II.

Der alte Fürst saß vor dem Kamin, die Füße mit einem Plaid warm zugedeckt. Er empfing mich mit einem eigentümlich fragenden Blick, ganz, als wundere er sich über mein Kommen, und doch hatte er fast jeden Tag nach mir geschickt. Übrigens begrüßte er mich freundlich, aber auf meine ersten Fragen antwortete er gleichsam mißmutig und merkwürdig zerstreut. Hin und wieder schien er über irgend etwas nachzudenken, und dann sah er mich fragend an, ganz als versuche er sich einer Sache zu erinnern, die er zum Teil vergessen hatte, und die sich zweifellos auf mich bezog. Ich sagte ihm ganz offen, daß ich schon alles gehört hätte und mich sehr freute. Ein freundliches und gutes Lächeln erschien sofort auf seinen Lippen, und er belebte sich förmlich; seine Zurückhaltung und sein Mißtrauen verschwanden im Nu, als hätte er sie plötzlich ganz vergessen. Und so war es wohl auch.

„Du bist mein lieber junger Freund, ich wußte es ja, daß du als erster kommen würdest. Weißt du, noch gestern dachte ich an dich. Ich fragte mich: ‚Wer wird sich darüber freuen? – Er wird sich freuen!‘ Nun und sonst auch niemand mehr; aber das tut ja nichts. Die Menschen haben böse Zungen, doch das ist belanglos. Cher enfant,[53] das ist ja alles so erhaben und so wundervoll ... Aber du kennst sie ja selbst. Von dir hält Anna Andrejewna sehr viel. Sie – sie hat das strenge und schöne Gesicht einer englischen Gravüre. Sie ist wie der schönste englische Stahlstich, den man sich nur denken kann ... Vor drei Jahren hatte ich eine ganze Sammlung solcher Stahlstiche ... Ich habe schon von jeher, von jeher diese Absicht gehabt! Ich wundere mich nur, weshalb ich nicht von selbst darauf gekommen bin!“

„Sie haben ja Anna Andrejewna, soviel ich weiß, immer sehr geliebt und ausgezeichnet.“

„Mein Freund, wir wollen niemandem schaden. Das Leben mit Freunden, mit Verwandten, mit denen, die unserem Herzen lieb und teuer sind – das ist das Paradies. Alle Menschen sind Dichter ... Das weiß man schon seit den ältesten Zeiten. Weißt du, wir werden im Sommer zuerst nach Bad Soden reisen und dann nach Bad Gastein. Aber du bist so lange nicht bei mir gewesen, wo warst du denn? Ich habe auf dich gewartet. Und nicht wahr, es ist doch inzwischen so viel geschehen! Schade nur, daß ich nicht ruhig bin: sobald ich allein bin, werde ich gleich unruhig. Und deshalb darf ich auch nicht allein bleiben, nicht wahr? Das ist doch klar wie’s Einmaleins. Das habe ich auch sofort eingesehen, schon nach ihren ersten Worten. Oh, mein Freund, sie hat ja im ganzen nur zwei Worte gesagt, aber die ... die waren in ihrer Art so was wie die wunderbarste Poesie. Aber du bist ja ihr Bruder, ja, eigentlich ihr Bruder, nicht wahr? Mein Lieber, deshalb habe ich dich auch die ganze Zeit so geliebt. Ich schwöre dir, ich habe das alles vorausgefühlt. Ich habe ihr nur die Hand geküßt und dann geweint.“

Er zog sein Taschentuch hervor, als wolle er wieder zu weinen anfangen. Er war sehr erschüttert, und sein Zustand schien so schlecht zu sein, wie ich es bis dahin noch nie gesehen hatte. Gewöhnlich oder sogar fast immer war er frischer und aufgeräumter gewesen. „Ich würde allen verzeihen, mein Freund,“ stammelte er weiter. „Ich habe den Wunsch, allen zu verzeihen, und ich ärgere mich schon lange über niemand mehr. Mir bleibt die Liebe zur Kunst, la poésie dans la vie,[54] Wohltun den Armen, und sie – das ist biblische Schönheit. Quelle charmante personne, nicht wahr? Les chants de Salomon ... non, ce n’est pas Salomon, c’est David qui mettait une jeune belle dans son lit pour se chauffer dans sa vieillesse. Enfin David, Salomon[55] – das dreht sich alles in meinem Kopf, das reine Chaos. Jedes Ding, cher enfant, kann erhaben und gleichzeitig lächerlich sein. Cette jeune belle de la vieillesse de David – c’est tout un poème,[56] aber bei einem Paul de Kock wäre daraus irgendeine scène de bassinoire[57] geworden, und wir würden alle darüber lachen. Paul de Kock hat weder Maß noch Geschmack, wenn er auch Talent hat ... Katerina Nikolajewna lächelt ... Ich sagte ihr, daß wir niemanden stören werden. Wir haben unseren Roman angefangen, und nun soll man uns ihn beenden lassen. Mag das ein Traum sein, aber man soll uns diesen Traum nicht nehmen!“

„Wieso denn ein Traum, Fürst?“

„Ein Traum? Wieso ein Traum? Nun, meinetwegen kann es auch nur ein Traum sein, aber man soll mich wenigstens mit diesem Traum sterben lassen.“

„Oh, Fürst, warum denn sterben? Leben müssen Sie, gerade jetzt leben!“

„Ja, was habe ich denn anderes gesagt? Ich sage doch die ganze Zeit nur das. Ich weiß wirklich nicht, weshalb das Leben so kurz ist. Damit es nicht langweilig werde, natürlich, denn das Leben ist ein Kunstwerk des Schöpfers selbst, ein Kunstwerk von der vollendeten und untadeligen Form eines Puschkinschen Gedichts. Kürze ist die erste Bedingung des Künstlerischen. Aber wenn jemand keine Langeweile fühlt, so könnte man den doch auch etwas länger leben lassen.“

„Sagen Sie, Fürst, ist die Verlobung schon offiziell?“

„Nein, mein Lieber, das ist sie keineswegs! Wir haben das nur so beschlossen. Es bleibt in der Familie, nur in der Familie, nur in der Familie. Vorläufig habe ich bloß Katerina Nikolajewna alles mitgeteilt, da ich mich ihr gegenüber schuldig fühle. Oh, Katerina Nikolajewna ist ein Engel, ein Engel!“

„Ja, ja, das ist sie!“

„Ja? Auch du sagst ‚ja‘? Und ich dachte, daß gerade du ihr Feind seist. Apropos, da fällt mir ein: sie bat mich doch, dich nicht mehr zu empfangen. Und stell dir vor: als du hereinkamst, hatte ich das ganz vergessen.“

Was sagen Sie?“ Ich sprang auf. „Aber weswegen denn? Wann hat sie das gesagt?“

(Meine Ahnung hatte mich also nicht betrogen! Ja, gerade etwas von der Art hatte ich schon die ganze Zeit geahnt, seit dem überraschenden Erscheinen Tatjana Pawlownas bei mir!)

„Gestern, mein Lieber, gestern hat sie es mir gesagt, und ich verstehe gar nicht, wie du jetzt überhaupt hast hereinkommen können; denn es sind doch schon Anweisungen gegeben worden. Wie bist du hereingekommen?“

„Ich bin ganz einfach hereingegangen.“

„Das ist auch am wahrscheinlichsten. Wenn du dich mit vorsichtiger Schlauheit hereingestohlen hättest, würde man dich bestimmt aufgehalten haben, aber da du ganz einfach hereinkamst, haben sie dich durchgelassen. Die Einfachheit, mon cher, ist in Wirklichkeit die höchste Schlauheit.“

„Ich verstehe noch immer nicht: also auch Sie hatten beschlossen, mich nicht mehr zu empfangen?“

„Nein, mein Freund, ich habe gesagt, daß mich das nichts anginge ... Das heißt, ich habe zu allem ja gesagt. Glaube mir, mein lieber Junge, ich habe dich viel zu lieb ... Aber Katerina Nikolajewna hat das gar zu bestimmt verlangt ... Ah, siehe da!“

In diesem Augenblick erschien Katerina Nikolajewna in der Tür. Sie war zum Ausgehen angezogen und kam, um ihrem Vater vor dem Fortgehen einen Kuß zu geben, wie sie das immer tat. Als sie mich erblickte, stutzte sie, wurde verlegen, drehte sich schnell um und ging hinaus.

„Voilà!“ rief der Fürst erschrocken und furchtbar aufgeregt.

„Das ist ein Mißverständnis!“ rief ich, „das muß ich im Augenblick ... Ich ... ich komme sofort zurück, Fürst!“

Und schon eilte ich Katerina Nikolajewna nach.

Was nun folgte, geschah alles so schnell, daß ich nicht nur keine Zeit hatte, zu überlegen, wie ich mich verhalten und vorgehen sollte, sondern daß ich überhaupt nicht zur Besinnung kam. Hätte ich auch nur ein wenig überlegen und mich vorbereiten können, so würde ich mich selbstverständlich ganz anders aufgeführt haben. So jedoch verlor ich wie ein kleiner Junge einfach den Kopf. Ich eilte zunächst zu ihren Zimmern, aber unterwegs stieß ich auf einen Diener, der mir sagte, daß Katerina Nikolajewna bereits hinausgegangen sei und sich in den Wagen setze. Da lief ich Hals über Kopf ins Treppenhaus. Katerina Nikolajewna hatte ihren Pelz schon umgenommen und stieg die Treppe hinunter, und neben ihr ging, oder vielmehr, es führte sie ein hochgewachsener wohlgestalteter Offizier in Uniform, ohne Mantel, den Säbel an der Seite; ein Diener trug ihm den Mantel nach. Das war Baron Bjoring. Er war Oberst, etwa fünfunddreißig Jahre alt, der Typ eines eleganten Offiziers: sehnig, mit einem etwas fast zu länglichen Gesicht, einem rötlich blonden Schnurrbart und beinahe ebensolchen Wimpern. Sein Gesicht war zwar gar nicht hübsch, aber es war von scharfem Schnitt und herausforderndem Ausdruck. Ich beschreibe ihn nur flüchtig, wie ich ihn in dem Augenblick sah. Bis dahin hatte ich ihn noch niemals gesehen. Ich eilte ihnen ohne Hut und Pelz nach. Katerina Nikolajewna bemerkte mich zuerst und flüsterte ihm schnell etwas zu. Er wollte schon den Kopf nach mir umwenden, gab aber dann nur dem Diener und dem Portier einen Wink. Der Diener machte schnell einen Schritt auf mich zu – das war schon an der Haustür –, doch ich schob ihn zur Seite und lief ihnen nach auf die Vorfahrt. Bjoring half Katerina Nikolajewna in die Equipage.

„Katerina Nikolajewna! Katerina Nikolajewna!“ rief ich sinnlos (wie ein Esel! Wie ein Esel! Oh, ich erinnere mich noch so genau, – ich war ohne Hut!).

Bjoring wandte sich wütend halb nach dem Diener um und rief ihm laut etwas zu, ein oder zwei Worte, ich weiß nicht, was. Ich fühlte nur, wie mich jemand am Ellenbogen packte. Da zogen die Pferde an, und die Equipage rollte davon – ich rief noch einmal und wollte ihr nachlaufen, doch ich sah nur noch, daß Katerina Nikolajewna zum Fenster hinausschaute und in großer Unruhe zu sein schien. Aber in meiner Hast, ihr nachzueilen, stieß ich plötzlich heftig an den Baron, ohne es zu gewahren, und ich glaube, ich trat ihm auf den Fuß. Er schrie leicht auf, knirschte mit den Zähnen, faßte mich mit starker Hand an der Schulter und stieß mich wütend fort, so daß ich gute drei Schritt zurückflog. In dem Augenblick reichte ihm der Diener den Mantel; er warf ihn sich um die Schultern, setzte sich in seinen Schlitten und rief im Fortfahren den Bedienten und dem Portier noch einmal drohend etwas zu, wobei er auf mich wies. Ich wurde von ihnen ergriffen und festgehalten: der eine warf mir meinen Pelz um, der andere reichte mir den Hut und – ich weiß nicht, was sie noch sagten; ich stand und hörte sie wohl sprechen, aber ich begriff nichts. Und auf einmal drehte ich ihnen den Rücken und eilte davon.

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