Das erstemal war er am dritten Tage nach unserem damaligen Zerwürfnis zu mir gekommen. Ich war nicht zu Hause, und so blieb er und wartete auf mich. Ich hatte schon diese ganzen drei Tage auf ihn gewartet, aber als ich in mein Zimmer trat und ihn erblickte, flimmerte es mir vor den Augen, und mein Herz klopfte so stark, daß ich in der Tür stehen blieb. Zum Glück saß mein Wirt bei ihm, der sich für verpflichtet gehalten hatte, sich dem Gast, damit diesem das Warten nicht langweilig werde, vorzustellen und ihn mit Eifer zu unterhalten. Er war ein kleiner Beamter, Titularrat, schon in den Vierzigern, sehr pockennarbig, sehr arm, und hatte eine kranke, schwindsüchtige Frau und ein krankes Kind. Seinem Charakter nach war er äußerst mitteilsam und friedfertig, übrigens auch ziemlich taktvoll. Ich freute mich über seine Anwesenheit, er half wenigstens über den Anfang hinweg; denn was hätte ich sonst zu Werssiloff sagen sollen? Ich hatte ja gewußt, genau gewußt, diese ganzen drei Tage gewußt, daß Werssiloff selbst kommen, als erster kommen werde, – genau so, wie ich das wünschte; denn ich wäre um keinen Preis als erster zu ihm gegangen, nicht etwa aus Trotz und Verstocktheit, sondern einzig aus Liebe zu ihm, aus einer gewissen Liebeseifersucht, oder – ich weiß nicht, wie ich das ausdrücken soll. Ja, und überhaupt wird der Leser keinen schönen Redefluß bei mir finden. – Aber obschon ich ihn diese ganzen drei Tage erwartet und mir fast ununterbrochen vorgestellt hatte, wie er, wenn er käme, in mein Zimmer eintreten werde, so hatte ich mir doch nie im voraus ausdenken können, obschon ich mich krampfhaft anstrengte, wovon wir beide zu sprechen anfangen würden ... nach allem, was geschehen war.
„Ah, da bist du ja,“ sagte er und streckte mir freundschaftlich die Hand entgegen, ohne sich dabei zu erheben. „Setze dich mal zu uns; Pjotr Ippolitowitsch erzählt eine überaus interessante Geschichte von dem Großen Stein, der in der Nähe der Pawlowsker Kasernen liegt ... oder hier irgendwo in der Umgegend ...“
„Ja, ich kenne den Stein,“ sagte ich schnell und setzte mich zu ihnen auf einen Stuhl. Sie saßen am Tisch. Das ganze Zimmer war genau vier Quadratmeter groß. Ich holte einmal tief Atem.
Ein Funken von Zufriedenheit blitzte in Werssiloffs Augen auf; ich glaube, er hatte mir keine besondere Haltung zugetraut und befürchtet, ich würde mich Gott weiß wie benehmen. Nun war er beruhigt.
„Erzählen Sie es lieber nochmals von Anfang an, Pjotr Ippolitowitsch.“ – Sie redeten sich schon mit dem Vor- und Vatersnamen an.
„Ja, also, was ich sagen wollte, – das hat sich nämlich noch zu Nikolais des Ersten Zeiten zugetragen,“ wandte sich Pjotr Ippolitowitsch nervös und mit einer gewissen Pein zu mir, als litte er schon im voraus unter der Möglichkeit, daß seine Geschichte keinen Eindruck machen könnte. „Sie kennen doch diesen Stein, – plötzlich so ein großer Stein auf der Straße: warum? wozu? – er stört doch nur, nicht wahr? Majestät fuhren mehrere Mal den Weg, und jedesmal war dieser Stein da. Schließlich mißfiel das Majestät, und es ist doch auch wahr: so ein ganzer Berg, auch noch mitten auf der Straße, er ist doch nur im Wege, nicht wahr? ‚Der Stein ist zu beseitigen!‘ sagt Majestät. Nun, einmal gesagt, ist zu beseitigen – Sie verstehen, was das heißt, dieses ‚ist‘ und ‚zu beseitigen‘? Man weiß doch, wie der Selige war. Also: was tun mit diesem Stein? Alle verloren den Kopf. Da war nämlich die Stadtduma, und dann hauptsächlich war da, ich weiß nicht mehr wer, nämlich einer von unseren Aristokraten, damals die erste Persönlichkeit, und dieser hatte für alles aufzukommen. Und dieser selbe Würdenträger hört sie nun alle an, die Ratgeber nämlich: fünfzehntausend Rubel werde es kosten, sagen sie, nicht weniger, und in Silber (denn in der Regierungszeit des Seligen stand das Metallgeld höher im Wert als das Papiergeld). ‚Was, fünfzehntausend, Blödsinn!‘ sagt der Würdenträger. Die Engländer wollten nämlich zuerst Schienen legen bis zum Stein und ihn mit Dampfkraft fortschaffen; aber was hätte das gekostet? Eisenbahnen gab es doch damals bei uns noch nicht, nur die eine nach Zarskoje Sselo, die ging schon ...“
„Ach was, man hätte ihn doch einfach zersägen können,“ sagte ich mit wachsendem Verdruß; ich ärgerte mich und schämte mich vor Werssiloff; er aber hörte mit sichtlichem Vergnügen zu. Ich begriff, daß auch er über die Anwesenheit des Wirtes froh war; denn mit mir allein zu sein, wäre auch ihm peinlich gewesen, und er schämte sich sogar vor mir, das sah ich; ich weiß noch, ich empfand das fast als rührend von ihm.
„Jawohl, jawohl, gerade das war’s ja auch, worauf man dann verfiel, und es verfiel darauf von allen nur Monferrand, der nämlich damals gerade die Isaakskirche baute. ‚Zersägen und fortführen,‘ riet er. Jawohl, aber was wird das kosten?“
„Nichts kostet das, man zersägt einfach und führt die Stücke fort.“
„Nein, erlauben Sie, da muß man doch eine Maschine aufstellen, eine Dampfmaschine, und dann: wohin fortführen? Und dazu solch einen Riesenstein, fast wie ein Berg? Zehntausend, sagt man, weniger wird es nicht kosten, zehn- oder zwölftausend.“
„Hören Sie mal, Pjotr Ippolitowitsch, das ist doch barer Unsinn, das kann doch nicht so gewesen sein ...“ Aber da blinzelte mir Werssiloff heimlich zu, und in diesem geheimen Zeichen, das er mir gab, lag so viel feinfühlendes Mitgefühl mit meinem Wirt, ja sogar ein so aufrichtiges Leiden für ihn, daß mir das ungeheuer gefiel, und ich begann zu lachen.
„Ja ... ja ...“ freute sich mein Wirt, der natürlich nichts bemerkt hatte und nur fürchtete, wie alle diese Erzähler, daß man ihn durch Fragen aus dem Text bringen könnte. „Ja, und da kommt nun gerade ein Kleinbürger des Weges gegangen, ein noch junger Mann, so, wissen Sie, ein echter Russe, Vollbart und Hemdbluse, und womöglich mit so einem kleinen Rausch ... oder nein, berauscht war er nicht. Und da steht nun dieser Kleinbürger und hört zu, wie sie da beraten, nämlich die Engländer und der Monferrand; und dieser Würdenträger, die Hauptperson, ist gerade im Wagen angefahren gekommen, hört sie an und ärgert sich: wie sie sich da so lange beraten und doch nicht Rat zu schaffen wissen! Und da fällt sein Blick auf diesen Kleinbürger, auf denselben nämlich, der etwas weiter fort steht, zuhört und so etwas falsch lächelt, das heißt, nicht falsch, ich habe mich nicht richtig ausgedrückt, aber so, nämlich sozusagen etwas ... etwas ...“
„Spöttisch,“ half ihm Werssiloff vorsichtig.
„Spöttisch, ja, das ist das Wort, das heißt, ein wenig spöttisch, nämlich so mit einem gutmütigen russischen Lächeln, genau so, wissen Sie. Nun, dem Würdenträger war das natürlich wieder ein Grund zum Ärger, man weiß ja, wie das ist: ‚Heda, du, was hältst du hier Maulaffen feil? Wer bist du?‘
‚Ja so,‘ sagt er, ‚ich sehe mir das Steinchen an, Euer Gnaden.‘ Gerade so sagte er, nämlich zu dem Würdenträger. – Ja, war das nicht am Ende Fürst Ssuworoff Italijski selber, das heißt ein Nachkomme des alten Feldmarschalls ...? Oder nein, das war kein Ssuworoff, – schade, ich hab’s nämlich vergessen, wer es war, nur war er, wissen Sie, wenn auch Durchlaucht und was nicht alles, so doch ein echter Russe, so ein russischer Typus, Patriot, mit einem verstehenden russischen Herzen; na, er erriet sofort:
‚So, siehst das Steinchen an und lachst dabei – würdest du etwa den Stein fortschaffen können? – Worüber lachst du denn?‘
‚Mehr so eigentlich über die Engländer, Euer Gnaden,‘ sagt er, ‚die machen doch einen schon gar zu hohen Preis, weil der russische Beutel dick ist und sie zu Hause nichts zu essen haben. Wenn Euer Gnaden mir hundert Rubel aussetzen wollten – bis morgen abend schaffen wir das Steinchen aus dem Wege.‘
Nun, können Sie sich einen solchen Vorschlag denken? Die Engländer hätten ihn vor Wut natürlich gefressen; Monferrand lacht; nur dieser Würdenträger mit dem russischen Herzen sagt: ‚Man gebe ihm die hundert Rubel! Wirst du ihn wirklich fortschaffen können?‘
‚Morgen gegen Abend wird er weg sein, Euer Gnaden.‘
‚Ja, aber, wie willst du das machen?‘
‚Das mag schon, mit Verlaub, wenn Euer Gnaden das nicht übelnehmen, unser Geheimnis bleiben,‘ sagt er, und wissen Sie, sagt es so richtig russisch! Das gefiel dem Würdenträger. ‚Man gebe ihm alles, was er verlangt!‘ Und dabei blieb’s. Was glauben Sie wohl, was er nun tat?“
Mein Wirt machte eine Kunstpause und sah mit gerührtem Blick bald mich, bald Werssiloff an.
„Ich weiß es nicht,“ sagte Werssiloff lächelnd; ich ärgerte mich.
„Ja, sehen Sie, er tat das nämlich so,“ hub der Wirt nun mit einem solchen Triumphgefühl an, als hätte er das alles selbst gemacht. „In kürzester Zeit hatte er sich soundso viele Bauern mit Spaten gedungen, ganz gewöhnliche, aber so richtige russische Bauern, und mit denen begann er dicht beim Stein eine Grube zu graben; die ganze Nacht gruben sie, gruben eine riesige Grube, so groß wie der Stein, sogar noch etwas größer, und als die fertig war, ließ er allmählich und vorsichtig und immer mehr die Erde auch unter dem Stein weggraben. Nun, das ist doch erklärlich, je mehr sie unten weggruben, um so weniger hatte der Stein Boden unter sich, auf dem er stehen konnte, und um so mehr kam sein Gleichgewicht ins Wanken; und wie er dann ganz ins Wanken kam, da stemmten sie sich noch alle Mann von der anderen Seite gegen den Stein, so, wissen Sie, mit Hurra und auf russische Art: der Stein schaukelte mal, und – plumps! fiel er in die Grube! Dann wurde fix zugeschaufelt, mit einem Rammklotz festgestampft, mit Steinchen festgepflastert – alles glatt, und der Stein war weg!“
„Denken Sie sich!“ sagte Werssiloff.
„Und was da an Menschen zusammenlief! Menschen, mehr als man zählen kann! Die Engländer, die nämlich schon längst alles erraten hatten, stehen da, sind wütend. Monferrand kommt angefahren: ‚Das,‘ sagt er, ‚ist bäurisch gemacht, ist gar zu einfach.‘ – Aber das ist doch gerade der ganze Witz der Sache, daß es so einfach zu machen war, ihr aber, ihr Schafsköpfe, seid nicht darauf verfallen! Und ich kann Ihnen sagen, dieser Vorgesetzte, nämlich dieser hohe Würdenträger und Staatsmann, – der umarmte ihn einfach und küßte ihn: ‚Ja, woher kommst du, wer bist du?‘ fragt er ihn. – ‚Wir sind aus dem Jaroslawschen, Euer Gnaden, sind unserem Handwerk nach, mit Verlaub zu sagen, eigentlich Schneider, im Sommer aber kommen wir nach der Hauptstadt, um mit Früchten bißchen Handel zu treiben, Euer Gnaden.‘ Nun, die Obrigkeit erfuhr davon, und ihm wurde eine Medaille umgehängt; und so ging er denn seit der Zeit immer mit der Medaille am Halse; aber dann hat er sich dem Trunk ergeben, sagt man. Wissen Sie, ein russischer Mensch, der bändigt sich ja nicht! Deshalb nämlich werden wir auch bis heute von den Ausländern ausgesogen, ja ... Ja ... sehen Sie wohl!“
„Ja, allerdings, die russische Art ...“ begann Werssiloff, aber da wurde mein Wirt von der kranken Frau gerufen, und er mußte zu ihr eilen, – zu seinem Glück; denn ich hätte mich nicht mehr lange bezwingen können. Werssiloff lachte.
„Mein Lieber, er hat mich ja schon eine ganze Stunde amüsiert, noch bevor du kamst. Diese Anekdote vom Stein ... die ist doch für ihn die einzige Möglichkeit, sein patriotisches Empfinden auszudrücken, – wie darf man ihn da unterbrechen? Du hast es doch selbst gesehen: er verging ja förmlich vor Wonne. Und außerdem liegt dieser Stein, wenn ich mich nicht sehr irre, noch heute dort und ist noch niemals versenkt worden ...“
„Ach, bei Gott!“ rief ich, „das ist allerdings wahr! Aber wie durfte er dann ...“
„Was hast du? Du bist ja, wie’s scheint, ganz ernstlich aufgebracht? Laß gut sein. Er hat da etwas verwechselt. Ich habe eine ähnliche Geschichte von einem Stein schon in meiner Kindheit gehört, nur lag jener Stein selbstverständlich irgendwo anders. Ich bitte dich: ‚die Obrigkeit erfuhr davon‘! – seine ganze Seele sang ja förmlich, als er das sagte. In diesem traurigen Milieu geht es ja nicht ohne Anekdoten. Sie kennen eine Unmenge solcher Geschichten, und sie gefallen ihnen ... Hauptsächlich wegen ihrer eigenen Ungeistigkeit. Sie haben nichts gelernt, sie wissen nichts Wissenswertes, nun, ein Mensch aber will doch manchmal auch von etwas anderem reden, als nur vom Kartenspiel oder ewig fachsimpeln, man will doch auch einmal von etwas allgemein Menschlichem, Poetischem reden ... Was ist er, dieser Pjotr Ippolitowitsch?“
„Ein armer Kerl, und sogar ein unglücklicher Mensch.“
„Nun, siehst du, vielleicht spielt er nicht einmal Karten? Ich sage dir nochmals, mit der Erzählung solcher Anekdötchen kommt er dem Bedürfnis seiner Nächstenliebe nach: er wollte doch auch uns glücklich machen. Und auch seiner Vaterlandsliebe hat er ein Genüge getan. Dann haben sie da noch eine Anekdote, – wie die Engländer Sawjaloff eine Million gezahlt hätten, damit er seine Fabrikate nicht mehr mit seiner Fabrikmarke versehe.“
„Ach Gott, ja, diese Anekdote habe ich auch gehört.“
„Wer hat sie nicht gehört? Und wenn er sie erzählt, weiß er ja ganz genau, daß du sie schon gehört hast, aber er erzählt sie trotzdem und macht sich selbst glauben, daß du sie noch nicht gehört hast. Die Anekdote vom Traum des Schwedenkönigs scheint bei ihnen jetzt schon veraltet zu sein; in meiner Jugend wurde sie noch mit Wonne erzählt, und in geheimnisvollem Flüsterton, ganz wie die andere Geschichte, daß zu Anfang des Jahrhunderts jemand im Senat vor den Senatoren auf den Knien gelegen habe. Über den Kommandanten Baschutzki gab es gleichfalls viele Anekdoten, zum Beispiel, wie das Denkmal gestohlen wurde. Besonders beliebt sind Anekdoten, die sich angeblich bei Hofe zugetragen haben. Zum Beispiel von Tschernüschoff, dem ehemaligen Premierminister; etwa wie er, der siebzigjährige Greis, sich äußerlich so herzurichten verstanden hätte, daß er wie ein Dreißigjähriger aussah, und der selige Kaiser sich bei den Empfängen jedesmal über ihn wunderte.“
„Auch diese Geschichte kenne ich.“
„Wer kennt sie nicht? Alle diese Anekdoten sind der Gipfel geistiger Unsachlichkeit; aber du mußt wissen, daß dieser Typ des unsachlichen Menschen viel tiefer sitzt und sogar viel verbreiteter ist, als wir gemeinhin annehmen. Die Lust zu lügen, um seinen Nächsten glücklich zu machen, wirst du sogar in unserer besten Gesellschaft antreffen; denn wir leiden alle an dieser Unenthaltsamkeit unserer Herzen. Nur sind unsere Geschichten von etwas anderer Art; was aber bei uns zum Beispiel allein von Amerika alles erzählt wird, und noch dazu von Staatsmännern, das ist fürchterlich. Ja, ich muß bekennen, daß ich selbst zu diesem unenthaltsamen Typ gehöre und mein ganzes Leben lang darunter gelitten habe ...“
„Die Anekdote von Tschernüschoff habe auch ich schon ein paarmal erzählt.“
„Sogar schon selbst erzählt?“
„Hier ist außer mir noch ein Zimmermieter, ein Beamter, der gleichfalls Pockennarben hat, ein schon alter Mann, aber er ist ein furchtbarer Prosaiker, und sobald Pjotr Ippolitowitsch zu erzählen beginnt, fängt er sofort an ihn zu unterbrechen und aus dem Text zu bringen. Das hat er so weit gebracht, daß mein Wirt ihn wie ein Sklave bedient und ihm alles zu Gefallen tut, damit er ihn nur erzählen läßt.“
„Das ist bereits ein anderer Typ des Unsachlichen und vielleicht sogar ein widerlicherer als der erste. Der erste – ist ganz Begeisterung! ‚Laß mich nur etwas faseln, und du wirst sehen, wie schön alles sich abspielt!‘ Der zweite Typ – ist ganz Mißgunst und Prosa: ‚Ich laß dich nicht faseln, wo geschah das, wann, in welchem Jahre?‘ – mit einem Wort, der zweite Typ ist ein Mensch ohne Herz. Mein Freund, laß den Menschen immer ein wenig dichten – es ist eine unschuldige Lust. Laß ihn sogar viel dichten. Erstens beweist du damit Zartgefühl, und zweitens wird man dich dafür gleichfalls dichten lassen – also zwei Vorteile zugleich. Que diable![38] Man muß seinen Nächsten lieben. Aber für mich ist es Zeit. Du hast dich sehr nett eingerichtet,“ bemerkte er, sich vom Stuhl erhebend. „Ich werde Ssofja Andrejewna und deiner Schwester erzählen, daß ich bei dir gewesen bin und dich bei guter Gesundheit angetroffen habe. Auf Wiedersehen, mein Lieber.“
Wie, war das alles? Aber das war ja gar nicht das, was ich brauchte! Ich hatte etwas ganz anderes erwartet, natürlich die Hauptsache, aber ich begriff nun und sah ein, daß es anders ja gar nicht möglich war. Ich nahm das Licht und begleitete ihn auf die Treppe hinaus; auch mein Wirt eilte diensteifrig herbei und wollte ihn gleichfalls begleiten, aber ich packte ihn hinter Werssiloffs Rücken am Arm und stieß ihn wütend zurück. Er sah mich zwar verwundert an, drückte sich aber sogleich.
„Diese Treppen ...“ sagte Werssiloff undeutlich und langsam, augenscheinlich nur, um etwas zu sagen und somit zu verhüten, daß ich etwas sagte, wovor er Angst zu haben schien, „... diese Treppen – ich bin an so was nicht gewöhnt, und du wohnst im dritten Stock, – übrigens, jetzt finde ich schon den Weg ... Bemühe dich nicht, mein Lieber, du wirst dich noch erkälten.“
Aber ich ging nicht zurück. Wir waren schon auf der zweiten Treppe.
„Ich habe diese ganzen drei Tage nur auf Sie gewartet,“ entrang es sich mir plötzlich; wie von selbst; mein Atem stockte.
„Ich danke dir, mein Lieber.“
„Ich wußte, daß Sie bestimmt kommen würden.“
„Und ich wußte, daß du wußtest, daß ich bestimmt kommen würde. Hab Dank, mein Lieber.“
Er verstummte. Wir waren fast schon an der Haustür angelangt, und ich folgte ihm immer noch. Er wollte die Tür öffnen – ein kurzer Windstoß löschte mein Licht. Da ergriff ich plötzlich seine Hand; es war stockdunkel. Er zuckte zusammen, sagte aber nichts und schwieg. Ich beugte mich plötzlich über seine Hand und küßte sie gierig, küßte sie mehrmals, küßte sie immer wieder.
„Mein lieber Junge, ja wofür liebst du mich denn so?“ sagte er, aber schon mit einer ganz anderen Stimme.
Seine Stimme bebte, etwas ganz Neues klang in ihr, ganz als hätte nicht er gesprochen.
Ich wollte irgend etwas erwidern, brachte aber nichts über die Lippen und lief zurück nach oben. Er aber wartete immer noch und stand auf demselben Platz; erst als ich schon im dritten Stock angelangt war, hörte ich, wie unten die Haustür aufging und dann laut zuschlug. An meinem Wirt, der mir, weiß Gott weshalb, wieder in den Weg lief, schlüpfte ich schnell vorüber in mein Zimmer, verriegelte die Tür von innen und warf mich, ohne Licht zu machen, auf mein Bett, grub das Gesicht ins Kissen und – weinte, weinte. Zum erstenmal weinte ich wieder seit der Zeit bei Touchard! Das Schluchzen erschütterte mich mit solcher Gewalt, und ich war so glücklich ... doch wozu das beschreiben.
Ich habe das jetzt niedergeschrieben, ohne mich zu schämen; denn vielleicht war das alles nur gut, trotz der ganzen Ungereimtheit.