I.

Ich kam etwas zu spät, aber sie hatten sich noch nicht zu Tisch gesetzt und warteten auf mich. Wie ich sah, hatte man noch einige besondere Gerichte hinzugefügt, vermutlich deshalb, weil ich selten bei ihnen aß: Sardinen als Vorspeise usw. Aber zu meiner Verwunderung und zu meinem Bedauern sahen die Meinigen alle gleichsam sorgenvoll und verstimmt aus: Lisa lächelte kaum, als sie mich erblickte, und Mama war sichtlich beunruhigt; Werssiloff lächelte zwar, aber ich sah ihm an, daß er sich dazu zwingen mußte. „Sollten sie sich etwa verzankt haben?“ dachte ich flüchtig. Übrigens ging zu Anfang alles gut: Werssiloff runzelte nur wegen der Suppe mit Klößchen die Stirn und schnitt ein Gesicht, als Srasy gereicht wurden.

„Ich brauche nur zu sagen, daß ich irgendeine Speise nicht vertrage, dann steht sie unfehlbar am nächsten Tage auf dem Tisch,“ sagte er unwillkürlich geärgert.

„Aber was soll man sich denn ausdenken, Andrei Petrowitsch? Es fällt einem doch wirklich nichts Neues ein,“ sagte meine Mutter zaghaft.

„Deine Mutter ist das gerade Gegenteil von einigen unserer Zeitungen, bei denen alles gut ist, was neu ist,“ versuchte Werssiloff etwas humoristisch und freundschaftlich zu scherzen, aber es mißlang ihm, und er erschreckte meine Mutter nur noch mehr, die von diesem Vergleich mit den Zeitungen natürlich nichts begriff und verständnislos von einem zum anderen sah.

Da kam Tatjana Pawlowna; sie sagte, sie hätte schon gegessen, und setzte sich neben Mama auf den Diwan.

Mir war es nicht gelungen, die Geneigtheit dieser Dame zu erwerben; ja, sie verhielt sich jetzt noch feindlicher gegen mich und fiel schließlich wegen jeder Kleinigkeit über mich her. Besonders in der letzten Zeit hatte sich ihre Unzufriedenheit mit mir sehr gesteigert: meine stutzerhafte Kleidung konnte sie einfach nicht sehen, und wie Lisa mir erzählte, war sie beinahe in Ohnmacht gefallen, als es einmal zur Sprache kam, daß ich mir den Schlitten hielt. Kurz, ich hatte in der letzten Zeit Begegnungen mit ihr nach Möglichkeit zu vermeiden gesucht. Damals, nach Werssiloffs Verzicht auf die Erbschaft, vor zwei Monaten, war ich schleunigst zu ihr gegangen, um mit ihr über Werssiloffs Handlungsweise zu sprechen, hatte aber bei ihr nicht das geringste Verständnis gefunden: sie war sogar sehr erbittert gewesen; denn es gefiel ihr gar nicht, daß alles und nicht nur die Hälfte zurückgegeben worden war; mich aber hatte sie auf einmal sogar scharf angefahren:

„Und du bildest dir jetzt wohl ein, er hätte das Geld zurückgegeben und zum Duell gefordert, einzig um deine Meinung über sich zu verbessern!“

Und sie hatte es auch wirklich fast erraten: im geheimen hatte ich tatsächlich etwas Ähnliches gedacht.

Als sie jetzt eintrat, fühlte ich sofort, daß sie mich unbedingt wieder angreifen würde; ja, ich war bis zu einem gewissen Grade sogar überzeugt, daß sie eigentlich nur zu dem Zweck gekommen war, und deshalb benahm ich mich auf einmal recht ungezwungen und flott; und das kostete mich auch nicht die geringste Anstrengung, da ich mich nach dem letzten Erlebnis immer noch in strahlend freudiger Stimmung befand. Ich möchte hier ein für allemal bemerken, daß Flottheit in meinem ganzen Leben nicht zu mir gepaßt hat, das heißt, sie paßt nun einmal nicht zu meinem Gesicht und hat mir bisher auch immer nur Schande gebracht. So geschah es auch jetzt: im Augenblick legte ich mich selbst hinein. Da es mir zufällig auffiel, daß Lisa so wortkarg war, bemerkte ich plötzlich, rein aus Leichtsinn, ohne jede böse Absicht und überhaupt ganz unbedacht:

„Alle Jubeljahre einmal esse ich hier bei euch, und da mußt du, Lisa, ausgerechnet heute so trübselig sein!“

„Ich habe Kopfschmerzen,“ erwiderte Lisa.

„Ach, mein Gott, so hört doch nur!“ fuhr Tatjana Pawlowna sogleich auf, „darf sie denn nicht auch einmal Kopfschmerzen haben? Bloß weil der hochverehrte Arkadi Makarowitsch zum Essen herüberzukommen geruht hat, muß sie gleich tanzen und ihn amüsieren!“

„Sie sind wahrhaftig das Unglück meines Lebens, Tatjana Pawlowna! Nie wieder werde ich herkommen, wenn Sie hier sind!“ Ich schlug in ehrlichem Ärger mit der Hand auf den Tisch; Mama fuhr zusammen, und Werssiloff sah mich sonderbar an. Da lachte ich auf und entschuldigte mich.

„Tatjana Pawlowna, ich nehme mein Wort zurück,“ wandte ich mich an sie und fuhr immer noch fort, den Flotten zu spielen.

„Nein, nein,“ wehrte sie kurz ab, „es ist mir viel schmeichelhafter, dein Unglück zu sein, als umgekehrt, sei versichert!“

„Mein Lieber, die kleinen Unglücksfälle des Lebens muß man übersehen können,“ meinte Werssiloff lächelnd, „ohne Unglück lohnt es sich nicht zu leben.“

„Wissen Sie, Sie sind mitunter schrecklich konservativ,“ rief ich und lachte nervös.

„Mein Freund, das ist nebensächlich.“

„Nein, nicht nebensächlich! Warum sagen Sie einem Esel nicht die Wahrheit, wenn er ein Esel ist?“

„Sprichst du nicht gar von dir selbst? Erstens will ich keines Menschen Richter sein und kann’s auch nicht.“

„Warum wollen Sie nicht, und warum können Sie nicht?“

„Teils aus Faulheit, teils aus Widerwillen. Eine kluge Frau hat mir einmal gesagt, ich hätte kein Recht, über andere zu richten, weil ich ‚nicht zu leiden verstünde‘; um Richter über andere werden zu können, müsse man sich das Recht zum Richten durch Leid erst verdienen. Ein wenig hochtrabend, aber in der Anwendung auf mich vielleicht doch richtig, so daß ich mich sogar bereitwilligst diesem Urteil unterwarf.“

„Hat Ihnen das wirklich Tatjana Pawlowna gesagt?“ fragte ich überrascht.

„Woher weißt du das?“ Werssiloff sah mich mit einiger Verwunderung an.

„Ich habe es aus Tatjana Pawlownas Gesicht erraten: es zuckte in ihm etwas, als Sie das sagten.“

Ich hatte es wirklich ganz zufällig erraten. Später stellte sich heraus, daß Tatjana Pawlowna diese Worte am Abend vorher in einem hitzigen Gespräch zu Werssiloff gesagt hatte. Und überhaupt, das sei nochmals gesagt, warf ich mich ihnen mit meiner Freude und meiner Mitteilsamkeit sehr zur unrechten Zeit an den Hals: jeder von ihnen hatte sein Leid, und keines davon war leicht.

„Nein, das verstehe ich nicht,“ sagte ich, „das ist alles so abstrakt; und überhaupt ist das ein Zug von Ihnen: Sie lieben es furchtbar, abstrakt zu sprechen, Andrei Petrowitsch; das ist ein egoistischer Zug: abstrakt zu sprechen lieben nur Egoisten.“

„Nicht dumm gesagt, aber dränge dich nicht auf.“

„Nein, erlauben Sie mal,“ fuhr ich fort, ihnen auf den Leib zu rücken, „was heißt das: ‚das Recht zum Richten sich durch Leid verdienen‘? Wer ehrlich ist, der kann auch Richter sein – das ist meine Meinung.“

„In dem Fall wirst du wohl nicht viele Richter zusammenbringen.“

„Einen kenne ich schon.“

„Wer ist denn das?“

„Er sitzt hier und spricht mit mir.“

Werssiloff lächelte sonderbar, beugte sich zu meinem Ohr, und, indem er mich an der Schulter faßte, flüsterte er mir zu: „Der belügt dich in allem.“

Bis heute verstehe ich noch nicht, was er damals im Sinn hatte, doch offenbar war er in dem Augenblick innerlich sehr erregt (infolge einer besonderen Nachricht, wie ich mir später überlegte). Aber dieses Wort: „Der belügt dich in allem“ war so unerwartet und so ernst gesagt und mit einem so sonderbaren, gar nicht scherzhaften Ausdruck, daß ich unwillkürlich nervös zusammenzuckte, beinahe erschrak und ihn entsetzt ansah; aber schon besann sich Werssiloff und lachte auf.

„Ach nun, Gott sei Dank!“ sagte Mama, die es erschreckt hatte, daß er mir etwas ins Ohr gesagt, „ich, ich dachte schon, weiß Gott ... Du, Arkascha, sei uns nicht böse; kluge Leute wirst du überall finden, aber wer würde dich wohl liebhaben, wenn wir nicht da wären?“

„Das ist eben das Unsittliche an der verwandtschaftlichen Liebe, Mama, daß sie unverdiente Liebe ist. Liebe muß man verdienen.“

„Ach, bis du sie dir erst verdienst, das wird lange dauern, hier aber wirst du schon so und umsonst geliebt.“

Da mußten alle lachen.

„Nun, Mama, Sie hatten vielleicht gar nicht die Absicht, zu schießen, aber den Vogel haben Sie doch getroffen!“ rief ich, gleichfalls lachend.

„Und du hast dir wohl eingebildet, daß du Liebe schon wirklich irgendwie verdient hättest?“ fiel Tatjana Pawlowna wieder über mich her. „Sie lieben dich hier nicht nur ohne dein Verdienst, sie lieben dich sogar trotz ihres Ekels vor dir!“

„Ach nein, so ist es doch nicht!“ rief ich lustig. „Wissen Sie vielleicht, wer mir heute gesagt hat, daß er mich liebt?“

„Gesagt, indem man sich über dich lustig machte!“ fiel mir Tatjana Pawlowna sofort erbost und geradezu verblüffend schlagfertig ins Wort, ganz, als hätte sie gerade auf diese Bemerkung von mir nur gewartet. „Jeder anständige Mensch, und besonders jede Frau, muß ja allein schon vor deinem seelischen Schmutz Ekel empfinden. Du hast einen Scheitel auf dem Kopf und die feinste Wäsche an, und deinen Anzug hat ein französischer Schneider gearbeitet, aber dabei ist das alles doch nur Schmutz! Wer ist es, der deine Kleider bezahlt, dich ernährt, dir Geld gibt, um Roulette zu spielen? Besinne dich, von wem du das Geld anzunehmen dich nicht schämst!“

Mama wurde vor Scham so rot, wie ich sie noch nie erröten gesehen hatte. In mir krampfte sich alles zusammen.

„Wenn ich verschwende, so verschwende ich mein eigenes Geld und bin keinem Rechenschaft schuldig,“ versuchte ich das Gespräch kurz abzubrechen, wurde aber doch feuerrot.

„Dein eigenes? Seit wann dein eigenes?“

„Wenn nicht meines, so ist es doch Andrei Petrowitschs Geld. Er wird es mir nicht abschlagen ... Ich habe es vom Fürsten genommen, à conto[42] des Geldes, das er Andrei Petrowitsch schuldet ...“

„Mein Freund,“ sagte plötzlich Werssiloff in sehr bestimmtem Ton, „von seinem Gelde gehört mir keine Kopeke.“

Dieser Satz war nur zu bedeutungsvoll. Ich blieb stumm vor Überraschung. Oh, wenn ich jetzt an meine damalige paradoxe und sorglose Stimmung denke, so sage ich mir, daß ich mich in dem Augenblick sicherlich durch einen „edlen“ Impuls oder mit einem schlagfertigen Wort oder sonstwie herausgerissen hätte, aber da sah ich auf einmal in Lisas finsterem Gesicht einen bösen, anklagenden Ausdruck, einen ungerechten Vorwurf, fast Spott, und da war’s, als ritte mich der Teufel:

„Und Sie, mein Fräulein,“ wandte ich mich plötzlich an sie, „Sie scheinen ja neuerdings sehr oft Darja Onissimowna in der Wohnung des Fürsten zu besuchen? Vielleicht ist es Ihnen gefällig, ihm diese dreihundert Rubel zu übergeben, da Sie mich dieses Geldes wegen heute schon so geschunden haben!“

Ich zog die Dreihundert hervor und hielt sie ihr hin. Wird man es mir glauben, daß ich diese dummen Worte ganz unbedacht sagte, das heißt, ohne die geringste Anspielung auf irgend etwas. Und das war ja auch ganz natürlich; denn ich hatte doch damals noch keine Ahnung davon, worauf diese Worte eine Anspielung hätten sein können. Ich hatte eigentlich nur den Wunsch gehabt, sie ein wenig zu sticheln, und zwar mit einer verhältnismäßig ganz harmlosen Bemerkung, die ungefähr soviel sagen sollte, wie: „Wenn Sie, mein Fräulein, sich um Dinge kümmern, die Sie nichts angehen, würde es Ihnen dann nicht auch gefällig sein, mit diesem Fürsten zusammenzukommen, mit dem jungen Kavalier und Petersburger Leutnant, und ihm dieses Geld selbst einzuhändigen, da Sie sich ja so gern in die Angelegenheiten junger Männer einmischen!“ Aber wie groß war meine Bestürzung, als plötzlich meine Mutter aufstand und mir mit dem Finger drohend erregt zurief:

„Untersteh dich nicht, untersteh dich nicht!“

So etwas hätte ich von ihr nie im Leben erwartet! Ich sprang auf, nicht vor Schreck, sondern wie vor Schmerz, gleichsam mit einer qualvollen Wunde im Herzen, weil ich plötzlich erriet, daß etwas Schweres geschehen war. Aber meine Mutter hielt es nicht lange aus: sie bedeckte das Gesicht mit den Händen und verließ schnell das Zimmer. Lisa ging ihr nach, ohne auch nur einen Blick auf mich zu werfen. Tatjana Pawlowna sah mich wohl eine halbe Minute lang schweigend an:

„Solltest du wirklich dich jetzt herauslügen können?“ rief sie schließlich rätselhaft und sah mich mit größter Verwunderung an, doch wartete sie meine Antwort nicht ab und eilte ihnen nach. Werssiloff erhob sich mit feindseligem, fast bösem Gesicht und nahm vom Ecktisch seinen Hut.

„Mir scheint, du bist gar nicht so dumm, sondern nur ahnungslos,“ sagte er undeutlich, mit halbem Spott. „Wenn sie kommen, so sage ihnen, daß sie mit der Torte nicht auf mich warten sollen: ich gehe ein wenig an die Luft.“

Ich blieb allein; zunächst fand ich alles nur sonderbar, dann kränkend, und schließlich wurde es mir ganz klar, daß ich der Schuldige war. Allerdings wußte ich nicht genau, was ich denn nun verbrochen haben konnte, aber ich hatte doch ein gewisses Schuldgefühl. Ich saß am Fenster und wartete. Nach ungefähr zehn Minuten nahm ich gleichfalls meinen Hut und ging nach oben, in mein ehemaliges Giebelstübchen. Ich wußte, daß sie dort waren, das heißt Mama und Lisa, und daß Tatjana Pawlowna sie schon verlassen hatte. Und so fand ich sie auch beide oben im Stübchen auf meinem Diwan sitzend und flüsternd. Als ich erschien, verstummten sie sogleich. Zu meinem Erstaunen waren sie mir gar nicht böse; meine Mutter wenigstens lächelte mir zu.

„Mama, ich möchte um Verzeihung bitten ...“ begann ich.

„Schon gut, schon gut, tut ja nichts,“ unterbrach mich meine Mutter, „wenn ihr euch nur immer liebhabt und nicht zankt, so wird euch Gott auch schon Glück geben.“

„Er wird mich niemals wissentlich kränken, Mama, glauben Sie mir!“ sagte Lisa überzeugt und mit aufrichtigem Gefühl.

„Wenn nicht diese Tatjana Pawlowna dagewesen wäre, so wäre auch nichts geschehen,“ rief ich geärgert. „So ein schändliches Weibsbild!“

„Sehen Sie, Mama? Hören Sie?“ fragte Lisa, indem sie auf mich wies.

„Ich werde euch folgendes sagen,“ erklärte ich auf einmal, „wenn in der Welt etwas schlecht ist, so bin ich allein dieses Schlechte, alles übrige ist einfach wundervoll!“

„Arkascha, sei nicht böse, Lieber, aber wirklich, wenn du aufhören wolltest ...“

„Zu spielen? Ja, ich werde aufhören, Mama: heute gehe ich zum letztenmal hin, das ist doch selbstverständlich, nachdem Andrei Petrowitsch erklärt hat, daß er beim Fürsten keine Kopeke zugute habe. Sie glauben mir nicht, wie sehr ich mich schäme ... Übrigens muß ich mit ihm noch Rücksprache nehmen ... Mama, Liebe, das vorige Mal habe ich hier ... ein häßliches Wort gesagt ... Mamachen, das war nicht ernst gemeint: es ist mein aufrichtiger Wunsch, zu glauben, damals aber lästerte ich nur so; ich liebe Christus sehr ...“

Es war das letztemal zwischen uns zu einem Gespräch über dieses Thema gekommen, und meine Äußerungen hatten meine Mutter sehr betrübt und erregt. Als sie jetzt meine Entschuldigung hörte, lächelte sie mir zu wie einem kleinen Kinde:

„Christus verzeiht alles, Arkascha, verzeiht auch deine Lästerung. Christus ist aller Vater, Christus bedarf nichts und wird noch in der tiefsten Finsternis leuchten ...“

Ich verabschiedete mich von ihnen und ging. Ich dachte über die Möglichkeit nach, heute noch Werssiloff zu sehen; ich mußte mit ihm unbedingt sprechen, vorhin aber war das nicht möglich gewesen. Ich vermutete stark, daß er in meiner Wohnung wartete! Ich ging zu Fuß: es war warm gewesen, jetzt begann es leicht zu frieren und es war sehr angenehm zu gehen.

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