Vorbemerkung

Der Roman „Der Jüngling“ ist im Jahre 1875 erschienen, steht also in der Reihenfolge der fünf großen Romane Dostojewskis zwischen den „Dämonen“ und den „Brüdern Karamasoff“. Schon während der Arbeit an diesem Roman hatte Dostojewski in seinen Aufsätzen, die er in den Jahren 1873–74 unter dem Titel „Tagebuch eines Schriftstellers“ zunächst im „Bürger“, und vom Jahre 1876 an als selbständige Monatsschrift erscheinen ließ, zu Tagesfragen Stellung genommen und eine Tätigkeit eröffnet, mit der er unmittelbar erzieherisch wirkte. Dieselben Ideen, die er seinen Romanen zugrunde legte, kehrten in diesen Aufsätzen wieder, und umgekehrt finden wir, daß er sich in seinen Aufsätzen mit einzelnen Ideen seiner Romane beschäftigte. So kam er auf das Thema des „Jünglings“, insofern es das Thema der russischen Familie ist, in seinem „Tagebuch eines Schriftstellers“ immer wieder zu sprechen. Es sind Ausführungen, die sich mit einer Äußerung Dostojewskis am Schluß dieses Romans begegnen, wo er den Begriff einer „zufälligen Familie“ aufstellt. Im Roman selbst hat er diesen Ausdruck nicht weiter erläutert. Die Tagebuchstellen handeln von der russischen Familie, als einer zufälligen Familie, weshalb sie hier mitgeteilt sein mögen:

„Noch nie hat es in unserem russischen Leben eine Zeit gegeben, in der die russische Familie so zerrüttet, zersetzt und ungeordnet gewesen ist wie jetzt. Wo findet man heutzutage noch eine Kindheit und Jugend, die in einer so einheitlichen, ruhigen und klaren Darstellung wiedergegeben werden könnte, wie z. B. Graf Leo Tolstoi uns seine Jugendzeit und sein Elternhaus in der Erzählung ‚Kindheit und Jugend‘ und in ‚Krieg und Frieden‘ geschildert hat? Alle diese Werke sind heute nur noch historische Bilder aus einer längst vergangenen Zeit. Oh, ich will damit durchaus nicht sagen, daß es schöne Bilder wären, ich wünsche auch keineswegs ihre Wiederholung in unserer Zeit, nicht davon rede ich. Ich spreche nur von ihrem Charakter, von der Vollendung, Ausgesprochenheit und Bestimmtheit ihres Charakters ... Heutzutage gibt es das nicht: Es gibt keine Bestimmtheit, es gibt keine Klarheit. Die russische Familie von heute wird immer mehr zu einer zufälligen Familie. Ihre alte Form hat sie verloren, und zwar ganz plötzlich, ohne daß es vorherzusehen gewesen wäre; die neue Form aber – ja, da fragt es sich nun: wird unsere Familie imstande sein, sich eine neue, wünschenswerte, das russische Herz befriedigende Form zu schaffen? Sagen doch schon manche und sogar sehr ernste Leute, daß es eine russische ‚Familie‘ jetzt überhaupt nicht mehr gäbe. Natürlich ist damit nur die Familie der russischen Intelligenz gemeint, d. h. der höheren Kreise, nicht des Volkes. Aber wie, ist denn im Volk die Familie heute nicht auch eine ‚Frage‘?“ ... „Worin besteht nun diese ‚Zufälligkeit‘, was verstehe ich darunter? Die ‚Zufälligkeit‘ der russischen Familie besteht, meiner Meinung nach, darin, daß die russischen Väter von heute jede gemeinschaftliche Idee in ihrem Verhältnis zu ihrer Familie eingebüßt haben. Es fehlt eine allen Vätern eigene, sie untereinander verbindende Idee, an die sie selbst glauben, und die sie ihren Kindern als Glaubensbekenntnis fürs ganze Leben hinterlassen könnten. Wohlgemerkt: diese Idee, dieser Glaube wäre – selbst wenn er fehlerhaft ist, so daß die fähigeren Kinder sich in der Folge von ihm lossagen oder ihn wenigstens für ihre Kinder umändern müßten – so wäre doch schon das bloße Vorhandensein dieses Glaubens oder dieser gemeinsamen, die Gesellschaft und die Familie verbindenden Idee immerhin der Anfang einer Ordnung, d. h. einer sittlichen Ordnung, die natürlich der Veränderung, sagen wir meinetwegen, dem Fortschritt, der Verbesserung unterworfen wäre – jedenfalls der Ordnung. Statt dessen kann man heute nur Folgendes beobachten: erstens, eine ausnahmslose Verneinung des Früheren (also doch nur etwas Negatives und nichts Positives); zweitens, Versuche, etwas Positives zu sagen, aber nichts Gemeinsames und Verbindendes, – Versuche ohne Erfahrung, ohne Praxis, ja sogar ohne vollen Glauben an sie auf seiten der Versuchenden selbst. Diese Versuche können manchmal sogar von einem prachtvollen Grundsatz ausgehen, aber sie werden nicht durchgehalten, sie bleiben unausgetragen; manchmal sind sie auch ganz unsinnig, so die Erlaubnis alles dessen, was früher verboten war, nach dem Grundsatz, daß alles Alte dumm sei. Und schließlich drittens: schlaffe und faule, egoistische Väter, die nur an sich und den Augenblick, nicht an die Kinder und deren Zukunft denken. So ist denn das Endergebnis – Unordnung, Zerstückelung und eben diese ‚Zufälligkeit‘ der russischen Familie, von der ich sprach.“

E. K. R.

Share on Twitter Share on Facebook