An diesem neunzehnten September sollte ich mein erstes Gehalt für den ersten Monat Dienst in meiner Petersburger „privaten“ Anstellung erhalten. Wegen dieser Anstellung hatte man mich überhaupt nicht gefragt, sondern mich einfach hingeschickt, wenn ich nicht irre, sogar schon am Tage meiner Ankunft. Das war beinahe eine Roheit von ihnen, und es wäre eigentlich meine Pflicht gewesen, dagegen zu protestieren. Es handelte sich um eine Anstellung im Hause des alten Fürsten Ssokolski. Doch so schon am ersten Tage zu protestieren, – wäre gleichbedeutend gewesen mit einem sofortigen Bruch, der mich zwar durchaus nicht abschreckte, doch hätte er mich von der Verfolgung meines Zieles abgelenkt, und somit wäre der Zweck meiner Reise vorläufig oder auch auf längere Zeit, wenn nicht gar für immer ein problematischer geblieben. Deshalb nahm ich denn die Stelle an, ohne dazu ein Wort zu sagen, um auf diese Weise meine Würde durch Schweigen zu wahren. Zur Erklärung will ich hier gleich bemerken, daß dieser alte Fürst Ssokolski, ein reicher Mann und Geheimrat, mit jenen Moskauer Fürsten Ssokolski, die schon seit mehreren Generationen verarmt sind und gegen die Werssiloff damals gerade seinen Prozeß führte, nicht einmal entfernt verwandt ist. Sie haben nur zufällig denselben Namen. Nichtsdestoweniger interessierte sich der alte Fürst sehr für sie, und namentlich der ältere von den zwei Brüdern und der älteste ihres Geschlechts – ein junger Offizier – galt geradezu für seinen Liebling. Werssiloff hatte auf diesen alten Fürsten vor noch gar nicht so langer Zeit mächtigen Einfluß gehabt und war sein Freund gewesen – ein etwas sonderbarer Freund; denn wie ich bemerkte, fürchtete ihn der arme Fürst nicht nur zu jener Zeit, als ich in seinen Dienst trat, sondern offenbar schon von jeher, seitdem er überhaupt mit ihm befreundet war. Übrigens hatten sie sich lange nicht mehr gesehen: das ehrlose Verhalten, das man Werssiloff zum Vorwurf machte, ging nämlich unmittelbar die Familie des alten Fürsten an. Doch da griff Tatjana Pawlowna in die Angelegenheit ein, und durch ihre Vermittlung wurde ich dann bei dem alten Fürsten untergebracht, der einen „jungen Mann“ in seinem Kabinett, also so etwas wie einen Privatsekretär zu haben wünschte. Bei der Gelegenheit zeigte sich, daß es sein größter Wunsch war, Werssiloff irgendwie einen Dienst zu erweisen, also gewissermaßen den ersten Schritt zur Versöhnung zu tun, und Werssiloff erlaubte es ihm, d. h. er ließ es ruhig geschehen. Dieses Arrangement traf der Fürst in Abwesenheit seiner Tochter, der Witwe eines Generals, die diesen Schritt ganz entschieden nicht zugelassen hätte. Doch davon später; hier will ich nur bemerken, daß mich gerade dieses seltsame Verhalten des Fürsten zu Werssiloff stutzig machte, und zwar in dem Sinne, daß es mir zugunsten Werssiloffs zu sprechen schien: ich sagte mir, wenn das Haupt der beleidigten Familie Werssiloff immer noch achtet, so können doch die Gerüchte von jener angeblichen Gemeinheit nicht auf Wahrheit beruhen oder zum mindesten doch nicht ganz dem Vorgefallenen entsprechen. Dieses rätselhafte Verhalten des Fürsten war denn zum Teil auch der Grund, weshalb ich mich nicht gegen das Ansinnen auflehnte: ich hoffte, vielleicht auf diesem Wege hinter das Geheimnis kommen zu können.
Diese Tatjana Pawlowna, das „Tantchen“, von dem ich bereits gesprochen habe, spielte zu jener Zeit in ihrem Petersburger Bekanntenkreise eine sehr bedeutsame Rolle. Ich hatte ihre Existenz fast schon ganz vergessen und hätte natürlich nie im Leben vermutet oder für möglich gehalten, daß sie eine so einflußreiche Persönlichkeit sein könnte. Ich hatte sie bis dahin drei- oder viermal gesehen, und jedesmal war sie dann Gott weiß woher wie auf jemandes Befehl erschienen, jedesmal, wenn ich wieder irgendwo untergebracht werden sollte – sowohl als ich in jene elende Pension des Monsieur Touchard kam, wie auch zweieinhalb Jahre später bei meinem Eintritt ins Gymnasium: da erschien sie wieder in Moskau, um mich bei dem unvergeßlichen Nikolai Ssemjonowitsch unterzubringen. Wenn sie kam, blieb sie den ganzen Tag bei mir, revidierte meine Wäsche, meine Kleider, fuhr mit mir nach dem Kusnetzki,[4] kaufte mir alle Sachen, die ich nötig hatte, kurz, sie versah mich mit allem, bis zum letzten Löschblatt und Federmesser. Bei der Gelegenheit schalt sie mich die ganze Zeit ununterbrochen, machte mir Vorwürfe, examinierte mich und nannte mir fortwährend andere Knaben als Muster aller Tugenden, obwohl ich doch diese ihre jungen Anverwandten, die alle viel besser sein sollten als ich, gar nicht kannte, und dabei puffte und kniff sie mich bei jeder Gelegenheit – wirklich, ich lüge nicht – und mitunter sogar so stark, daß es ordentlich weh tat. Und war ich dann eingekleidet, untergebracht und versorgt, dann verschwand sie wieder spurlos für mehrere Jahre. Ähnlich geschah es auch diesmal: kaum war ich angekommen, da tauchte sie schon auf, um mich sogleich wieder irgendwo „unterzubringen“. Sie ist ein hageres Persönchen mit einer spitzen, kleinen Vogelnase und scharfen, kleinen Vogelaugen. Werssiloff diente sie wie eine Sklavin, und erwies ihm eine Ehrerbietung, als wäre er der Papst, doch tat sie es aus Überzeugung. Aber zu meiner größten Verwunderung bemerkte ich bald, daß sie entschieden von allen und überall sehr geachtet wurde, und alle Welt mit ihr bekannt war. Der alte Fürst Ssokolski begegnete ihr mit geradezu auffallender Hochachtung, und dasselbe ließ sich von seinem ganzen Hause sagen, wie auch von Werssiloffs stolzen legitimen Kindern und deren Verwandten, den Fanariotoffs, – und dabei lebte sie von Näharbeit und der Reinigung kostbarer Spitzen und von Stickereien, die sie im Auftrage von verschiedenen Geschäften anfertigte. Ich aber geriet mit ihr schon bei den ersten Worten in Streit, da sie es sich einfallen ließ, mich wie früher als kleinen Schulbengel zu behandeln. Und seitdem gab es jeden Tag Streit zwischen uns, was jedoch nicht hinderte, daß wir uns bisweilen auch verständig unterhielten, und ich muß gestehen, gegen Ende des Monats fand ich schon Gefallen an ihr: weil sie ein so selbständiger Charakter war. Doch das habe ich ihr, versteht sich, nicht verraten.
Ich begriff natürlich sofort, daß man mich zu diesem kranken alten Fürsten nur zu dem Zweck schickte, damit er Unterhaltung und Zerstreuung habe, und daß darin mein ganzer Dienst bestehen sollte. Das war aber doch eine Erniedrigung, und ich bereitete mich denn auch dementsprechend auf das Weitere vor: um nötigenfalls sogleich Maßregeln ergreifen zu können. Doch dieser alte Sonderling machte auf mich einen ganz anderen Eindruck, als ich erwartet hatte, ich empfand förmlich so etwas wie Mitleid mit ihm, und gegen Ende des Monats hatte ich mich bereits ganz eigentümlich an ihn angeschlossen. Wenigstens gab ich meine anfängliche Absicht auf, ihm, sobald er den geringsten Anlaß dazu böte, gründlich die Wahrheit zu sagen und dann kein Blatt vor den Mund zu nehmen. Er war übrigens noch nicht über sechzig. Doch ich muß jetzt etwas zurückgreifen.
Etwa anderthalb Jahre, bevor ich ihn kennen lernte, hatte er einen Anfall gehabt, d. h. er war irgendwohin gereist und unterwegs, wie es hieß, „unzurechnungsfähig“ geworden; und dieser Umstand hatte einen kleinen Skandal zur Folge gehabt, über den in der Petersburger Gesellschaft viel geredet worden war. Wie es in solchen Fällen üblich ist, hatten seine Nächsten ihn schleunigst ins Ausland geschickt, aber schon nach fünf Monaten war er wieder in Petersburg erschienen, und zwar vollkommen gesund. Trotzdem hatte er den Abschied genommen. Werssiloff beteuerte allerdings (und geradezu mit Leidenschaft), daß von einer Geistesstörung bei ihm überhaupt nicht habe die Rede sein können, es sei nichts als eine Nervenattacke gewesen. Den Eifer aber, mit dem er seine Behauptung verteidigte, merkte ich mir einstweilen. Übrigens muß ich sagen, daß ich eigentlich seine Ansicht teilte. Der alte Herr erschien mir zuweilen nur etwas jugendlich leichtsinnig, was in seinen Jahren vielleicht nicht mehr ganz statthaft war, und eben dies hatte man ihm vor jenem Anfall nicht nachsagen können. Wie ich hörte, soll er früher irgendwo in einer Behörde als Rat oder Geheimrat keine geringe Rolle gespielt und einmal bei einem ihm zuteil gewordenen Auftrag sich ganz besonders hervorgetan haben. Doch inwiefern er sich so besonders zum Rat hatte eignen können, vermochte ich trotz redlicher Mühe mir nicht zu erklären, obschon ich ihn damals bereits seit einem ganzen Monat kannte. Man wollte an ihm die Beobachtung gemacht haben (ich selbst habe sie freilich nicht gemacht), daß nach jenem „Anfall“ eine besondere Neigung zum Heiraten sich in ihm entwickelt habe, und angeblich sei er im Laufe dieser anderthalb Jahre bereits mehrmals im Begriff gewesen, das Vorhaben auch auszuführen. Und darüber, hieß es, sei man in der Gesellschaft gut unterrichtet, und besonders einzelne Damen interessierten sich deshalb sehr für ihn. Da nun aber die tatsächliche Ausführung dieses Vorhabens keineswegs den Interessen gewisser Personen aus der Umgebung des Fürsten entsprach, so wurde er von dieser Seite mit Argusaugen bewacht. Seine eigene Familie war klein: seine Frau hatte er schon vor zwanzig Jahren verloren, und so war ihm nur seine einzige Tochter geblieben, eben jene Generalswitwe, die jetzt täglich aus Moskau zurückerwartet wurde, eine noch ganz junge Frau, vor deren Charakterfestigkeit der alte Fürst zweifellos Angst hatte. Um so zahlreicher war aber die Verwandtschaft seiner verstorbenen Frau, deren ganze Sippe sich vornehmlich durch Armut auszeichnete. Und außer diesen Verwandten hatte er noch unzählige Pflegesöhne und Pflegetöchter, die alle schon viel Gutes von ihm erfahren hatten und nun fest darauf rechneten, in seinem Testament noch mit einem Sümmchen bedacht zu werden, weshalb sie denn auch der Generalin getreulich halfen, den alten Herrn zu überwachen. Übrigens hatte er schon von Jugend auf eine seltsame Eigenheit, von der ich nicht weiß, ob ich sie lächerlich nennen soll oder nicht: er liebte es, arme Mädchen zu verheiraten. Er verheiratete sie schon seit mehr als fünfundzwanzig Jahren – gleichviel ob es entfernte Verwandte von ihm oder Stieftöchter irgendwelcher Vettern seiner Frau oder auch nur deren Tauftöchter waren. Ja, sogar die Tochter seines Portiers hat er verheiratet. Zuerst nahm er sie als kleine Mädchen in sein Haus, erzog sie mit Hilfe von Gouvernanten und Französinnen, dann steckte er sie in die besten Institute, und zuletzt verheiratete er sie und gab ihnen noch eine Mitgift. Und alle diese drängten sich nun fortwährend an ihn heran. Die Pflegetöchter bekamen in der Ehe natürlich wieder Töchter, und diese erhoben wiederum Ansprüche, gleichfalls als Pflegetöchter von ihm erzogen und verheiratet zu werden; überall mußte er Taufpate sein, alle diese Menschen kamen dann an seinem Namenstage, um ihm zu gratulieren, und alles das war ihm äußerst angenehm.
Als ich bei ihm meine Stellung antrat, merkte ich sofort, daß sich in dem alten Herrn eine quälende Überzeugung eingenistet hatte – und es war unmöglich, das nicht zu bemerken – die Überzeugung, daß alle sich jetzt anders zu ihm verhielten als früher, d. h. als er noch gesund gewesen war, oder richtiger: als ihn noch niemand für krank oder geistesgestört gehalten hatte. Diese Empfindung den Menschen gegenüber verließ ihn selbst in der lustigsten Gesellschaft nicht. So war er argwöhnisch geworden und glaubte in aller Augen ein gewisses Etwas zu lesen. Der Gedanke, daß alle ihn für nicht mehr ganz „normal“ hielten, quälte ihn sichtlich; selbst mich beobachtete er oft genug mit merklichem Mißtrauen. Und hätte er von einem Menschen erfahren, daß dieser jenes Gerücht von seinem Geisteszustand verbreite oder bestätige, – ich glaube, er wäre trotz all seiner Gutmütigkeit fähig gewesen, ihn bis in den Tod für seinen größten Feind zu halten (ein Umstand, der von großem Einfluß sein sollte). Diese Beobachtung war schon am ersten Tage der Grund, weshalb ich ihn nicht meinem Vorsatz gemäß kränkte; ja, es freute mich sogar, wenn es mir gelang, ihn zu erheitern oder auch nur zu zerstreuen. Ich glaube nicht, daß dieses Geständnis einen Schatten auf meine Ehre werfen kann.
Sein Vermögen hatte er zum größten Teil in Aktien angelegt. Er war, und zwar erst nach seiner Krankheit, Teilhaber einer großen Aktiengesellschaft geworden, übrigens einer sehr soliden. Das Unternehmen wurde allerdings von anderen geleitet, doch wollte auch er überall dabei sein; er interessierte sich sehr für alle Beschlüsse, besuchte die Versammlungen der Aktionäre, wurde in den Ausschuß gewählt, wohnte den Beratungen bei, hielt lange Reden, widerlegte, befürwortete, regte die Geister auf, und tat das alles offenbar mit Vergnügen. Reden zu halten, das liebte er sehr: da konnte er doch allen seinen gesunden Verstand und noch einiges mehr beweisen. Und überhaupt wurde es für ihn geradezu zum Bedürfnis, selbst in ganz belanglose Privatgespräche die tiefsinnigsten Dinge einzuflechten, mitunter auch ein Bonmot, und dieses Bedürfnis finde ich schließlich nur zu erklärlich.
In seinem Hause war unten im ersten Stock eine Art Büro eingerichtet, in dem ein Beamter die Bücher führte, als Sekretär alles Schriftliche erledigte und außerdem noch das Haus verwaltete. Dieser Beamte, der nebenbei auch noch im Staatsdienst einen Posten bekleidete, hätte für die zu leistende Arbeit vollkommen genügt; auf besonderen Wunsch des Fürsten aber wurde ich noch hinzugenommen, angeblich als Gehilfe für den „mit Arbeit überhäuften“ Beamten; doch schon am ersten Tage mußte ich in das Kabinett des Fürsten übersiedeln, und oft hatte ich nicht einmal, wie sonst meistens, eine Scheinarbeit vor mir, weder Bücher noch Papiere.
Ich schreibe jetzt wie einer, der schon längst aus dem Rausch erwacht ist, und in vieler Hinsicht fast sogar wie ein ganz objektiver Beobachter; wie aber soll ich jetzt meine Qual beschreiben, diese unruhige Qual jener Tage, die sich in meinem Herzen eingenistet hatte (gerade jetzt steht sie wieder wie lebendig vor mir, und ich empfinde sie wie damals!), – und wie meine Aufregung, die zu einem so unklaren, leidenschaftlich gespannten Zustande geworden war, daß ich nachts nicht mehr schlafen konnte vor lauter Ungeduld und Erwartung und bangen Rätseln, die ich selbst vor mir aufgetürmt hatte?