I.

Diese ganze Nacht träumte mir vom Roulette, vom Spiel, von Gold und von Berechnungen: ich mühte mich vergeblich, einen Einsatz oder eine besondere Chance zu berechnen, und dieser Traum quälte mich die ganze Nacht wie ein Alb. Um die Wahrheit zu sagen: ich hatte auch schon diesen ganzen Tag, trotz aller mich erschütternden Eindrücke, immer wieder an meinen großen Gewinn bei Serschtschikoff gedacht. Natürlich hatte ich diese Gedanken zu verscheuchen gesucht, aber der Eindruck ließ sich nun einmal nicht ausschalten, und schon bei der bloßen Erinnerung erzitterte etwas in mir. Ja, dieser Gewinn hatte sich wahrlich in mein Herz festgebissen. Sollte ich wirklich ein geborener Spieler sein? Eines wenigstens ist mir ganz klar: daß ich Eigenschaften eines Spielers habe. Selbst heute noch, wo ich das niederschreibe, liebe ich es, manchmal an das Spiel zu denken! Es ist schon vorgekommen, daß ich ganze Stunden damit verbringe, still dazusitzen und mich in Gedanken mit Spielberechnungen zu beschäftigen, mir vorzustellen, wie das alles vor sich geht, wie ich setze, und wie mein Einsatz gewinnt. Ja, ich habe gar viele „Eigenschaften“ in mir; ich habe eine unruhvolle Seele.

Es war gegen zehn Uhr, als ich beschloß, doch zu Stebelkoff zu gehen, und zwar zu Fuß. Mein Schlitten kam allerdings vorgefahren, aber ich schickte ihn nach Haus. Während ich meinen Morgenkaffee trank, versuchte ich, mir alles zu überlegen. Ich fühlte mich eigentlich sehr zufrieden; und wie mir das zu Bewußtsein kam und ich einen Augenblick nachdachte, erkannte ich sofort, daß ich hauptsächlich deshalb so zufrieden war, „weil ich heute im Hause meines alten Fürsten Nikolai Iwanowitsch sein werde“. Aber dieser Tag war verhängnisvoll in meinem Leben; und unvorhergesehen, wie er war, begann er auch gleich mit einer Überraschung.

Es hatte gerade zehn geschlagen, als plötzlich meine Tür sperrangelweit aufflog, und ins Zimmer stürzte – Tatjana Pawlowna. Alles hätte ich noch erwartet, aber nicht ihr Erscheinen bei mir. Erschrocken sprang ich auf. Ihr Gesicht war grimmig anzusehen, ihre Bewegungen wild und aufgeregt, und ich glaube, wenn man sie gefragt hätte, weshalb sie zu mir geeilt war, hätte sie es vielleicht selbst nicht zu sagen gewußt. Ich muß hier im voraus bemerken, damit es nicht gar zu unverständlich ist, daß sie gerade eine ungeheuerliche, sie fast niederschmetternde Nachricht erhalten hatte und sich noch unter dem ersten erschütternden Eindruck befand. Und dieses Ereignis war zum Teil durch mich verursacht worden. Übrigens blieb sie nur eine halbe Minute, oder vielleicht eine ganze Minute, aber gewiß nicht länger bei mir.

„Da ist er! Also so bist du!“ schrie sie mich an – ganz krumm stand sie vor mir, in ihrer Wut. „Du junger Hund! Was hast du angerichtet? Oder weißt du’s etwa nicht? Da sitzt er und trinkt noch Kaffee! Ach du Klatschbase, du Lästerer, du Windbeutel! Du Liebhaber aus Papier ...! Solche Lümmel muß man einfach peitschen, mit Ruten peitschen, jawohl, peitschen! peitschen!“

„Tatjana Pawlowna, was ist geschehen? Was ist denn los? Mama ...?“

„Wirst’s erfahren!“ schrie sie drohend – und fort war sie, kaum daß ich sie gesehen hatte. Ich wäre ihr natürlich nachgelaufen, aber ein Gedanke hielt mich zurück oder nicht einmal ein Gedanke, sondern nur eine dunkle Unruhe: ich ahnte, daß der „Liebhaber aus Papier“ das wichtigste und bedeutsamste Wort von allen ihren gegen mich geschleuderten Schmähungen gewesen war; freilich, auf den ganzen Zusammenhang wäre ich nie und nimmer von selbst gekommen. Aber ich machte mich doch sogleich auf den Weg, um so schnell als möglich die Sache mit Stebelkoff zu erledigen und dann zum alten Fürsten zu eilen. „Dort ist der Schlüssel zu allem!“ dachte ich instinktiv.

Es war mir unbegreiflich, woher Stebelkoff von der heimlichen Verlobung Anna Andrejewnas bereits gehört haben konnte, aber er wußte schon die ganze Geschichte und sogar bis in die kleinsten Einzelheiten hinein. Ich will nicht alle seine Reden und Gebärden wiedergeben, aber er war entzückt, war ganz zappelig vor Entzücken über diesen „diplomatisch genialen Coup!“, wie er sich ausdrückte.

„Nein, das ist mir mal ein Frauenzimmer! Teufel noch eins! Nein, sehen Sie, das ist mal ein Frauenzimmer!“ rief er ein über das andere Mal. „Die ist uns über! Da sitzen wir nun und sitzen, und ’s kommt nichts dabei raus; sie aber, sie hatte mal Lust, das Wasser aus der Quelle selbst zu trinken, und da geht sie einfach hin und trinkt, trinkt’s auch wirklich! Das ... das ist eine antike Statue! Das ist ja die antike Minerva selbst, bloß daß sie herumgeht und moderne Kleider trägt!“

Ich ersuchte ihn, zur Sache zu kommen. Es handelte sich, wie ich schon vermutet hatte, nur darum, daß ich dem jungen Fürsten zureden sollte, zum alten Fürsten Nikolai Iwanowitsch zu fahren und ihn um seine Hilfe zu bitten. „Sonst wird es ihm, dem Fürsten Ssergei Petrowitsch, doch furchtbar schlecht ergehen! Das liegt doch jetzt nicht mehr in meiner Macht! Ist das so oder nicht?“

Er sah mir wieder in die Augen, aber ich glaube, er vermutete nicht einmal, daß ich inzwischen etwas erfahren haben konnte, was ich während unseres Gesprächs vor zwei Tagen noch nicht gewußt hatte. Aber wie hätte er das auch vermuten sollen, da ich mit keinem Wort, mit keiner Anspielung verriet, daß ich von den Aktien etwas wußte. Wir sprachen nicht lange; er begann mir sogleich Geld zu versprechen, und zwar „viel Geld, sehr viel Geld, wenn Sie nur dazu beitragen, daß der Fürst hinfährt und ihn bittet! Die Sache drängt, drängt fürchterlich, und das ist ja eben das Zwingende, daß sie so drängt!“

Ich hatte keine Lust, ihm zu widersprechen und mich lange mit ihm abzugeben. Ich sagte daher nur, ich würde es „versuchen“. Doch plötzlich setzte er mich maßlos in Erstaunen: ich ging bereits zur Tür, als er auf einmal schmeichelnd seinen Arm um meine Schulter legte und ... die unverständlichsten Dinge zu reden anfing.

Ich übergehe die Einzelheiten und gebe nur den Sinn des Gespräches wieder, um nicht zu ermüden. Der Sinn war kurz gesagt der, daß er das Ansinnen an mich stellte, ihn mit – Dergatschoff bekannt zu machen, da ich, wie er meinte, „dort doch verkehre!“

Ich verstummte sofort und horchte auf, – gab mir aber die größte Mühe, ihn nichts merken zu lassen. Übrigens sagte ich ihm gleich darauf, daß ich dort keineswegs verkehrte und nur einmal, und auch damals nur zufällig, bei ihnen gewesen war.

„Aber wenn Sie schon einmal zugelassen worden sind, dann können Sie doch wieder hingehen, das ist doch so – oder nicht?“

Nun fragte ich ihn ganz offen, aber sehr kaltblütig, weshalb er das denn wünschte? Und wirklich, ich kann es noch immer nicht verstehen, wie die Naivität eines offenbar doch gar nicht dummen Menschen, dazu noch eines „Geschäftsmannes“, wie Wassin ihn bezeichnet hatte, in dieser Sache so weit gehen konnte! Er erklärte mir nämlich auf meine Frage ohne weiteres, daß er bei Dergatschoff „etwas Verbotenes, sogar streng Verbotenes“ vermute, und folglich könnte ich, wenn ich dahinterkäme, einen gewissen Vorteil für mich herausschlagen ... Und er zwinkerte mir lächelnd mit dem linken Auge zu.

Ich antwortete ihm darauf so gut wie nichts Bestimmtes, tat aber, als erwöge ich den Vorschlag, und sagte schließlich, ich würde darüber noch „nachdenken“. Dann beeilte ich mich, fortzukommen. Die Sache wurde verwickelter. Ich fuhr schnell zu Wassin, den ich zum Glück zu Hause traf.

„Ah, auch Sie!“ sagte er rätselhaft, als er mich erblickte.

Ich schenkte diesem Ausruf weiter keine Beachtung, sondern erzählte ihm gleich diese letzte Geschichte mit Stebelkoff. Er war sichtlich verdutzt, doch verlor er deshalb keinen Augenblick seine Kaltblütigkeit. Er fragte mich eingehend nach den Einzelheiten, und ich mußte ihm alles ganz ausführlich wiedergeben.

„Ist es nicht doch möglich, daß Sie ihn falsch verstanden haben?“

„Nein, ich habe ihn ganz richtig verstanden; denn der Sinn seiner Worte war überhaupt nicht mißzuverstehen.“

„Jedenfalls bin ich Ihnen außerordentlich dankbar,“ sagte er aufrichtig. „Ja, in der Tat, wenn alles so war, dann hat er wohl gedacht, Sie würden einer gewissen Summe nicht widerstehen können.“

„Zumal er meine Lage sehr gut kennt: ich habe viel gespielt und habe mich schlecht aufgeführt, Wassin.“

„Ich habe davon gehört.“

„Am unverständlichsten ist mir aber,“ wagte ich, scheinbar unbefangen und wie beiläufig, zu bemerken, „daß er von Ihnen doch weiß, daß Sie zu diesen Leuten gehen.“

„Er weiß ganz genau,“ erwiderte Wassin einfach und selbstverständlich, „daß ich mit alledem nichts zu tun habe. Und eigentlich sind ja alle diese jungen Leute doch nur Schwätzer und nichts weiter; übrigens müssen Sie sich ja selbst noch am besten daran erinnern.“

Wie mir schien, traute er mir in irgendeiner Beziehung doch nicht ganz.

„Jedenfalls bin ich Ihnen außerordentlich dankbar,“ sagte er noch einmal.

„Man spricht davon, daß es Herrn Stebelkoff geschäftlich nicht gerade gut gehe,“ bemerkte ich wieder wie beiläufig, scheinbar ohne jeden Hintergedanken, „wenigstens habe ich von gewissen Aktien gehört ...“

„Von was für Aktien?“ fragte er, und ich sah, wie er sofort aufhorchte.

Ich hatte mit Absicht die „gewissen Aktien“ erwähnt, aber selbstverständlich nicht deshalb, um ihm das Geheimnis des Fürsten mitzuteilen. Ich wollte nur eine Anspielung machen und aus seinem Gesicht, aus seinen Augen ersehen, ob er von diesen Aktien etwas wußte. Und ich erreichte meinen Zweck: aus einem unwillkürlichen, wenn auch kaum merklichen Zucken seines Gesichts erriet ich, daß er auch davon etwas wußte. Ich antwortete nicht auf seine Frage, was für Aktien das wären, sondern sprach von anderem weiter; aber auch er ging merkwürdigerweise auf anderes über.

„Wie geht es Lisaweta Makarowna?“ erkundigte er sich teilnehmend.

„Gut. Meine Schwester verehrt Sie sehr ...“

Seine Augen erglänzten vor Freude; ich hatte schon längst bemerkt, daß Lisa ihm nicht gleichgültig war.

„Fürst Ssergei Petrowitsch Ssokolski war vor einiger Zeit bei mir,“ teilte er mir auf einmal mit.

„Wann?“ fragte ich erstaunt.

„Vor vier Tagen.“

„Nicht gestern?“

„Nein, gestern nicht.“

Er sah mich fragend an.

„Ich werde Ihnen vielleicht später einmal Näheres über diesen Besuch erzählen, jetzt aber möchte ich Sie nur darauf aufmerksam machen,“ sagte Wassin rätselhaft, „daß er sich, wie mir schien, in einem gewissermaßen unnormalen Gemüts- und sogar Geisteszustand befand. Übrigens ist noch jemand bei mir gewesen,“ sagte er plötzlich lächelnd, „soeben, kurz bevor Sie kamen, und auch bei diesem Besuch mußte ich auf einen nicht ganz normalen Zustand schließen.“

„War der Fürst soeben hier?“

„Nein, nicht der Fürst, ich rede jetzt nicht vom Fürsten. Bei mir war vorhin ... Andrei Petrowitsch Werssiloff und ... Wissen Sie nichts? Ist mit ihm nicht etwas Besonderes geschehen?“

„Vielleicht, es wäre möglich, – aber was ist mit ihm denn hier bei Ihnen geschehen?“ fragte ich gespannt.

„Eigentlich dürfte ich das nicht sagen ... Wir führen heute eine etwas sonderbare Unterhaltung, über lauter Geheimnisse,“ setzte er mit einem Lächeln hinzu. „Andrei Petrowitsch hat übrigens Verschwiegenheit von mir nicht ausdrücklich verlangt. Aber da Sie sein Sohn sind, und ich Ihre Gefühle für ihn kenne, so dürfte es diesmal sogar geboten sein, Sie davon in Kenntnis zu setzen. Stellen Sie sich vor, er kam zu mir, um mich zu fragen, ob ich, wenn er sich in den nächsten Tagen duellieren müßte, – ob ich dann sein Sekundant sein würde. Ich habe natürlich abgelehnt.“

Ich war maßlos verwundert. Diese Neuigkeit war die beunruhigendste von allen: es mußte etwas geschehen, ihm etwas widerfahren sein, wovon ich noch nichts wußte! Und plötzlich, im Augenblick, fiel es mir ein, daß Werssiloff gestern zu mir gesagt hatte: ‚Nicht ich werde zu dir kommen, wohl aber wirst du zu mir stürzen.‘ Ich fuhr schnell zum alten Fürsten Nikolai Iwanowitsch und fühlte nun noch mehr voraus, daß dort die Lösung des Rätsels zu finden war. Wassin dankte mir beim Abschied noch einmal.

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