Krafft hatte früher irgendwo eine Stellung gehabt, war aber gleichzeitig dem verstorbenen Andronikoff bei der Führung verschiedener Privatgeschäfte, mit denen sich dieser beständig noch neben seiner Amtstätigkeit befaßt hatte, behilflich gewesen (natürlich gegen eine materielle Entschädigung). Für mich war es nun von besonderer Wichtigkeit, daß Krafft, eben als ehemaliger Mitarbeiter Andronikoffs, in vieles von dem, was mich so sehr interessierte, eingeweiht sein konnte. Außerdem hatte mir Marja Iwanowna gesagt – die Frau Nikolai Ssemjonowitschs, bei dem ich als Gymnasiast lange Jahre gelebt habe, und die als leibliche Nichte und Pflegetochter Andronikoffs dessen Liebling gewesen war –, daß Krafft sogar „beauftragt“ sei, mir etwas zu übergeben. Deshalb hatte ich denn auch den ganzen Monat mit Spannung auf ihn gewartet.
Er lebte in einer kleinen Wohnung von zwei Zimmern, wohnte dort ganz allein, und jetzt, nach der Rückkehr von der Reise, sogar ohne Bedienung. Sein Koffer war zwar schon aufgeschlossen, doch noch nicht ausgepackt; ein Teil der Sachen lag auf den Stühlen umher, und auf dem Tisch vor dem Sofa lagen ein Reisesack, ein Necessaire, ein Revolver und noch verschiedenes andere. Als wir eintraten, war Krafft tief in Gedanken versunken und schien mich ganz vergessen zu haben; ja, vielleicht war es ihm überhaupt nicht zum Bewußtsein gekommen, daß ich unterwegs nicht mit ihm gesprochen hatte. Er begann sogleich irgend etwas zu suchen, doch als er dabei zufällig in den Spiegel sah, blieb er stehen und betrachtete sich eine ganze Weile aufmerksam. Das fiel mir zwar als sonderbar auf (und später habe ich mich alles dessen nur zu gut erinnert), aber in jenem Augenblick war ich sehr niedergeschlagen und verwirrt. Ich hatte nicht die Kraft, meine Gedanken zu konzentrieren. Plötzlich wollte ich kurz entschlossen fortgehen und „die ganze Sache für immer aufgeben“. Ja, und was war denn das alles, genau genommen? War es nicht eine ganz unnützerweise mir von mir selbst eingeredete Sorge? Der Gedanke war zum Verzweifeln, daß ich hier einzig aus Sentimentalität eine Menge Energie auf wertlose Kleinigkeiten verschwendete, während eine so große Aufgabe, wie ich sie vor mir sah, meiner ganzen Energie restlos bedurfte. Indessen aber hatte sich meine Unfähigkeit zu einer ernsten Sache, wie mir schien, durch das, was bei Dergatschoff geschehen war, schon selbst ein glänzendes Zeugnis ausgestellt.
„Sagen Sie, Krafft, werden Sie jemals wieder zu diesen da ... hingehen?“ fragte ich ihn plötzlich. Er wandte sich langsam zu mir und sah mich an, als verstünde er mich nicht recht. Ich setzte mich auf einen Stuhl.
„Verzeihen Sie ihnen!“ sagte er da auf einmal.
Ich hielt das im ersten Augenblick natürlich für Spott; doch wie ich ihn prüfend ansah, gewahrte ich in seinem Gesicht einen Ausdruck so seltsamer und erstaunlicher Treuherzigkeit, daß es mich selber wundernahm, wie er mich denn so im Ernst hatte bitten können, ihnen zu „verzeihen“. Er nahm einen Stuhl und setzte sich neben mich.
„Ich weiß es selbst, daß ich vielleicht nur ein Konglomerat aller Ehrgeize bin und nichts weiter,“ begann ich, „aber um Verzeihung bitte ich nicht.“
„Und es ist ja auch niemand da, den Sie bitten könnten,“ sagte er ernst und leise. Er sprach die ganze Zeit leise und sehr langsam.
„Mag ich auch tausendmal vor mir selber schuldig sein ... Ich liebe es, mich vor mir schuldig zu fühlen ... Krafft, verzeihen Sie, daß ich Ihnen nicht die Wahrheit sage! – Sagen Sie, gehören Sie denn wirklich auch zu diesem Kreise? Das war es, was ich Sie fragen wollte.“
„Die dort sind nicht dümmer als andere und nicht klüger; sie sind – geisteskranke Menschen wie alle.“
„Sind denn alle geisteskrank?“ Ich wandte mich zu ihm und sah ihn mit unwillkürlicher Neugier an.
„Von den besseren sind jetzt alle geisteskrank. In jubilo gelebt wird nur von der geistigen Mittelmäßigkeit und Unbegabtheit ... Übrigens, wozu davon reden, es lohnt ja nicht.“
Während er sprach, schaute er vor sich in die Luft, jedoch ohne etwas zu sehen, begann seine Sätze und brach sie wieder ab. Was mir ganz besonders auffiel, war eine gewisse wehmütige Mutlosigkeit in seiner Stimme.
„Sollte auch Wassin zu ihnen gehören? In Wassin steckt Verstand, Wassin hat eine sittliche Idee!“ rief ich.
„Sittliche Ideen gibt es jetzt überhaupt nicht; plötzlich erwies es sich, daß keine einzige vorhanden war, und die Hauptsache, es ist, als hätte es auch früher nie welche gegeben.“
„Wie, auch früher nicht?“
„Lassen wir dies lieber,“ sagte er sichtlich ermüdet.
Sein trauriger Ernst ging mir nahe. Ich schämte mich meiner Selbstsucht und versuchte, auf seinen Ton einzugehen.
„Unsere Zeit,“ begann er selbst wieder nach einer Weile, dabei immer noch vor sich in die Luft starrend, „unsere Zeit ist das Zeitalter der goldenen Mittelmäßigkeit und der Gefühlsstumpfheit, der größten Vorliebe für Unwissenheit und Faulheit, ist das Zeitalter der Unfähigkeit zur Tat und des Verlangens, alles fertig vorzufinden. Kein Mensch denkt nach; selten bringt es jemand bis zu einer eigenen Idee.“
Er schwieg eine Weile, dann fuhr er fort:
„Jetzt fällen sie in Rußland die Wälder, erschöpfen den Boden, verwandeln das Land in eine Steppe und bereiten es für die Kalmücken vor. Sollte aber ein Mensch noch Hoffnung haben und einen jungen Baum pflanzen – da würden sie ihn einfach auslachen: ‚Wirst du denn noch bis zur Nutznießung leben?‘ Die aber, die das Gute wollen, die verbringen ihr Leben in Debatten über das, was nach tausend Jahren sein wird. Jede festigende Idee fehlt den Menschen. Alle sind wie auf einer Bahnstation, und es ist, als müßten sie morgen schon hinaus aus Rußland, alle leben, als dächten sie: wenn’s nur für uns noch langt!“
„Erlauben Sie, Krafft, Sie sagten: die das Gute wollen, die dächten nur daran, was nach tausend Jahren sein wird. Nun, aber Ihr Verzweifeln ... an Rußlands Schicksal ... ist das – ist das nicht eine Sorge von derselben Art?“
„Das – das ist die erste und wichtigste Frage, die es für uns heute überhaupt gibt!“ stieß er gereizt hervor und erhob sich schnell.
„Ach so! Da hätte ich es fast vergessen!“ sagte er plötzlich, wie sich besinnend und mit ganz anderer Stimme, und dabei sah er mich wie selbst überrascht und gleichsam zweifelnd an. „Ich habe Sie wegen einer bestimmten Angelegenheit zu mir gebeten, und statt dessen ... Ich bitte Sie tausendmal um Entschuldigung.“
Es war, als wäre er aus einem Traum erwacht und deshalb etwas verwirrt. Er entnahm seinem Portefeuille, das auf dem Tisch lag, einen Brief und übergab ihn mir.
„Dies hier sollte ich Ihnen einhändigen. Dieser Brief hat die Bedeutung eines Dokuments, das von einer gewissen Wichtigkeit ist,“ begann er, sichtlich mit konzentrierter Aufmerksamkeit und sehr sachlich. Lange nachher habe ich ihn noch in der Erinnerung bewundern müssen wegen dieser seiner Fähigkeit, sich mit so aufrichtiger Teilnahme (und das noch in diesen Stunden!) einer fremden Angelegenheit widmen, so ruhig und gewissenhaft und unbeirrt den Sachverhalt klarlegen zu können.
„Es ist das ein Brief von eben jenem Stolbejeff, nach dessen Tode es wegen seiner Nachlassenschaft zwischen Werssiloff und den Fürsten Ssokolski zum Prozeß gekommen ist. Die Sache ist noch nicht entschieden, aber aller Voraussicht nach wird das Gericht die Erbschaft Werssiloff zusprechen; für ihn spricht jedenfalls das Gesetz. In diesem Brief aber, einem Privatbrief, der vor zwei Jahren geschrieben ist, spricht der verstorbene Stolbejeff seinen Willen in betreff des Vermächtnisses aus, oder richtiger gesagt, seinen Wunsch, und das eher zugunsten der Fürsten als zugunsten Werssiloffs. Wenigstens erhalten die Punkte, auf die sich die Fürsten bei der Anfechtung des Testaments berufen, durch diesen Brief eine starke Stütze. Werssiloffs Gegner würden deshalb viel für dieses Dokument geben, obschon dasselbe, wie gesagt, noch längst nicht von entscheidender Bedeutung ist. Alexei Nikanorowitsch Andronikoff, der sich mit Werssiloffs Angelegenheiten befaßte, bewahrte diesen Brief bei sich auf, und erst kurz vor seinem Tode gab er ihn mir mit der Bitte, ihn bei mir ‚aufzubewahren‘, – vielleicht fürchtete er für seine Papiere, da er seinen Tod wohl voraussah. Übrigens will ich mich nicht in Mutmaßungen über seine Beweggründe zu dieser Handlungsweise ergehen, aber – ich muß gestehen, daß ich mich nach seinem Tode in einer peinigenden Ungewißheit befand: ich wußte nicht, was ich mit diesem Dokument anfangen sollte, besonders da die gerichtliche Entscheidung in diesem Prozeß schon so nahe bevorstand. Aus dieser schwierigen Situation befreite mich zum Glück Marja Iwanowna, der Andronikoff bei seinen Lebzeiten, wie mir scheint, vieles anvertraut hat. Sie schrieb mir – ungefähr vor drei Wochen – mit aller Bestimmtheit, ich solle den Brief gerade Ihnen übergeben, das würde ‚wahrscheinlich‘ (dies ist ihr Ausdruck) auch mit dem Wunsch des verstorbenen Andronikoff übereinstimmen. So, und nun habe ich das Dokument Ihnen eingehändigt, und es freut mich sehr, daß ich das endlich habe tun können.“
„Hören Sie mal,“ sagte ich, noch ganz bestürzt durch diese unerwartete Neuigkeit, „aber was soll ich denn jetzt mit diesem Brief anfangen? Wie soll ich handeln?“
„Das hängt nun schon von Ihrem Ermessen ab; ganz wie Sie wollen.“
„Unmöglich, ich bin doch entsetzlich gebunden, das müssen Sie doch selbst zugeben! Werssiloff hat so auf diese Erbschaft gewartet ... und wissen Sie, ohne diese Hilfe ist er einfach verloren – und da existiert nun plötzlich dieses Dokument!“
„Es existiert nur hier, in diesem Zimmer.“
„Ist das wirklich so?“ Ich sah ihn scharf an.
„Wenn Sie in diesem Fall nicht selber wissen, wie Sie handeln sollen, was kann ich Ihnen dann noch raten?“
„Aber dem Fürsten Ssokolski kann ich den Brief doch auch nicht geben: damit würde ich alle Hoffnungen Werssiloffs zerstören, und überdies würde ich dann geradezu als Verräter vor ihm dastehen ... Andererseits, wenn ich den Brief Werssiloff gebe, so stürze ich Unschuldige in die größte Armut, und ihn selbst brächte ich in eine Zwangslage, aus der es keinen anderen Ausweg gibt, als – entweder auf die Erbschaft verzichten oder Diebstahl begehen.“
„Sie überschätzen die Bedeutung des Briefes gar zu sehr.“
„Sagen Sie mir eines: hat dieser Brief als Dokument einen endgültig entscheidenden Charakter?“
„Nein, den hat er nicht. Ich bin kein großer Jurist, aber der Anwalt der Gegenpartei würde natürlich wissen, wie er sich dieses Dokuments zu bedienen hätte, und selbstverständlich würde er den größtmöglichen Nutzen aus ihm herausschlagen; aber Andronikoff behauptete positiv, daß dieser Brief, wenn er vorgezeigt werden sollte, doch von keiner großen juridischen Bedeutung wäre, so daß Werssiloff dennoch den Prozeß gewinnen könnte. Die Bedeutung dieses Dokuments ist also, wenn man will, eher unter dem Gesichtswinkel einer Gewissenssache aufzufassen ...“
„Ja, aber gerade das ist doch das wichtigste,“ unterbrach ich ihn, „eben deshalb käme Werssiloff in eine rettungslose Lage!“
„Er kann ja das Dokument auch vernichten, und dann wäre er, im Gegenteil, von aller Gefahr befreit.“
„Haben Sie besondere Gründe, eine solche Handlungsweise von ihm zu erwarten, Krafft? Das ist es, was ich wissen will: deshalb bin ich auch hier bei Ihnen!“
„Ich glaube, an seiner Stelle würde ein jeder so handeln.“
„Und Sie – Sie auch?“
„Mir fallen keine Erbschaften zu, daher kann ich es von mir nicht sagen.“
„Nun gut,“ sagte ich und steckte den Brief in die Tasche. „Diese Sache mag vorläufig abgetan sein. Aber jetzt hören Sie mich an, Krafft. Marja Iwanowna, die mir übrigens – ich versichere Sie – vieles anvertraut hat, sagte mir, nur Sie, Sie allein könnten mir die Wahrheit darüber sagen, was sich vor anderthalb Jahren in Ems zwischen Werssiloff und den Achmakoffs zugetragen hat. Ich habe auf Sie gewartet wie auf die Sonne, die mir alles erhellen werde. Sie kennen meine Lage nicht. Ich bitte, ich beschwöre Sie, Krafft, sagen Sie mir die ganze Wahrheit! Ich will, ich muß wissen, was für ein Mensch er ist, und jetzt – gerade jetzt ist das für mich mehr als je von allergrößter Wichtigkeit.“
„Es wundert mich, daß Marja Iwanowna Ihnen nicht selbst alles gesagt hat; sie konnte doch alles vom verstorbenen Andronikoff erfahren, und natürlich hat sie das auch, weshalb sie vielleicht mehr weiß als ich.“
„Ja, aber Andronikoff habe in dieser Sache selbst nicht ganz klar gesehen, sagte sie mir. Wie mir scheint, kann überhaupt kein Mensch diese verworrene Geschichte entwirren! Da würde selbst der Teufel mit den Beinen im Garn stecken bleiben! Von Ihnen aber weiß ich, daß Sie damals gleichfalls in Ems waren ...“
„Nicht die ganze Zeit. Erst zum Schluß. Doch was ich weiß, kann ich Ihnen ja erzählen, nur fragt es sich, ob ich Sie damit zufriedenstellen werde?“