Ich überspringe einen Zeitraum von fast zwei Monaten; der Leser braucht sich aber nicht zu beunruhigen: aus dem Folgenden wird ihm alles klar werden. Besonders einen Tag, den fünfzehnten November, möchte ich scharf hervorheben, – diesen Tag, der mir aus vielen Gründen nur zu gut im Gedächtnis geblieben ist. Vor allen Dingen hätte mich damals niemand wiedererkannt, der mich zwei Monate vorher gesehen hatte, wenigstens nicht mein Äußeres, oder wenn er mich auch wiedererkannt hätte, so hätte er sich diese Veränderung doch nicht erklären können. Ich war hyperelegant gekleidet – das war das erste. Jener „gewissenhafte Franzose mit eigenem Geschmack“, der mir von Werssiloff einmal empfohlen worden war, hatte mir nicht nur einen ganzen Anzug gemacht, sondern war mir schon nicht mehr fein genug: für mich arbeiteten damals ganz andere Schneider, höhere, erstklassige, und ich habe bei ihnen sogar laufende Rechnung. Auch in einem hiesigen vornehmen Restaurant habe ich laufende Rechnung, aber hier wage ich es noch nicht recht, und sobald ich wieder Geld habe, bezahle ich sofort, obschon ich weiß, daß ein solches Bezahlen mauvais ton[37] ist und mich kompromittiert. Auf dem Newski habe ich einen französischen Friseur, mit dem ich mich sehr gut stehe, und wenn ich mich von ihm frisieren lasse, erzählt er mir alle möglichen Geschichten. Um die Wahrheit zu sagen, ich spreche mit ihm, um mich im Französischen zu üben. Ich beherrsche ja die Sprache, und sogar ganz gut, aber in großer Gesellschaft habe ich doch noch eine gewisse Scheu selbst anzufangen; und meine Aussprache ist wohl auch längst nicht pariserisch. Ich habe Matwei, meinen Fiaker, der mit seinem Traber zu meinen Diensten steht, wo und wann ich bestimme. Er hat einen hellbraunen Hengst (Schimmel liebe ich nicht). Manches stimmte auch nicht ganz: es war der fünfzehnte November, seit drei Tagen hatten wir schon Winter, mein Pelz aber war alt, ein von Werssiloff längst abgelegter; hätte ich ihn verkauft, so würde ich etwa fünfundzwanzig Rubel bekommen haben. „Ich muß mir einen neuen anschaffen,“ sagte ich mir, „aber meine Taschen sind leer, und außerdem muß ich mir noch zu heute abend um jeden Preis Geld verschaffen, sonst bin ich verloren.“ – „Unglücklich und verloren“ – das waren damals meine eigenen Worte. O Niedrigkeit! Wie, woher kamen auf einmal diese Tausende, dieser Traber und diese vornehmen Restaurants? Wie hatte ich so schnell alles vergessen und mich so verändern können? O Schmach! Ja, jetzt beginne ich die Geschichte meiner Schmach und Schande, und nichts im Leben kann für mich beschämender sein, als es diese Erinnerungen sind!
Ich sage das als mein eigener Richter, und ich weiß, daß ich schuldig bin. In diesem Strudel, in den ich damals hineingeraten war, und in dem ich mich drehte, war ich zwar allein, ohne Führer und Ratgeber, aber ich schwöre, auch damals schon wußte ich, daß ich gefallen war, und deshalb bin ich nicht zu entschuldigen. Und dennoch war ich in diesen zwei Monaten beinah glücklich, – warum sage ich „beinah“? Ich war gar zu glücklich! War es sogar in solchem Maße, daß selbst das Bewußtsein meiner Schmach, das von Zeit zu Zeit in mir aufblitzte (und wie oft!), und unter dem mein Herz sich zusammenkrampfte, – daß dieses Bewußtsein (wird man es glauben?) mich noch mehr berauschte: „Ach nun, fällt man, dann fällt man; für immer falle ich ja doch nicht, ich komme schon wieder heraus! Ich habe meinen Stern!“ – Ich ging gleichsam auf einem schmalen Stege aus Holzstäben und ohne Geländer über einem Abgrund, und es machte mir Spaß, daß ich so ging; ich sah sogar in den Abgrund hinab. Es war ein Wagnis, und es war lustig. Aber meine „Idee“? – Die „Idee“, die war für später, die Idee wartete; alles, was jetzt war und geschah, war „nur ein kleiner Seitensprung“: „Warum sich denn nicht ein bißchen amüsieren?“ Das ist ja eben das Schlechte an „meiner Idee“, ich sage es hier nochmals, daß sie entschieden alle Seitensprünge zuläßt; wäre sie weniger fest und radikal, so hätte ich vielleicht nicht gewagt, mich ablenken zu lassen.
Indessen war ich immer noch der Inhaber meines kleinen möblierten Mietzimmers, war der Mieter, aber nicht der Bewohner desselben. Dort lagen mein Koffer, meine Reisetasche und noch andere Sachen, doch meine Hauptresidenz war beim Fürsten Ssergei Ssokolski. Ich saß bei ihm, ich schlief bei ihm, und das sogar wochenlang ... Wie es dazu kam, will ich gleich erklären, zunächst aber will ich noch ein paar Worte über dieses Zimmerchen sagen. Es war mir schon liebgeworden: hierher war Werssiloff gekommen, er selbst als erster nach unserem damaligen Zerwürfnis, hier hatte er damals gesessen, und dann noch viele Male. Ich wiederhole: diese Zeit war für mich eine furchtbare Schmach, zugleich aber auch ein riesiges Glück ... Und alles traf sich damals so gut und gelang mir und lächelte mir! „Und wozu diese ganze frühere Griesgrämigkeit,“ fragte ich mich in manchen seligen Minuten, „wozu diese alten schweren Wunden, meine einsame und traurige Kindheit, meine dummen Träume unter dem Kinderdeckchen, meine Schwüre, Pläne und selbst meine ‚Idee‘? Ich habe das alles in die Luft gebaut und mir ausgedacht, und nun erweist es sich, daß in der Welt etwas ganz anderes ist. Mir ist jetzt doch so froh und leicht zumute: ich habe einen Vater – Werssiloff, ich habe einen Freund – Fürst Sserjosha, und ich habe noch ...“ doch von diesem noch – reden wir lieber nicht. Ach, alles geschah im Namen der Liebe, der Großmut, der Ehre. Dann aber stellte sich heraus, daß alles schändlich, gemein und ehrlos war.
Genug.