Aber er mußte mir dafür schon büßen! Ich wurde ein schrecklicher Despot. Selbstverständlich ist diese Szene von uns nachher nie erwähnt worden. Im Gegenteil, wir begegneten uns am dritten Tage, als hätte sich nicht das geringste zwischen uns zugetragen, – mehr noch: ich war an dem Abend nahezu grob, und er war auch von einer gewissen wortkargen Trockenheit. Das trug sich wieder in meiner Wohnung zu; ich war, ich weiß nicht weshalb, noch immer nicht zu ihnen gegangen, trotz meines Verlangens, meine Mutter zu sehen.
Gesprochen haben wir in dieser ganzen Zeit, das heißt, in diesen ganzen zwei Monaten, nur von den abstraktesten Dingen. Und darüber muß ich mich nun eigentlich wundern: wir taten wirklich nichts anderes, als Gespräche über die abstraktesten Themata führen, natürlich waren es allgemein menschliche und die für unsere Zeit wichtigsten Themata, aber sie berührten nicht im entferntesten die dringendsten Fragen unseres persönlichen Lebens in der konkreten Wirklichkeit. Und dabei gab es in dieser Wirklichkeit so vieles, was festgesetzt und aufgeklärt werden mußte, und das tat sogar dringend not, aber gerade darüber schwiegen wir. Ich sprach sogar mit keinem Wort von meiner Mutter oder Lisa und ... nun, und schließlich auch nicht von mir und meiner ganzen Geschichte. Geschah das nun aus Schamgefühl oder aus einer gewissen jugendlichen Dummheit – das weiß ich nicht. Ich nehme an, daß es Dummheit war; denn über das Schamgefühl hätte man sich immerhin noch hinwegsetzen können. Ich spielte ihm gegenüber, wie gesagt, den Despoten, und manchmal wurde ich sogar unverschämt, wurde es aber eigentlich gegen meine Absicht: ich weiß nicht, das geschah alles irgendwie ganz von selbst und unbezwingbar, ich konnte mich nicht zurückhalten. In seinem Ton dagegen lag nach wie vor ein feiner Spott, wenn er auch immer überaus freundlich war, trotz aller meiner Ausfälle. Es wunderte mich auch nicht wenig, daß er selbst lieber zu mir kam, so daß ich schließlich nur noch sehr selten zu Mama ging, höchstens einmal in der Woche, nicht öfter, besonders in der allerletzten Zeit, als ich schon ganz und gar vom Wirbel erfaßt worden war und mich in ihm drehte. Er kam immer abends, saß bei mir und unterhielt sich mit mir; auch mit meinem Wirt unterhielt er sich gern, – das ärgerte mich bei einem Menschen wie ihm. Mir kam auch der Gedanke: Hat er denn außer mir wirklich keinen Menschen, zu dem er gehen könnte? Doch ich wußte ganz genau, daß er noch andere Bekannte hatte und in der letzten Zeit sogar frühere Beziehungen zu der höheren Gesellschaft, die von ihm vor einem Jahr abgebrochen worden waren, wieder erneuert hatte; aber ich glaube, der Verkehr mit ihnen lockte ihn nicht sonderlich; viele Beziehungen hatte er nur offiziell erneuert, und wie mir schien, kam er lieber zu mir. Es rührte mich manchmal sehr, daß er, wenn er abends zu mir kam, fast jedesmal beim Öffnen der Tür gleichsam zagte und in der ersten Minute mir immer mit einer sonderbaren Unruhe in die Augen sah, als wollte er fragen: ‚Störe ich nicht? Sage es nur, und ich gehe.‘ Ja, er sprach das manchmal sogar aus. Einmal, zum Beispiel, es war in der letzten Zeit, kam er, als ich gerade vom Schneider meinen Anzug erhalten und mich angekleidet hatte, um zum „Fürsten Sserjosha“ zu fahren, mit dem ich mich irgendwohin begeben wollte (wohin – werde ich später erklären). Er aber hatte sich schon gesetzt und wahrscheinlich gar nicht bemerkt, daß ich aufbrechen wollte; bisweilen kam eine sehr sonderbare Zerstreutheit über ihn. Und zum Unglück begann er gerade von meinem Wirt zu sprechen; ich brauste auf:
„Ach, zum Teufel mit ihm, mit diesem Wirt!“
„Ach so, mein Lieber,“ er stand sogleich auf. „Du scheinst ausgehen zu wollen, und da habe ich dich aufgehalten ... Entschuldige, bitte.“
Und er beeilte sich, mich zu verlassen. Eben diese Bescheidenheit eines solchen Menschen, und noch mir gegenüber, eines so unabhängigen Weltmannes, der soviel Persönliches hatte, erweckte in meinem Herzen mit einem Schlage wieder meine ganze Zärtlichkeit zu ihm und meinen ganzen Glauben an ihn. Aber wenn er mich so liebte, warum hielt er mich dann in dieser Zeit meiner Schmach nicht zurück? Er hätte doch damals nur ein Wort zu sagen brauchen – und ich hätte mich vielleicht beherrscht. Übrigens ... vielleicht auch nicht. Aber er sah doch meine Modetorheiten, meine Großmannssucht, meinen Schlitten (ich wollte ihn sogar einmal in meinem Schlitten mitnehmen, aber er lehnte es ab; und sogar mehr als einmal habe ich ihn aufgefordert, einzusteigen, er hat aber immer abgelehnt), er sah doch, daß ich mit dem Gelde nur so um mich warf, – und kein Wort, kein Wort von ihm, nicht einmal eine neugierige Frage! Das hat mich die ganze Zeit gewundert, auch heute noch wundert es mich. Ich aber schämte mich damals natürlich nicht im geringsten vor ihm und ließ ihn alles sehen, wenn ich auch kein Wort zur Erklärung sagte. Er fragte nicht, und ich sagte nichts. Das heißt, ein paarmal waren wir doch nahe daran, auf das Thema der dringenden Angelegenheiten überzugehen. Einmal fragte ich ihn (das war noch am Anfang, bald nach seinem Verzicht auf die Erbschaft), wovon und wie er denn jetzt zu leben gedenke.
„Irgendwie, mein Freund,“ sagte er mit auffallender Ruhe.
Heute weiß ich, daß selbst Tatjana Pawlownas kleines Kapital von ungefähr fünftausend Rubel in diesen zwei letzten Jahren zur Hälfte für Werssiloff verausgabt worden ist.
Ein anderes Mal kamen wir, ich weiß nicht mehr, wie, auf meine Mutter zu sprechen; auf einmal sagte er traurig: „Mein Freund, ich habe es Ssofja Andrejewna oft gesagt, in der ersten Zeit unserer Verbindung, übrigens nicht nur in der ersten Zeit, auch in der Mitte und am Ende: ‚Liebste, ich quäle dich und quäle dich zu Tode, und es tut mir nicht leid, solange du bei mir bist; aber ich weiß, wenn du nicht mehr bist, werde ich mich mit Selbstanklagen zu Tode quälen.‘“
An diesem Abend war er, ich weiß noch, ganz besonders offenherzig.
„Wenn ich noch ein charakterschwacher wertloser Mensch wäre und unter diesem Bewußtsein litte! Aber das ist es ja nicht, ich weiß doch, daß ich unendlich stark bin, und wodurch, was glaubst du? – eben durch diese unmittelbare Kraft der Verträglichkeit mit allem, was es auch sei, die allen klugen Russen unserer Generation in so hohem Maße eigen ist. Mich kannst du durch nichts zerstören, durch nichts vertilgen, durch nichts in Erstaunen setzen. Ich habe ein so zähes Leben wie ein Hofhund. Ich kann auf die allerbequemste Weise zwei entgegengesetzte Gefühle zu gleicher Zeit empfinden – und das, versteht sich, doch nicht aus eigenem Willen. Aber nichtsdestoweniger weiß ich, daß das ehrlos ist, vor allem deshalb, weil es gar zu einsichtsvoll ist. Ich habe fast bis zum fünfzigsten Jahr gelebt, und noch immer weiß ich weder, noch ahne ich, ob es nun gut oder ob es schlecht ist, daß ich solange gelebt habe. Natürlich, ich liebe das Leben, und das ergibt sich ja ganz von selbst aus der Sache; aber für einen Menschen, wie ich, ist das Leben lieben – unwürdig. In der letzten Zeit hat etwas Neues begonnen, und Menschen wie Krafft leben sich nicht ein, sondern schießen sich tot. Aber es ist doch klar, daß die vom Typus Krafft dumm sind; nun, wir aber sind klug, – folglich läßt sich auch hier auf keine Weise eine Parallele ziehen, und die Frage bleibt trotz alledem offen. Und sollte denn die Erde wirklich nur für solche da sein wie wir? Wahrscheinlich: ja; aber dieser Gedanke ist doch schon gar zu trostlos. Und übrigens ... und übrigens bleibt die Frage doch offen.“
Er sagte das traurig, und dennoch wußte ich nicht, ob es aufrichtig war oder nicht. Es blieb in ihm immer noch ein gewisses Geheimnis, das er um keinen Preis aufdecken wollte.