II.

Ich will das, was er mir damals erzählte, nicht wortgetreu wiedergeben, sondern beschränke mich auf eine gekürzte Darstellung des Sachverhalts, soweit ihm dieser bekannt war.

Vor anderthalb Jahren war Werssiloff mit der Familie Achmakoff, die er durch den alten Fürsten Ssokolski kennen gelernt hatte (alle hielten sich zu der Zeit in Bad Ems auf), sehr befreundet gewesen und hatte namentlich auf den General Achmakoff einen großen Eindruck gemacht. Der General war noch kein alter Mann, hatte aber in den drei Jahren seiner Ehe bereits die ganze große Mitgift seiner zweiten Frau, der Tochter des alten Fürsten Ssokolski, Katerina Nikolajewna, am Kartentisch verspielt, und infolge seines zügellosen Lebens schon einen Schlaganfall gehabt. Von diesem Schlaganfall erholte er sich im Auslande, in Ems aber lebte er wegen seiner Tochter, des einzigen Kindes aus seiner ersten Ehe. Es war das ein kränkliches Mädchen von siebzehn Jahren, brustleidend, und wie man erzählt, soll sie sehr schön gewesen sein, zugleich aber auch ungeheuer phantastisch. Eine Mitgift besaß sie nicht, doch man hoffte auch in der Beziehung, wie überhaupt, auf den alten Fürsten. Von Katerina Nikolajewna heißt es allgemein, daß sie eine gute Stiefmutter gewesen sei. Aber das junge Mädchen hing aus irgendeinem Grunde mit rührender Liebe an Werssiloff. Er predigte damals „etwas Leidenschaftliches“, wie Krafft sich ausdrückte, irgendein neues Leben, und war „im höheren Sinne religiös gestimmt“, nach einem seltsamen und vielleicht sogar spöttischen Ausdruck Andronikoffs, der mir auch von anderer Seite wiedergegeben worden ist. Merkwürdig bleibt aber trotzdem, daß ihn bald alle nicht mehr mochten. Ja, der General begann ihn sogar zu fürchten. Krafft stellte auch das Gerücht durchaus nicht in Abrede, wonach es Werssiloff gelungen sei, den kranken General mittelbar auf den Gedanken zu bringen, daß Katerina Nikolajewna gegen den jungen Fürsten Ssokolski, der damals schon Ems verlassen und sich nach Paris begeben hatte, nicht gleichgültig sei. Gesagt habe er ihm das nicht offen und unmißverständlich, sondern „nach seiner Art“, mit mehr allgemein gehaltenen Betrachtungen, Andeutungen und in ihrer Wirkung fein berechneten indirekten Bemerkungen, „in welcher Kunst er ja ein großer Meister ist“, wie Krafft sich ausdrückte. Überhaupt muß ich sagen, daß Krafft ihn eher für einen Betrüger und geborenen Intriganten hielt und halten wollte, als für einen wirklich von etwas Höherem erfüllten oder auch nur originellen Menschen. Ich hatte allerdings schon in Moskau gehört, daß Werssiloff anfangs einen ungeheueren Einfluß auf Katerina Nikolajewna gehabt, später sich aber mit ihr verfeindet habe. Wie es dazu gekommen und was hierbei mit im Spiel gewesen war, konnte ich nun leider auch von Krafft nicht erfahren. Er bestätigte nur, was ich schon wußte: daß beide nach ihrer großen Freundschaft die größten Feinde geworden waren. Dann aber war etwas sehr Sonderbares geschehen: die kranke Stieftochter der Katerina Iwanowna hatte sich augenscheinlich in Werssiloff verliebt; vielleicht war sie durch irgend etwas an ihm bestrickt worden, oder seine Worte hatten sie begeistert, oder – ja, ich weiß nicht, wie das zu erklären wäre. Jedenfalls aber hat Werssiloff eine Zeitlang jeden Tag bei dem jungen Mädchen verbracht. Es endete damit, daß das Mädchen eines Tages dem Vater erklärte, Werssiloff heiraten zu wollen. Diese Tatsache haben mir alle bestätigt, sowohl Krafft wie Andronikoff und Marja Iwanowna; und sogar der verschwiegenen Tatjana Pawlowna ist einmal in meiner Gegenwart unbedachterweise eine diesbezügliche Bemerkung entschlüpft. Desgleichen sagten alle übereinstimmend aus, daß Werssiloff die Ehe mit dem jungen Mädchen nicht nur gewünscht, sondern auf diesem Wunsch sogar unbedingt bestanden habe, und das Einverständnis dieser beiden so ungleichartigen Geschöpfe, des älteren Mannes und des kindlichen Mädchens, somit ein beiderseitiges gewesen sei. Aber den Vater erschreckte dieser Gedanke; er hatte, seitdem seine einst heiße Liebe zu Katerina Nikolajewna zu erkalten begann, seine Tochter fast zu vergöttern angefangen, besonders nach seinem Schlaganfall. Doch als erbittertste Gegnerin einer solchen Ehe war Katerina Nikolajewna selbst aufgetreten. Es kam zu unzähligen, meist heimlichen und höchst unerquicklichen Familienszenen, zu Streit und Kränkungen und – nun, mit einem Wort, zu verschiedenen Gemeinheiten. Der Vater begann schließlich nachzugeben, als er die Hartnäckigkeit seiner verliebten und, wie Krafft sich ausdrückte, „von Werssiloff fanatisierten“ Tochter sah. Aber Katerina Nikolajewna blieb bei ihrem Widerstand, und das sogar mit unerbittlichem Haß. Was nun weiter geschehen ist oder geschehen sein soll, ist eine Verwicklung, die niemand ganz verstehen kann. Ich kann nur wiedergeben, wie Krafft das Ganze auf Grund der ihm bekannten Tatsachen zu deuten versuchte, nur ist seine Auslegung bloß eine von vielen.

Er meinte, Werssiloff habe dem jungen Mädchen auf seine Art fein und glaubwürdig einzuflüstern verstanden, daß Katerina Nikolajewna nur deshalb so sehr gegen diese Heirat sei, weil sie sich selbst in ihn verliebt habe und ihn schon seit langer Zeit mit ihrer Eifersucht quäle, ihn verfolge, intrigiere, ihm sogar schon ihre Liebe gestanden habe und ihn jetzt aus Haß, weil er eine andere liebgewonnen, womöglich umzubringen fähig sei, – kurz, eine häßliche Einflüsterung von ungefähr dieser Art. Noch viel häßlicher war aber die Vermutung, er habe das auch dem General, dem Gatten der „ungetreuen“ Frau, „zu verstehen gegeben“, und gleichzeitig auf den Verkehr der Generalin mit dem jungen Fürsten Ssokolski zur Ablenkung der Aufmerksamkeit hingewiesen. Natürlich wurde nun das Familienleben der Achmakoffs zur Hölle. Von anderer Seite hatte ich aber gehört, daß Katerina Nikolajewna ihre Stieftochter innig geliebt habe und über diese Verleumdung geradezu verzweifelt gewesen sei, ganz abgesehen von der Pein des Zusammenseins mit ihrem kranken Mann. Aber es gibt noch eine Variante, der zu meinem Leidwesen auch Krafft am meisten Glauben schenkte, und die – auch ich am glaubwürdigsten fand (von allen diesen Sachen hatte ich schon früher gehört). Es wurde nämlich behauptet (Katerina Nikolajewna soll es Andronikoff selbst gesagt haben), daß, im Gegenteil, Werssiloff schon früher, das heißt noch bevor das junge Mädchen sich in ihn verliebt hatte, Katerina Nikolajewna seine Liebe angetragen habe; sie aber, die früher sein guter Freund und zeitweilig sogar seine glühende Freundin gewesen war, obschon sie ihm beständig nicht ganz getraut und immer widersprochen hatte, soll diese Liebeserklärung Werssiloffs mit Widerwillen vernommen und ihn mit Hohn zurückgewiesen haben. Und nach seinem unverblümten Vorschlag, nach dem bald zu erwartenden zweiten Schlaganfall und Tode ihres Gatten ihn, Werssiloff, zu heiraten, habe sie ihm dann in aller Form die Tür gewiesen. So war es denn nur zu erklärlich, daß Katerina Nikolajewna einen ganz besonderen Abscheu gegen Werssiloff empfand, als sie dann sah, wie er sich kurz darauf ganz unverhohlen um die Hand ihrer Stieftochter bewarb. Marja Iwanowna, die mir das alles in Moskau erzählte, glaubte selbst sowohl an diese wie an jene Variante, d. h. an beide zugleich: sie behauptete sogar ausdrücklich, daß beides sehr wohl gleichzeitig habe geschehen können, das wäre wie la haine dans l’amour,[22] wie gekränkter Liebesstolz beiderseits usw. usw., mit einem Wort, es lief schließlich auf eine an Romane erinnernde allerfeinste Gefühlsverwirrung hinaus, wie sie jedes ernsten und gesund denkenden Menschen unwürdig ist, und der zum Überfluß noch persönliche Gemeinheit beigemischt war. Doch übrigens braucht das, was Marja Iwanowna sagt, noch nicht maßgebend zu sein; ist sie doch von Kindesbeinen an mit Romanen vollgespickt, und noch jetzt liest sie Tag und Nacht Romane, trotz ihres an sich prächtigen Charakters. Kurz, das Endergebnis des Ganzen war, daß man Werssiloffs unzweifelhafte Niederträchtigkeit sah, – dazu ein Gewebe von Lüge und Intrige, etwas Dunkles und Häßliches, um so mehr, als es tatsächlich tragisch endete: das arme verliebte junge Mädchen vergiftete sich, und zwar, wie man erzählt, mit Phosphorstreichhölzern. Nur habe ich bis heute noch nicht festzustellen vermocht, ob dieses Gerücht auf Wahrheit beruht; jedenfalls hat man dasselbe nach Kräften zu vertuschen gesucht. Tatsache ist aber, daß das Mädchen im ganzen zwei Wochen lang krank war und dann starb. So ist die Auslegung mit den Streichhölzern immerhin zweifelhaft geblieben, aber Krafft glaubte dennoch bedingungslos an diese Todesursache. Bald darauf starb auch der General, wie man sagt, infolge der durch den Tod der geliebten Tochter verursachten schmerzlichen Erschütterung, die einen zweiten Schlaganfall hervorrief. Übrigens starb er doch erst drei Monate nach ihrem Tode. Inzwischen aber war der junge Fürst Ssokolski aus Paris nach Ems zurückgekehrt und hatte Werssiloff öffentlich im Kurpark eine Ohrfeige gegeben, war aber von diesem daraufhin nicht gefordert worden; im Gegenteil, Werssiloff war schon am nächsten Tage wieder auf der Promenade erschienen, als wäre nicht das Geringste vorgefallen. Da hatten sich denn alle von ihm abgewandt, was man später in Petersburg gleichfalls tat. Die wenigen, mit denen Werssiloff einen Verkehr noch fortsetzte, gehörten einem ganz anderen Kreise an. In der Gesellschaft wurde er einstimmig verurteilt, obschon kaum jemand näheres über den wahren Sachverhalt wußte: man hatte im Grunde nur von dem romantischen Tode des jungen Mädchens und von der Ohrfeige gehört. Vollständige Kenntnis von der Sachlage, d. h. soweit das möglich war, hatten nur zwei oder drei Personen; am meisten wußte der verstorbene Andronikoff, da er schon jahrelang zu den Achmakoffs in geschäftlichen Beziehungen gestanden hatte, und besonders in einer gewissen Angelegenheit Katerina Nikolajewnas Ratgeber gewesen war. Doch von allen diesen ihm anvertrauten Geheimnissen erfuhr selbst seine Familie nicht das geringste, nur Krafft und Marja Iwanowna teilte er einiges mit, und auch das nur, weil er sich dazu gezwungen sah.

„Die Hauptsache ist hier nun ein gewisses Dokument,“ schloß Krafft seine Mitteilungen, „vor dem Frau Achmakoff große Angst hat.“

Und er teilte mir folgendes mit:

Die Generalin Achmakoff hatte die Unvorsichtigkeit begangen, als ihr Vater, der alte Fürst Ssokolski, sich im Auslande von seinem Anfall schon zu erholen begann, einen sie selbst höchst kompromittierenden Brief an Andronikoff zu schreiben. Wie verlautet, soll der alte Fürst damals während seiner Genesung tatsächlich wie von einer Verschwendungssucht befallen gewesen sein und das Geld fast zum Fenster hinausgeworfen haben; so hatte er dort im Auslande verschiedene unnötige, doch teure Sachen zu kaufen angefangen, Gemälde, Vasen, hatte größere Summen zu Gott weiß welchen Unternehmungen und sogar zum Besten verschiedener dortiger Anstalten gestiftet, und von einem russischen Lebemann und Verschwender hätte er beinahe unbesehen für eine Riesensumme ein gänzlich heruntergewirtschaftetes und mit Schulden belastetes Gut gekauft; und schließlich soll er sich wirklich mit dem Gedanken an eine neue Heirat getragen haben. Angesichts dieser beängstigenden Aussichten hatte dann seine Tochter, die verwitwete Generalin Achmakoff, die während seiner Krankheit treu bei ihm aushielt, besagten Brief an Andronikoff geschrieben und ihm als Juristen und „alten Freunde“ einfach die Frage vorgelegt, „ob und wie es gesetzlich möglich wäre, den Fürsten unter Vormundschaft zu stellen oder ihn gerichtlich für rechtsunfähig zu erklären, und falls das anginge, welche Schritte man dann zu tun hätte, damit kein Skandal entstünde und niemand ihr irgendwelche Vorwürfe machen könne; doch müßten bei alledem die Gefühle des Vaters geschont werden usw.“ Andronikoff soll ihr davon abgeraten und die Gründe auseinandergesetzt haben, und als dann der Fürst wieder ganz gesund und vernünftig geworden war, da konnte von dieser Idee natürlich nicht mehr die Rede sein. Jener Brief aber verblieb im Besitz Andronikoffs. Da starb aber Andronikoff plötzlich; Katerina Nikolajewna fiel sofort wieder der Brief ein, und sie sagte sich: wenn er sich noch unter den Papieren des Verstorbenen befände und vielleicht auf Umwegen in die Hände ihres alten Vaters gelangte, so würde dieser sie zweifellos auf ewig verstoßen, ihr die ganze Erbschaft entziehen und ihr auch bei Lebzeiten keine Kopeke mehr geben. Der Gedanke, seine einzige Tochter zweifle an seinem Verstande und habe ihn für wahnsinnig erklären lassen wollen, hätte dieses Lamm zweifellos zu einem reißenden Tier gemacht. Sie aber war als Witwe dank der Spielleidenschaft ihres Mannes vollständig mittellos zurückgeblieben und war einzig auf ihren Vater angewiesen; von ihm hoffte sie, und mit Recht, nochmals eine nicht geringere Mitgift zu erhalten als das erstemal.

Von dem weiteren Schicksal jenes Briefes wußte Krafft nichts Näheres, bemerkte aber, Andronikoff habe „Papiere von irgendeiner Bedeutung niemals zerrissen“ und sei außerdem nicht nur ein Mann mit einem „weiten Blick“, sondern auch einer mit einem „weiten Gewissen“ gewesen. (Ich wunderte mich über ein so rücksichtsloses Urteil von seiten Kraffts, der doch den verstorbenen Andronikoff sehr geliebt und geachtet hatte.) Aber obschon Krafft nichts genau wußte, war er persönlich überzeugt, daß das verfängliche Schriftstück in den Besitz Werssiloffs geraten sei, infolge der nahen Bekanntschaft Werssiloffs mit der Witwe und den Töchtern Andronikoffs; es war bereits bekannt, daß diese auf Anordnung des Verstorbenen alle von ihm hinterlassenen Papiere Werssiloff eingehändigt hatten. Auch wußte Krafft, daß Katerina Nikolajewna die Vermutung, der Brief befinde sich in Werssiloffs Händen, bereits bekannt war, und daß gerade diese Möglichkeit sie am meisten ängstigte, da sie befürchtete, Werssiloff werde mit dem Brief alsbald zum alten Fürsten gehen. Er wußte ferner, daß sie nach ihrer Rückkehr aus dem Auslande schon in Petersburg nach dem Brief geforscht hatte, auch schon bei Andronikoffs gewesen war und ihn auch jetzt noch suchte, immer in der Hoffnung, der Brief befinde sich vielleicht doch nicht im Besitze Werssiloffs, und daß sie ausschließlich dieses Briefes wegen nach Moskau gereist war, um dort Marja Iwanowna anzuflehen, die Papiere zu durchsuchen, die von ihr aufbewahrt wurden. Vom Dasein Marja Iwanownas und deren Beziehungen zum verstorbenen Andronikoff hatte sie erst kurz zuvor in Petersburg zum erstenmal gehört.

„Und Sie glauben, daß sie den Brief bei Marja Iwanowna nicht gefunden hat?“ fragte ich ausdrücklich und mit einem Hintergedanken.

„Wenn Marja Iwanowna nicht einmal Ihnen gegenüber etwas vom Brief hat verlauten lassen, dann hat sie ihn vielleicht auch nicht.“

„Und folglich nehmen Sie an, der Brief befinde sich bei Werssiloff?“

„Wahrscheinlich – ja. Übrigens ... ich weiß nicht, alles ist möglich,“ sagte er langsam und sichtlich abgespannt.

Ich gab es auf, ihn weiter auszufragen. Wozu schließlich? Das Hauptsächliche war mir jetzt klar: trotz dieser ganzen unwürdigen Verwirrung hatte sich alles von mir erst nur Befürchtete – bestätigt.

„Das Ganze ist wie ein Fiebertraum,“ sagte ich in tiefer Traurigkeit und griff nach meinem Hut.

„Ihnen ist dieser Mensch wohl sehr teuer?“ fragte mich Krafft mit sichtlicher und großer Teilnahme – sie sprach aus seinen Augen, aus seinem ganzen Gesicht in diesem Augenblick.

„Mir hat schon eine Vorahnung gesagt, daß ich von Ihnen doch nicht alles erfahren würde,“ bemerkte ich. „So bleibt mir nur noch die Hoffnung auf die Achmakoff selbst. Eigentlich habe ich ja auch nur auf sie gehofft. Vielleicht gehe ich zu ihr, vielleicht auch nicht.“

Krafft sah mich etwas befremdet an.

„Leben Sie wohl, Krafft! Wozu sich Leuten aufdrängen, die einen nicht haben wollen? Da ist es doch besser, mit allen zu brechen, meinen Sie nicht?“

„Und dann wohin?“ fragte er eigentümlich hart, und indem er zu Boden sah.

„Zu sich selbst, zu sich selbst! Alle Bande zerreißen und fortgehen zu sich selbst!“

„Nach Amerika?“

„Ach, Amerika! – nein, zu mir selbst, zu mir allein! Sehen Sie, darin besteht ‚meine Idee‘!“ sagte ich begeistert.

Er sah mich seltsam forschend an.

„Und Sie haben einen solchen Ort, wohin Sie ‚zu sich selbst‘ gehen können?“

„Den habe ich. Auf Wiedersehen, Krafft. Ich danke Ihnen, und verzeihen Sie mir die Belästigung! Ich würde an Ihrer Stelle, wenn ich selbst ein solches Rußland im Kopfe hätte, alle zum Teufel jagen: packt euch, intrigiert, zankt euch dort so viel ihr wollt – was geht das mich an.“

„Bleiben Sie noch etwas bei mir,“ sagte er plötzlich, als er mich schon bis zur Tür begleitet hatte.

Ich wunderte mich ein wenig, kehrte aber zurück und ließ mich nieder. Krafft setzte sich mir gegenüber. Wir tauschten gegenseitig ein gewisses wortloses Lächeln – alles das sehe ich noch so deutlich, als geschehe es wieder vor meinen Augen. Ich erinnere mich noch gut, daß ich mich ein wenig über ihn wunderte.

„Mir gefällt an Ihnen besonders, daß Sie ein so höflicher Mensch sind,“ sagte ich unvermittelt.

„Ja?“

„Ich sage das deshalb, weil ich selbst nur selten höflich zu sein verstehe, obgleich ich es gern verstehen wollte ... Übrigens, vielleicht ist es sogar besser, daß die Menschen einen kränken; wenigstens befreien sie einen auf die Weise von dem Unglück, sie lieben zu müssen.“

„Welche Stunde des Tages lieben Sie am meisten?“ fragte er plötzlich, offenbar ohne mich gehört zu haben.

„Welche Stunde? Ich weiß nicht. Den Sonnenuntergang liebe ich nicht.“

„So?“ Er sagte das mit einem ganz eigentümlichen Interesse, versank aber sogleich wieder in Gedanken.

„Sie wollen wieder verreisen?“

„Ja ... ich verreise.“

„Bald?“

„Ja, bald.“

„Ist denn wirklich zu einer Reise nach Wilna ein Revolver nötig?“ fragte ich ohne den geringsten Hintergedanken, eigentlich sogar ohne überhaupt etwas zu denken. Ich fragte einfach so, weil mein Blick auf den Revolver fiel, und ich nicht recht wußte, wovon ich sprechen sollte.

Er blickte sich um und sah den Revolver unverwandt an.

„Nein, den pflege ich nur so, aus Gewohnheit ...“

„Wenn ich einen Revolver besäße, so würde ich ihn irgendwo hinter Schloß und Riegel verbergen. Wissen Sie, es steckt doch, bei Gott, eine Versuchung in dem Ding! Ich selbst glaube vielleicht nicht einmal an die Selbstmordepidemie, aber wenn einem so ein Ding immer in die Augen funkelt – wahrhaftig, es gibt Minuten, wo es tatsächlich verführen könnte.“

„Sprechen Sie nicht davon,“ sagte er und stand plötzlich auf.

„Ich rede ja nicht von mir,“ fügte ich hinzu, mich gleichfalls erhebend, „ich würde das Ding nie gebrauchen. Mir könnten Sie meinetwegen ganze drei Menschenleben geben – auch die wären für mich noch zu wenig.“

„Leben Sie!“ kam es plötzlich gleichsam impulsiv über seine Lippen.

Er lächelte zerstreut und – sonderbar – er ging geradeswegs ins Vorzimmer zur Eingangstür, mich auf diese Weise einfach hinausführend, doch tat er das, versteht sich, ohne sich dessen bewußt zu sein.

„Ich wünsche Ihnen vollen Erfolg, Krafft,“ sagte ich zum Abschied, auf die Treppe hinaustretend.

„Soll mir recht sein,“ antwortete er mit fester Stimme.

„Auf Wiedersehen!“

„Auch das soll mir recht sein!“

Ich erinnere mich noch seines letzten Blickes auf mich.

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