IV.

Ich überschüttete ihn damals mit Fragen, ich stürzte mich auf ihn wie ein Hungriger auf Brot. Er antwortete mir immer bereitwillig und offenherzig, aber im Grunde waren es nur ganz allgemein gehaltene Aphorismen, so daß schließlich doch nichts aus ihm herauszubekommen war. Dabei hatten mich alle diese Fragen schon mein Leben lang beunruhigt, und ich sage offen, ich hatte die Entscheidung dieser Fragen schon in Moskau bis auf weiteres aufgeschoben, eben bis zu unserem Wiedersehen in Petersburg. Ich habe ihm das einmal sogar gesagt, und er begann nicht über mich zu lachen, im Gegenteil, ich weiß noch, er drückte mir die Hand. Über die allgemeine Politik und die sozialen Fragen konnte ich auch so gut wie nichts aus ihm herausbringen, und gerade diese Fragen beunruhigten mich am meisten, natürlich im Hinblick auf meine „Idee“. Über Menschen wie Dergatschoff entriß ich ihm einmal die Bemerkung, sie ständen „unter jeder Kritik“, aber gleich darauf fügte er sonderbar hinzu, daß er sich „das Recht vorbehielte, seiner eigenen Meinung nicht die geringste Bedeutung beizulegen“. Darüber, wie die heutigen Staaten und die heutige Welt enden und wie die soziale Welt sich von neuem aufbauen werde, schwieg er sich zunächst aus, aber einmal quälte ich doch so lange, bis er einige Worte darüber äußerte.

„Ich kann mir denken, daß sich das alles höchst prosaisch abspielen wird,“ sagte er. „Es werden ganz einfach alle Staaten einmal, obgleich ihre Budgets balancieren und ‚keine Defizite‘ vorhanden sind, un beau matin[39] endgültig in der wirresten Verwicklung sitzen, und da werden denn wohl alle ohne Ausnahme nicht mehr bezahlen wollen, damit alle ohne Ausnahme sich im allgemeinen Bankerott erneuen können. Dem wird sich das ganze konservative Element der Welt widersetzen, denn eben dieses wird der Aktionär und Gläubiger sein und den Bankerott nicht zulassen wollen. Dann wird natürlich sozusagen die allgemeine Oxydation beginnen; es werden viele Juden kommen, und dann beginnt die jüdische Herrschaft; und darauf werden alle diejenigen, die niemals Aktien besessen haben und überhaupt noch nichts besessen haben, also alle Armen, natürlicherweise den Oxydationsprozeß nicht mitmachen wollen ... So wird denn der Kampf beginnen, und nach siebenundsiebzig Niederlagen werden die Armen die Aktionäre vernichten, ihnen die Aktien wegnehmen und sich auf ihre Plätze setzen, wiederum als Aktionäre, versteht sich. Vielleicht werden sie auch was Neues sagen, vielleicht aber auch nicht. Wahrscheinlicher ist, daß sie gleichfalls bankerottieren werden. Weiter, mein Freund, vermag ich mir nichts mehr vorzustellen von den zukünftigen Ereignissen, die das Antlitz dieser Welt verändern werden. Übrigens, schlage in der Apokalypse nach ...“

„Ja, ist denn das wirklich alles so materialistisch? Wird denn die jetzige Welt wirklich einzig an den Finanzen zugrunde gehen?“

„Oh, ich habe doch, versteht sich, nur ein Eckchen des Gesamtbildes genommen, aber auch dieses Eckchen ist mit dem Ganzen sozusagen durch unzerreißbare Bande verbunden.“

„Ja, aber, was soll man denn tun?“

„Ach, Gott, beeile dich doch nicht so: das wird ja alles nicht so bald geschehen. Im allgemeinen aber ist nichts zu tun das allerbeste, – wenigstens hat man dann sein ruhiges Gewissen und kann sich sagen, daß man sich an nichts beteiligt hat.“

„Nein, genug, sprechen Sie zur Sache. Ich will wissen, was ich tatsächlich tun soll, und wie ich leben soll?“

„Was du tun sollst, mein Lieber? Sei ehrlich, lüge nie, trachte nicht nach deines Nächsten Haus, mit einem Wort: Lies die Zehn Gebote – da ist alles das auf ewig niedergeschrieben.“

„Hören Sie auf, hören Sie auf, das ist ja alles so alt, und zudem sind es bloß Worte, hier aber bedarf es einer Tat!“

„Nun, wenn dich die Langeweile schon gar zu sehr drückt, dann bemühe dich, irgend jemand oder irgend etwas liebzugewinnen oder einfach nur dein Herz an irgend etwas zu hängen.“

„Sie spotten ja nur! Und dann, was soll ich ganz allein mit Ihren Zehn Geboten anfangen?“

„Erfülle sie nur, trotz all deiner Fragen und Zweifel, und du wirst ein großer Mensch sein.“

„Von dem niemand was weiß.“

„Es gibt nichts Geheimes, was nicht offenbar würde.“

„Sie spotten ja tatsächlich!“

„Nun, wenn du es dir schon so sehr zu Herzen nimmst, so ist es das beste, du bemühst dich, möglichst schnell dich zu spezialisieren, beschäftigst dich mit Häuserbau oder mit der Jurisprudenz, und dann, wenn du deine wirkliche und ernste Arbeit hast, wirst du dich beruhigen und das Unwichtige vergessen.“

Ich schwieg; was konnte man aus solchen Reden entnehmen? Und doch regten mich diese Fragen nach jedem solchen Gespräch noch mehr auf als früher. Außerdem sah ich doch deutlich, daß in ihm immer gleichsam ein gewisses Geheimnis blieb, und gerade das war es, was mich immer mehr und immer stärker zu ihm hin zog.

„Hören Sie,“ unterbrach ich ihn einmal, „ich habe immer den Verdacht, daß Sie alles das nur so sagen, aus Erbitterung und Leid, im geheimen aber, so für sich, sind gerade Sie ein Fanatiker irgendeiner höheren Idee, nur verheimlichen Sie das, oder Sie schämen sich, es einzugestehen.“

„Ich danke dir, mein Lieber.“

„Hören Sie, es gibt nichts Höheres, als nützlich zu sein. Sagen Sie mir, wodurch kann ich im gegebenen Augenblick am allernützlichsten sein? Ich weiß, daß es Ihnen nicht möglich ist, das zu entscheiden; aber ich will nur Ihre Meinung wissen: Sagen Sie sie, und was Sie sagen, das werde ich tun, das schwöre ich Ihnen! Also: Was wäre zum Beispiel ein großer Gedanke?“

„Nun, Steine in Brot zu verwandeln, – da hast du einen großen Gedanken.“

„Ist das der größte? Nein, wahrhaftig, Sie haben mir einen ganzen Weg gezeigt! Sagen Sie: ist das wirklich der größte?“

„Ein sehr großer, mein Freund, ein sehr großer, aber nicht der größte; ein großer, aber ein zweitrangiger, nur im gegebenen Moment ist er groß: hat der Mensch sich sattgegessen, so denkt er nicht mehr daran; im Gegenteil, er wird sofort sagen: ‚So, nun habe ich mich sattgegessen, und was soll ich jetzt tun?‘ Die Frage bleibt ewig offen.“

„Sie sprachen einmal von ‚Genfer Ideen‘; ich habe Sie damals nicht verstanden; was sind das für ‚Genfer Ideen‘?“

„Die Genfer Ideen – das ist die Tugend ohne Christus, mein Freund, also die heutigen Ideen, oder richtiger, die Idee der ganzen heutigen Zivilisation. Mit einem Wort, das ist eine dieser langen Geschichten, über die zu sprechen sehr langweilig ist, und es wird viel besser sein, wenn wir beide von etwas anderem sprechen, oder noch besser, wenn wir von anderem schweigen.“

„Natürlich, wenn Sie nur schweigen können, das ist für Sie immer die Hauptsache!“

„Mein Freund, vergiß nicht, schweigen ist gut, ungefährlich und schön.“

„Schön?“

„Versteht sich. Das Schweigen ist immer schön, und der Schweigende ist immer schöner als der Redende.“

„Freilich ist so reden, wie Sie mit mir reden, ebensogut wie schweigen. Zum Teufel mit solch einer Schönheit, und vor allem, zum Teufel mit solch einem Vorteil!“

„Mein Lieber,“ sagte er da auf einmal zu mir, und er änderte ein wenig seinen Ton, ja, er sprach sogar mit einem gewissen Gefühl und mit besonderem Nachdruck: „Mein Lieber, ich will dich durchaus nicht zu irgendeiner bourgeoisen Tugendhaftigkeit verführen und von deinen Idealen fortlocken; ich predige dir nicht: ‚Glück ist besser als Heldentum‘; im Gegenteil, Heldentum steht höher als jedes Glück, und allein die Fähigkeit dazu ist an sich schon ein Glück. So brauchen wir nun darüber keine Worte mehr zu verlieren. Eben deshalb achte ich dich ja auch, weil du in unserer Oxydationszeit fähig gewesen bist, in deiner Seele dir irgendeine ‚eigene Idee‘ zu schaffen (rege dich nicht auf, ich habe mir das sogar sehr gemerkt). Aber man muß doch auch ans rechte Maß denken; denn dich verlangt jetzt nach einem auffallenden Leben: womöglich etwas anzuzünden oder zu zerschmettern, über ganz Rußland dich zu erheben, wie eine Gewitterwolke vorüberzuziehen und alle in Angst und Entzücken zurückzulassen, selbst aber irgendwo in den Vereinigten Staaten von Nordamerika zu verschwinden. Sicherlich ist jetzt etwas Ähnliches in deiner Seele, und deshalb halte ich es auch für notwendig, dich zu warnen, denn ich habe dich aufrichtig liebgewonnen, mein Junge.“

Und was konnte ich selbst hieraus entnehmen? Hieraus sprach nur Unruhe um mich, um mein materielles Schicksal; der Vater verriet sich mit prosaischen, wenn auch guten Gefühlen; aber war es denn das, was ich angesichts der Ideen brauchte, für die jeder ehrliche Vater seinen Sohn selbst in den Tod schicken muß, wie der alte Horatius seine Söhne für die Idee Roms?

Ich kam ihm auch oft mit Fragen wegen der Religion, aber hier stieß ich auf den dichtesten Nebel. Auf meine Frage: „Was soll ich in diesem Sinne tun?“ antwortete er mir auf die dümmste Weise, als wäre ich ein kleines Kind: „Man muß an Gott glauben, mein Lieber.“

„Aber wenn ich an alles das nun einmal nicht glaube?“ rief ich gereizt.

„Nun, das ist vortrefflich, mein Lieber.“

„Wieso vortrefflich?“

„Es ist das beste Zeichen, mein Freund; sogar das zuverlässigste, denn unser russischer Atheist – wenn er nur auch wirklich Atheist ist und ein wenig Verstand besitzt – ist der beste Mensch in der ganzen Welt, und ist immer geneigt, Gott freundlich zu behandeln, eben weil er unbedingt gut ist, und gut ist er, weil er maßlos zufrieden damit ist, daß er – Atheist ist. Unsere Atheisten sind ehrenwerte Leute und sind in höchstem Maße zuverlässig, sind, vielleicht, die Stützen des Vaterlandes ...“

Das war natürlich etwas, aber ich wollte was anderes; nur einmal sprach er sich deutlicher mir gegenüber aus, aber doch so sonderbar, daß er mich durch diese Worte am meisten in Erstaunen setzte, besonders, da ich von seinem angeblichen Katholizismus und seinen Büßerketten gehört hatte.

„Mein Lieber,“ sagte er damals zu mir, es war nicht in meinem Zimmer, sondern auf der Straße, und nach einem langen Gespräch; ich begleitete ihn. „Mein Freund, die Menschen so zu lieben, wie sie sind, ist unmöglich. Und doch soll man es nun einmal. Deshalb verbeiße deine Gefühle, wenn du ihnen Gutes tun willst, halte dir die Nase zu und schließe die Augen (letzteres ist unbedingt erforderlich). Ertrage von ihnen Böses, nach Möglichkeit ohne dich über sie zu ärgern, ‚eingedenk dessen, daß auch du ein Mensch bist‘. Versteht sich, du bist verpflichtet, streng mit ihnen zu sein, wenn du auch nur ein wenig klüger sein mußt als der Durchschnitt. Die Menschen sind ihrer Natur nach niedrig und am ehesten bereit, aus Furcht zu lieben; gehe du auf eine solche Liebe nicht ein und höre nicht auf, zu verachten. Irgendwo im Koran gebietet Allah dem Propheten, auf die ‚Verstockten‘ wie auf Mäuse herabzusehen, ihnen Gutes zu tun und an ihnen vorüberzugehen. – Ein wenig stolz, aber richtig. Verstehe es, sie sogar dann zu verachten, wenn sie gut sind; denn gerade dann sind sie am häufigsten schlecht. Oh, mein Lieber, wenn ich das sage, urteile ich nach mir selbst! Wer auch nur ein wenig – nicht dumm ist, kann nicht leben, ohne sich selbst zu verachten, ob er nun ehrenhaft ist oder nicht, das ist ganz einerlei. Seinen Nächsten lieben und ihn nicht verachten, – ist unmöglich. Meiner Ansicht nach ist der Mensch mit der physischen Unmöglichkeit geschaffen, seinen Nächsten zu lieben. Es muß da ein Irrtum in den Ausdrücken sein, und zwar schon von Anfang an, und unter der ‚Liebe zur Menschheit‘ kann man nur Liebe zu derjenigen Menschheit verstehen, die du dir selbst in deiner Seele erschaffst (mit anderen Worten: dich selbst hast du erschaffen, und folglich ist es Liebe zu dir selbst), – und die es deshalb niemals in der Wirklichkeit geben wird.“

„Niemals geben wird?“

„Mein Freund, ich gebe zu, daß das ein wenig dumm wäre, aber das ist nicht meine Schuld; und da man bei der Erschaffung der Welt mich nicht gefragt hat, so behalte ich mir das Recht vor, in der Beziehung meine eigene Meinung zu haben.“

„Ja, aber – wie kann man Sie dann noch einen Christen nennen,“ rief ich aus, „einen Mönch mit Büßerketten, einen Propheten? Das verstehe ich nicht!“

„Wer nennt mich denn so?“

Ich erzählte es ihm; er hörte mich sehr aufmerksam an, aber das Gespräch brach er ab.

Leider kann ich mich nicht mehr erinnern, aus welchem Anlaß es damals zu diesem mir noch so gut erinnerlichen Gespräch zwischen uns kam; aber ich weiß noch, daß er beinahe in Zorn geriet, was bei ihm sonst fast nie geschah. Er sprach leidenschaftlich und ohne Spott, ganz, als spräche er nicht zu mir. Aber wiederum glaubte ich ihm nicht: er konnte doch nicht mit einem Menschen, wie ich, von diesen Dingen ernsthaft reden!

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