Ich trat in ihr Zimmer und traf Lisa bei ihr an. Das überraschte mich so, daß ich ganz betroffen war. Ich wußte, daß sie sich früher schon gesehen hatten, und das war bei jenem bewußten „Säugling“ geschehen. Von diesem phantastischen Einfall der stolzen und schamhaften Anna Andrejewna, dieses Kind des jungen Fürsten Ssokolski und der Lydia Achmakoff sehen zu wollen, und ihrer Begegnung dort mit Lisa werde ich vielleicht später bei Gelegenheit erzählen; aber ich hatte doch nicht erwartet, daß Anna Andrejewna jemals Lisa zu sich einladen würde. Das überraschte mich angenehm. Natürlich ließ ich mir nichts anmerken, begrüßte Anna Andrejewna, drückte Lisa heiß die Hand und setzte mich neben sie hin. Sie waren mit einer ernsten Sache beschäftigt: auf dem Tisch und auf ihren Knien lag ein teures Gesellschaftskleid Anna Andrejewnas, das leider schon alt war, das heißt, ein Kleid, das sie schon dreimal angehabt hatte, und das sie nun irgendwie ändern wollte. Lisa aber war eine große „Meisterin“ in solchen Sachen und hatte viel Geschmack, und so fand denn jetzt eine feierliche Beratung der „klugen Frauen“ statt. Mir fiel Werssiloff ein, und ich mußte lachen; aber ich war ja auch so schon in strahlender Stimmung.
„Sie sind heute recht lustig, das ist sehr angenehm,“ sagte Anna Andrejewna, und wie gewöhnlich sprach sie jedes Wort gedehnt und vornehm aus. Sie hatte eine tiefe, wohltönende Altstimme, sprach immer ruhig und nicht laut und hielt dann gewöhnlich ihre langen Wimpern gesenkt, während ein kaum merkliches Lächeln über ihr bleiches Antlitz huschte.
„Lisa weiß, wie unangenehm ich sein kann, wenn ich nicht lustig bin,“ erwiderte ich heiter.
„Vielleicht weiß auch Anna Andrejewna etwas davon,“ neckte Lisa schelmisch. Die Liebe! Wenn ich auch nur geahnt hätte, was damals in ihrer Seele vorging!
„Was tun Sie jetzt?“ fragte mich Anna Andrejewna. (Ich muß bemerken, daß sie selbst mich gebeten hatte, sie an diesem Tage zu besuchen.)
„Ich sitze jetzt hier und frage mich: Warum ist es mir immer angenehmer, Sie bei einem Buch anzutreffen als bei einer Handarbeit? Nein, wirklich, so eine Handarbeit paßt nicht zu Ihnen. In der Beziehung stimme ich ganz mit Andrei Petrowitsch überein.“
„Haben Sie sich noch immer nicht entschlossen, die Universität zu besuchen?“
„Ich bin Ihnen zu dankbar, daß Sie unsere Gespräche nicht vergessen: das beweist mir, daß Sie mitunter auch an mich denken, aber ... wegen der Universität habe ich noch keinen Vorsatz gefaßt, und außerdem habe ich meine besonderen Absichten.“
„Das heißt: er hat ein besonderes Geheimnis,“ bemerkte Lisa.
„Laß die Scherze, Lisa. Ein kluger Mensch hat mir vor ein paar Tagen gesagt, daß wir in unserer ganzen progressiven Bewegung der letzten zwanzig Jahre vor allem bewiesen hätten, daß wir schauerlich ungebildet sind. Das war natürlich auch von unseren Studierten gesagt.“
„Ach, das ist bestimmt ein Ausspruch von Papa. Du zitierst furchtbar oft seine Aussprüche,“ bemerkte Lisa.
„Lisa, du sagst das wirklich so, als trautest du mir überhaupt keinen eigenen Verstand zu!“
„In unserer heutigen Zeit kann es nur von Nutzen sein, wenn man auf die Worte kluger Menschen achtet und sie behält,“ trat Anna Andrejewna ein wenig für mich ein.
„Sehr richtig, Anna Andrejewna,“ stimmte ich ihr eifrig bei. „Wer über die gegenwärtige Phase Rußlands nicht nachdenkt, ist kein Staatsbürger! Ich betrachte Rußland vielleicht von einem sonderbaren Standpunkte aus: Wir haben das Tatarenjoch ertragen und dann die zweihundertjährige Sklaverei der Leibeigenschaft, und das, versteht sich, nur deshalb, weil das eine wie das andere nach unserem Geschmack war. Jetzt ist uns die Freiheit gegeben, und wir müssen die Freiheit ertragen: werden wir auch das verstehen? Wird es sich erweisen, daß auch die Freiheit zu ertragen, nach unserem Geschmack ist? Das ist die Frage!“
Lisa warf einen schnellen Blick auf Anna Andrejewna, und die schlug sogleich die Augen nieder und begann neben sich irgend etwas zu suchen; ich sah, daß Lisa sich krampfhaft zusammennahm, aber auf einmal trafen sich doch unsere Blicke, und da brach sie plötzlich in Lachen aus; ich fuhr auf:
„Lisa, du bist wirklich unbegreiflich!“
„Verzeih mir!“ sagte sie hastig und war schon wieder ernst, ja, fast sogar traurig. „Weiß Gott, was ich heute im Kopf habe ...“
Und es war, als zitterten Tränen in ihrer Stimme. Da schämte ich mich auf einmal: ich nahm ihre Hand und küßte sie von Herzen.
„Sie sind sehr gut,“ bemerkte Anna Andrejewna weich, als sie sah, daß ich Lisa die Hand küßte.
„Am meisten freut es mich, Lisa, daß ich dich heute fröhlich angetroffen habe,“ sagte ich. „Werden Sie es mir glauben, Anna Andrejewna: in den letzten Tagen ist sie mir immer mit einem so sonderbaren Blick begegnet, und in dem Blick schien immer so eine Frage zu liegen, wie ungefähr: ‚Hast du nicht irgend etwas erfahren? Ist alles noch gut abgegangen?‘ Wirklich, es war so etwas mit ihr.“
Anna Andrejewna hob langsam den Blick und sah sie scharf an, Lisa senkte den Kopf. Ich sah übrigens sehr gut, daß sie viel besser und näher miteinander bekannt waren, als ich bei meinem Eintritt vorhin vermutet hatte; dieser Gedanke war mir angenehm.
„Sie sagten soeben, ich sei gut; Sie glauben nicht, wie sehr ich mich bei Ihnen zum Besseren verändere, und wie angenehm es mir ist, bei Ihnen zu sein, Anna Andrejewna,“ sagte ich mit aufrichtigem Gefühl.
„Es freut mich sehr, daß Sie gerade jetzt so sprechen,“ entgegnete sie mir bedeutungsvoll. Ich muß bemerken, daß sie mit mir niemals von meinem Verschwenderleben und von dem Pfuhl, in den ich geraten war, gesprochen hatte, obgleich sie, wie ich wußte, nicht nur über alles schon unterrichtet war, sondern sogar noch selbst bei anderen sich unter der Hand nach allem erkundigt hatte. So war denn diese Entgegnung jetzt eine erste Andeutung ihrerseits, und – mein Herz wandte sich ihr noch mehr zu.
„Was macht unser Kranker?“ fragte ich.
„Oh, er fühlt sich viel besser: er geht schon herum, und gestern und heute ist er spazieren gefahren. Sind Sie denn heute noch nicht bei ihm gewesen? Er erwartet Sie sehr.“
„Ja, ich fühle mich schuldig, aber Sie ersetzen mich ja vollständig bei ihm; er ist mir untreu geworden und hat mich gegen Sie eingetauscht.“
Sie machte ein sehr ernstes Gesicht, – mein Scherz war auch wirklich recht trivial.
„Ich war heute beim Fürsten Ssergei Petrowitsch,“ stotterte ich, „und ich ... apropos, Lisa, du warst doch vorhin bei Darja Onissimowna?“
„Ja, ich war dort,“ sagte sie auffallend kurz und ohne den Kopf zu erheben. „Aber du gehst doch, denke ich, jeden Tag zum kranken Fürsten?“ fragte sie ganz unvermittelt und hastig, vielleicht nur, um etwas zu sagen.
„Ja, ich gehe allerdings zu ihm, nur komme ich nicht bei ihm an,“ versetzte ich lachend. „Ich trete ins Haus und biege nach links ab.“
„Der Fürst hat auch schon bemerkt, daß Sie sehr oft bei Katerina Nikolajewna vorsprechen. Er sprach noch gestern darüber und lachte,“ sagte Anna Andrejewna.
„Worüber? Worüber hat er gelacht?“
„Er scherzte nur wie gewöhnlich, Sie kennen ihn doch. Er sagte, im Gegenteil, daß eine junge und schöne Frau in einem jungen Mann von Ihrem Alter immer nur die Empfindung des Unwillens und Zornes hervorrufe ...“ Anna Andrejewna begann selbst zu lachen.
„Wirklich ... Nein, wissen Sie, diese Bemerkung ist sogar erstaunlich richtig!“ rief ich aus. „Bestimmt hat das nicht er gesagt, sondern Sie haben es ihm gesagt!“
„Wieso? Nein, das hat er gesagt.“
„Nun, aber wie, wenn diese schöne Frau dem jungen Mann ihre Aufmerksamkeit zuwendet, obwohl er noch gar nichts bedeutet, in der Ecke steht und sich ärgert, weil er noch kein ‚Erwachsener‘ ist, und sie ihn auf einmal der ganzen Schar der sie umgebenden Bewunderer vorzieht – was dann?“ fragte ich plötzlich herausfordernd und mit der kühnsten Miene.
Mein Herz begann zu klopfen.
„Dann wird es um dich auch auf der Stelle geschehen sein,“ sagte Lisa lachend.
„Um mich geschehen sein?“ rief ich. „Nein, um mich nicht. Ich glaube, das ist nicht richtig. Wenn eine Frau sich mir in den Weg stellt, so muß sie mir folgen. Mir stellt man sich nicht ungestraft in den Weg ...“
Lisa hat mir später gesagt, als wir einmal, lange nachher, auf diese Unterhaltung zu sprechen kamen, daß ich diesen Satz damals sehr sonderbar hervorgebracht hätte, sehr ernst und wie plötzlich in Gedanken versunken, dabei aber „so komisch, daß es ganz unmöglich war, ernst zu bleiben“. In der Tat fing auch Anna Andrejewna wieder zu lachen an.
„Lachen Sie nur, lachen Sie nur über mich!“ rief ich wie berauscht; denn dieses ganze Gespräch und die Richtung, in der es sich bewegte, gefielen mir ungemein. „Wenn Sie es tun, ist es für mich nur ein Vergnügen. Ich liebe Ihr Lachen, Anna Andrejewna! Sie haben einen eigenen Zug: Sie sind ernst, und plötzlich lachen Sie, so plötzlich, daß man es noch einen Augenblick vorher aus Ihrem Gesicht nicht erraten kann. Ich habe in Moskau eine Dame gekannt, nur dem Ansehen nach – ich beobachtete sie unbemerkt: sie war fast ebenso schön wie Sie, aber sie hatte nicht dieses Lachen, und dieses Gesicht, das sonst ebenso reizvoll war, hatte deshalb gar nichts Anziehendes; Ihr Gesicht dagegen ist ungeheuer anziehend ... eben durch diese Eigenschaft ... Das habe ich Ihnen schon lange einmal sagen wollen.“
Was ich da von der Dame, die „fast ebenso schön war wie sie“, gesagt hatte, war nur ein schlauer Schachzug von mir gewesen: ich tat bewußt ganz unbefangen, als wäre es eine unbeabsichtigte Bemerkung aus naheliegenden Gründen; denn ich wußte, daß ein unbedacht entschlüpftes Kompliment von einer Frau höher geschätzt wird als jede noch so fein gedrechselte Schmeichelei. Und wie sehr Anna Andrejewna auch errötete, ich wußte doch, daß meine Bemerkung ihr angenehm war. Die Moskauer Dame aber hatte ich mir einfach ausgedacht, nur um Anna Andrejewna unauffällig etwas Angenehmes sagen zu können und ihr eine Freude zu machen.
„Man könnte wirklich glauben,“ sagte sie mit einem gewinnenden Lächeln, „daß Sie sich in den letzten Tagen unter dem Einfluß irgendeiner schönen Frau befunden haben.“
Mir war, als flöge ich irgendwohin ... Ich hatte sogar Lust, ihnen etwas zu verraten ... aber ich bezwang mich.
„Und doch ist es noch gar nicht lange her, daß Sie sich über Katerina Nikolajewna sogar sehr feindlich äußerten.“
„Wenn ich mich tatsächlich irgendwie schlecht über sie geäußert habe,“ sagte ich mit blitzenden Augen, „so war daran die ungeheuerliche Verleumdung schuld, daß sie Andrei Petrowitschs Feindin sei; und außer dieser noch die andere Verleumdung gegen ihn, daß er sie geliebt und ihr einen Heiratsantrag gemacht habe, und ähnlicher Unsinn. Diese Behauptung ist ebenso ungeheuerlich, wie die andere Verleumdung gegen sie, daß sie noch zu Lebzeiten ihres Mannes dem jungen Fürsten Ssergei Petrowitsch das Versprechen gegeben habe, ihn zu heiraten, wenn sie Witwe werde, und nun sagt man, sie habe ihr Wort nicht gehalten. Ich weiß aber aus erster Hand, daß alles dies nicht wahr ist, und das Ganze nur ein Scherz gewesen ist. Ich weiß das aus erster Hand. Sie hat dort einmal im Auslande, in einem übermütigen Augenblick, zum Fürsten allerdings gesagt – natürlich nur im Scherz: ‚Vielleicht in der Zukunft‘; aber das konnte doch nichts anderes sein als nur ein leichtfertiges Wort! Ich weiß genau, daß der Fürst einem solchen Versprechen nicht die geringste Bedeutung beilegen konnte, und er hat auch gar nicht die Absicht gehabt,“ fügte ich schnell hinzu, da mir plötzlich etwas eingefallen war. „Er hat, glaube ich, ganz andere Absichten,“ flocht ich noch schlau ein. „Vorhin erzählte Naschtschokin bei ihm, daß Katerina Nikolajewna den Baron Bjoring heiraten werde: glauben Sie mir, er hat bei dieser Neuigkeit die beste Haltung bewahrt, dessen kann ich Sie versichern.“
„Naschtschokin war bei ihm?“ fragte plötzlich Anna Andrejewna gespannt und augenscheinlich etwas verwundert.
„Ja, versteht sich; ich glaube, das ist einer von den anständigen ...“
„Und Naschtschokin hat mit ihm von dieser Heirat mit Bjoring gesprochen?“ fragte Anna Andrejewna auf einmal sehr interessiert.
„Nicht von der Heirat, aber so, nur von der Möglichkeit, von dem Gerücht; er sagte, in der Gesellschaft spräche man davon. Was mich betrifft, so bin ich überzeugt, daß es eine unsinnige Erfindung ist.“
Anna Andrejewna dachte nach und beugte sich über ihre Näharbeit.
„Ich habe den Fürsten Ssergei Petrowitsch sehr gern,“ fuhr ich voll Eifer fort. „Er hat ja natürlich seine Fehler, das läßt sich nicht bestreiten, und ich habe mit Ihnen darüber schon gesprochen; eben eine gewisse Einseitigkeit ... aber auch seine Fehler bezeugen nur seine anständige Gesinnung, das ist sicher. Heute zum Beispiel hätten wir uns wegen einer Meinungsverschiedenheit beinahe entzweit: er ist der Ansicht, daß einer, der von Anstand spricht, selbst anständig sein müsse, sonst wäre alles, was er sagt, Lüge. Nun, sagen Sie doch selbst, ist denn das logisch? Und dabei beweist das doch nur, was für hohe Anforderungen er im Herzen an das Ehr- und Pflichtgefühl jedes Menschen stellt, und an das Gerechtigkeitsgefühl, ist es nicht so ...? Ach, Herrgott, wieviel Uhr ist es denn?“ fuhr ich plötzlich auf, da mein Blick zufällig auf die Kaminuhr gefallen war.
„Zehn Minuten vor drei,“ sagte Anna Andrejewna ruhig nach einem Blick auf die Uhr. Während ich vom Fürsten gesprochen hatte, war sie ganz still gewesen und hatte mir mit gesenktem Blick und einem verschmitzten, doch lieben Lächeln zugehört: sie wußte, warum ich ihn so lobte. Lisa hatte den Kopf über ihre Arbeit gebeugt und sich nicht mehr in die Unterhaltung gemischt.
Ich sprang auf, als hätte ich mich verbrannt.
„Sie haben sich verspätet?“
„Ja ... nein ... übrigens ja, aber ich gehe gleich. Nur noch ein Wort, Anna Andrejewna,“ begann ich erregt, „ich kann nicht anders, ich muß es Ihnen heute sagen! Ich muß Ihnen gestehen, daß ich schon mehrmals Ihre Güte gesegnet habe und das Zartgefühl, mit dem Sie mich zu sich eingeladen haben ... Auf mich ist der Verkehr mit Ihnen von größtem Einfluß gewesen ... In Ihrem Zimmer werde ich gewissermaßen seelisch reiner, und ich verlasse Sie als ein besserer Mensch, als ich sonst bin ... Glauben Sie mir. Wenn ich bei Ihnen sitze, kann ich von Schlechtem nicht nur nicht sprechen, sondern kann nicht einmal schlechte Gedanken haben; sie verschwinden in Ihrer Gegenwart, und wenn mir hier zufällig etwas Häßliches einfällt, so schäme ich mich gleich, fühle mich befangen und erröte im Herzen. Und wissen Sie, es war mir ganz besonders angenehm, heute meine Schwester bei Ihnen anzutreffen ... das spricht von soviel herzlichem Entgegenkommen Ihrerseits ... und von einem so schönen Verhältnis ... Mit einem Wort, sie beweisen dadurch, wenn Sie mir schon das Eis zu brechen erlauben, so viel Geschwisterliebe, daß ich ...“
Während ich sprach, hatte sie sich von ihrem Platz erhoben und war immer mehr errötet; plötzlich aber schien sie zu erschrecken – gleichsam vor einer Grenze, die sie nicht überschreiten wollte, zurückzuschrecken – und sie unterbrach mich hastig:
„Glauben Sie mir, ich weiß Ihre Gefühle von ganzem Herzen zu schätzen ... Ich habe Sie auch ohne Worte verstanden ... Und ich habe schon lange ...“
Sie stockte verwirrt und drückte mir die Hand. Plötzlich zupfte mich Lisa heimlich am Ärmel. Ich verabschiedete mich und ging hinaus, aber schon im anderen Zimmer holte Lisa mich ein.