es wohl selbst nicht wünschen wirst, dich in einer so dummen Lage zu befinden. Ich will noch nicht einmal davon reden, daß ich den Charakter deiner Vorwürfe sogar bis jetzt noch nicht verstehe. In der Tat, was machst du mir nun eigentlich zum Vorwurf? Daß du nicht als ein Werssiloff geboren bist? Oder nicht? Bah! Du lachst verächtlich und wehrst mit der Hand ab, also ist es nicht das?“

„Versichere Sie, nein. Und ich kann auch keine besondere Ehre darin finden, Werssiloff zu heißen.“

„Lassen wir die Ehre beiseite; zudem mußte ja deine Antwort unbedingt demokratisch sein; aber wenn es nicht das ist, was ist es dann?“

„Tatjana Pawlowna hat vorhin alles gesagt, was mir klargemacht werden mußte, da ich von selbst niemals darauf verfallen wäre: Sie haben mich nicht zu einem Schuster in die Lehre gegeben, folglich muß ich noch dankbar sein. Ich verstehe nur nicht, warum ich undankbar bin, sogar jetzt noch, sogar nachdem man mich aufgeklärt hat. Spricht da nicht am Ende Ihr stolzes Blut, Andrei Petrowitsch?“

„Wahrscheinlich nicht. Und außerdem wirst du zugeben müssen, daß alle deine Ausfälle unten, statt mich zu treffen, wie du es wolltest, nur deine Mutter getroffen und gepeinigt haben. Indessen sollte man meinen, nicht dir stünde es zu, sie zu richten. Und worin besteht denn ihre Schuld vor dir? Und vielleicht erklärst du mir auch, mein Freund, aus welchem Grunde und zu welchem Zweck du in der Schule und auf dem Gymnasium und überall, und sogar dem ersten besten, dem du vorgestellt wurdest, wie ich gehört habe, von deiner illegitimen Geburt erzählt hast? Man sagte mir, du hättest das mit einer besonderen Vorliebe getan. Und dabei ist das ein Nonsens und eine häßliche Verleumdung; denn du bist legitim geboren als Sohn Makar Iwanowitsch Dolgorukis, eines ehrenwerten und sowohl durch Verstand als Charakter ausgezeichneten Menschen. Wenn du aber eine höhere Bildung erhalten hast, so verdankst du das allerdings deinem ehemaligen Gutsherrn Werssiloff, doch was hat das mit deiner Herkunft zu tun? Indem du aber selbst von deiner illegitimen Herkunft erzählst, was selbstverständlich an sich schon eine Verleumdung ist, hast du das Geheimnis deiner Mutter preisgegeben und, aus einer Art von falschem Stolz, deine Mutter vor den Richterstuhl jedes ersten besten Lumpen gezogen. Mein Freund, das ist sehr unfein, um so mehr, als deine Mutter persönlich an nichts schuld ist: sie ist das reinste Wesen, das ich kenne, und wenn sie nicht den Namen Werssiloff trägt, so liegt das nur daran, daß sie bis auf den heutigen Tag mit einem anderen verheiratet ist.“

„Genug, ich bin mit Ihnen vollkommen einverstanden und halte Sie für so klug, daß ich hoffe, Sie werden mir nicht gar zu lange den Kopf waschen. Sie lieben ja so sehr das Maßhalten; und schließlich muß es doch für alles ein Maß geben, selbst für Ihre plötzliche Liebe zu meiner Mutter. Aber ich würde Ihnen folgenden Vorschlag machen: da Sie sich nun einmal entschlossen haben, bei mir vorzusprechen und eine viertel oder eine halbe Stunde hier zu sitzen (ich weiß noch immer nicht, wozu eigentlich, aber nehmen wir an, es sei zur Beruhigung meiner Mutter) – und da Sie außerdem so bereitwillig mit mir sprechen, ungeachtet dessen, was unten vorgefallen ist, so erzählen Sie mir lieber von meinem Vater – eben von diesem Makar Iwanoff, dem Pilger. Gerade von Ihnen würde ich gern Näheres über ihn hören, ich habe Sie sogar früher schon immer nach ihm fragen wollen. Und dann möchte ich, daß Sie mir noch etwas beantworten, gerade jetzt, bevor wir uns trennen, vielleicht auf lange. Das ist: Haben Sie denn wirklich in diesen ganzen zwanzig Jahren nicht so weit auf die Vorurteile meiner Mutter einzuwirken vermocht, und ebenso auf meine Schwester – gerade Sie, mit Ihrem ganzen bildenden Einfluß –, daß meine Mutter wenigstens aus der Finsternis ihrer früheren bäuerlichen Umgebung herausgekommen wäre? Oh, ich spreche nicht von ihrer Reinheit! Sittlich hat sie auch so immer weit über Ihnen gestanden, verzeihen Sie, aber sie ist doch nur eine unendlich viel höherstehende – Tote. Nur Werssiloff lebt, alle übrigen um ihn herum und alles mit ihm Verbundene vegetiert nur unter der einen Bedingung, die Ehre zu haben, ihn mit den eigenen Kräften, den eigenen Lebenssäften ernähren zu dürfen. Aber auch meine Mutter muß doch einmal lebendig gewesen sein? In irgend etwas an ihr haben Sie sich doch verliebt? Auch sie ist doch einmal ein Weib gewesen!“

„Mein Freund, vielleicht ist sie das nie gewesen,“ antwortete er mir, indem er sogleich wieder in seine anfängliche Manier verfiel, – in diese Manier mit mir zu sprechen, die mich so ärgerte, und die ich noch so gut im Gedächtnis habe! Das heißt, anscheinend ist er die Aufrichtigkeit selbst, sieht man aber näher zu – so ist an ihm alles nur tiefster Spott, so daß ich aus seinem Gesicht manchmal gar nicht klug werden konnte. „Ist das nie gewesen! Die russische Frau – ist niemals Weib.“

„Ach, und die Polin, die Französin, die ist es etwa? Oder die Italienerin, die leidenschaftliche Italienerin, die so einen zivilisierten Russen der höheren Stände, von der Art eines Werssiloff, zu bezaubern versteht?“

„Nun sag’ einer,“ rief er lachend aus, „hätte ich ahnen können, daß ich hier auf einen Slawophilen stoßen würde!“

Ich erinnere mich Wort für Wort unseres Gesprächs: Er begann sogar mit großer Bereitwilligkeit und sichtlichem Vergnügen zu erzählen. Es war mir nur zu klar, daß er durchaus nicht deshalb zu mir gekommen war, um sich mit mir zu unterhalten, und ebensowenig deshalb, um meine Mutter zu beruhigen, sondern unbedingt aus ganz anderen Gründen.

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