„Selbstverständlich hinfahren!“ entschied ich, während ich nach Hause eilte, „und zwar sofort hinfahren! Wahrscheinlich werde ich sie ganz allein antreffen, aber auch wenn sie nicht allein sein sollte, gleichviel, man kann sie herausbitten lassen ... Sie wird mich empfangen; sie wird sich wundern, aber empfangen wird sie mich trotzdem! Doch wenn sie nicht will? So werde ich darauf bestehen, werde ihr sagen lassen, daß es dringend nötig ist. Sie wird denken, es handle sich um das Dokument, und schon deshalb wird sie mich empfangen. Und dann werde ich von ihr selbst erfahren, wie das mit dieser Tatjana Pawlowna gewesen ist! Und dann ... Ja, und was dann? Wenn ich ihr unrecht getan habe, so werde ich es tausendfach gutzumachen suchen; wenn ich aber im Recht bin, und sie schuldig ist, dann – dann ist ja sowieso alles aus! Was habe ich zu verspielen? Nichts! Also hinfahren! hinfahren!“
Und doch fuhr ich nicht hin; das werde ich niemals vergessen und werde immer mit Stolz daran zurückdenken. Kein Mensch wird davon erfahren, das wird mit mir begraben werden; aber es genügt, wenn ich selbst weiß, daß ich in diesem Augenblick zu einer solchen Haltung fähig war!
„Es ist eine Versuchung, aber ich lasse sie nicht an mich heran,“ sagte ich mir endlich, nachdem ich mich auf mich selbst besonnen hatte. „Man hat mich mit einer Tatsache erschrecken, durch eine Tatsache überzeugen wollen, ich aber lasse mich auch von einer Tatsache nicht überzeugen und gebe meinen Glauben an ihre Schuldlosigkeit nicht auf! Wozu jetzt hinfahren? Wessen mich noch vergewissern? Wie kann ich von ihr verlangen, daß sie an mich auch so hätte glauben sollen, wie ich an sie glaube? – daß sie mein ‚heißes Temperament‘ nicht hätte fürchten sollen? Nur deshalb hat sie doch Tatjana Pawlowna zu ihrer Sicherheit in der Nähe behalten! Ich habe ja ein solches Vertrauen von ihr noch gar nicht verdient. Mag sie, mag sie auch nicht wissen, daß ich ihr volles Vertrauen verdiene, daß ich allen ‚Versuchungen‘ gewachsen bin und nichts von alledem glaube, was man ihr Schlechtes nachsagt, – dafür weiß ich es, ich, und achte mich deswegen. Ich achte meine eigenen Gefühle. O ja, sie hat es zugelassen, daß ich das alles in Tatjana Pawlownas Gegenwart aussprach, sie wußte, daß Tatjana Pawlowna dort saß und uns belauschte (denn man hört ja doch jedes Wort, wenn man dort sitzt), sie wußte, daß sie dort über mich lachte, – das ist gewiß fürchterlich, oh, fürchterlich ist das! Aber ... aber wenn es für sie anders gar nicht möglich war? Was hätte sie denn in ihrer Lage tun sollen? Und wie darf ich sie deswegen anklagen? Auch ich habe sie doch heute betrogen – in der Sache mit Krafft und dem Brief –, weil es eben nicht anders ging ... so habe ich sie ganz gegen meinen Willen und unvorhergesehenerweise belügen müssen. Mein Gott!“ rief ich plötzlich, mich auf einmal besinnend, und ich errötete heiß vor peinigender Scham, „und ich selbst, was habe ich soeben selbst getan! – Habe ich sie nicht genau so an eine dritte Person verraten, indem ich Werssiloff alles erzählte? Übrigens, nein, was rede ich! Da ist doch ein Unterschied. Es war ja jetzt nur von dem Dokument die Rede, ich habe Werssiloff doch eigentlich nur von dem Dokument erzählt; denn ich hatte ja nichts anderes zu erzählen und konnte auch nichts zu erzählen haben. Habe ich nicht gleich vorausgeschickt und ihm als erstes gesagt, daß zwischen uns ‚nichts, nichts, gar nichts geschehen ist‘? Er ist doch ein Mensch, der alles versteht ...! Hm! Aber was für einen Haß er gegen diese Frau in seinem Herzen trägt, selbst heute noch! Was für ein Drama mag sich damals zwischen ihnen abgespielt haben ...? und aus welchem Grunde? Natürlich aus Eigenliebe! Werssiloff ist und kann ja auch zu gar keinem anderen Gefühl fähig sein, außer zu grenzenloser Eigenliebe!“
Dieser letzte Gedanke kam mir damals ganz plötzlich, doch ich beachtete ihn nicht einmal. Das waren die Gedanken, die mir so durch den Kopf gingen, und die sich ganz von selbst einer aus dem anderen ergaben. Dabei war ich vor mir ganz aufrichtig: ich machte mir nichts vor, ich betrog mich nicht. Und wenn ich damals auf etwas nicht verfiel, so geschah das nicht aus Jesuitismus, sondern weil mir die Einsicht fehlte.
Ich langte in ungeheuer belebter Gemütsverfassung in meiner Wohnung an, wußte jedoch selbst nicht, warum ich mich in einer so frohen Stimmung befand, obschon alles unklar in mir war. Aber ich getraute mich nicht, meine Gefühle näher zu untersuchen und gab mir die größte Mühe, an anderes zu denken. Ich ging sogleich zu meiner Wirtin; zwischen ihr und ihrem Mann hatte es tatsächlich einen großen Streit gegeben. Sie war eine hochgradig schwindsüchtige kleine Beamtenfrau, im Grunde vielleicht ein gutmütiger Mensch, aber wie alle Schwindsüchtigen sehr launenhaft. Ich begann sofort Frieden zu stiften, ging zu Tscherwjäkoff, – so hieß der andere Zimmermieter, der grobe pockennarbige Schafskopf und selbstgefällige Bankbeamte, den ich nicht ausstehen konnte, mit dem ich mich aber sonst ganz gut stand, weil ich die Schwäche hatte, mich oft mit ihm zusammen über Pjotr Ippolitowitsch lustig zu machen. Ich redete ihm zu, doch nicht auszuziehen, aber ich glaube, er hätte sich sowieso gar nicht dazu entschlossen. Es endete damit, daß es mir gelang, die Wirtin vollkommen zu beruhigen und ihr außerdem noch das Kopfkissen wunderbar zurechtzulegen. „Pjotr Ippolitowitsch hat das niemals so gut verstanden,“ sagte sie schadenfroh. Darauf begab ich mich mit ihren Senfpflastern in die Küche und bereitete ihr eigenhändig zwei Pflaster. Der arme Pjotr Ippolitowitsch konnte mir bei alledem nur neidisch zusehen: ich erlaubte ihm nicht einmal, auch nur mit dem Finger ein Pflaster anzurühren, und ward für meine Mühe denn auch buchstäblich mit Tränen der Dankbarkeit von ihr belohnt. Aber auf einmal, ich erinnere mich dessen noch genau, wurde mir alles so zuwider, und ich wurde mir bewußt, daß ich gar nicht aus Güte der Kranken geholfen hatte, sondern aus einem ganz anderen Grunde.
Ich wartete mit nervöser Ungeduld auf meinen Schlitten: an diesem Abend wollte ich noch zum letztenmal mein Glück versuchen ... doch ganz abgesehen davon, empfand ich ein schreckliches Bedürfnis zu spielen: es war eine unerträgliche Stimmung. Wenn ich diesen Wunsch nicht gehabt hätte, so hätte ich es nicht ausgehalten und wäre zu ihr gefahren. Der Schlitten mußte bald kommen, aber plötzlich öffnete sich die Tür, und ein ganz unerwarteter Besuch trat ein: Darja Onissimowna. Ich runzelte die Stirn und wunderte mich. Sie kannte meine Wohnung; denn sie war im Auftrage meiner Mutter schon einmal bei mir gewesen. Ich bat sie, Platz zu nehmen und sah sie fragend an. Sie sagte kein Wort, sah mir nur in die Augen und lächelte bedrückt.
„Sie kommen wohl von Lisa?“ fiel es mir plötzlich ein, sie zu fragen.
„Nein, ich komme nur so.“
Ich teilte ihr mit, daß ich gleich fortzufahren beabsichtigte, doch sie antwortete mir, daß sie ja „nur so“ zu mir gekommen sei und sofort wieder gehen werde. Ich weiß nicht, warum sie mir auf einmal leidtat. Ich muß hier bemerken, daß sie von uns allen, von Mama, und besonders von Tatjana Pawlowna, viel Anteilnahme erfahren hatte; aber seit sie bei der Stolbejeff untergebracht war, hatten wir sie fast vergessen, mit Ausnahme vielleicht von Lisa, die sie von Zeit zu Zeit besuchte. Zum Teil lag das wohl an ihr selbst; denn sie besaß die Eigenschaft, sich abzusondern und zurückzuziehen, trotz all ihrer Unterwürfigkeit und ihres schüchtern schmeichelnden Lächelns. Mir persönlich gefiel dieses Lächeln nicht; ich glaubte, daß sie ihr Gesicht immer gleichsam zurechtlegte; ja, ich hatte ihr schon im Herzen den Vorwurf gemacht, daß sie ihrer Olä eigentlich gar nicht sonderlich nachtrauerte. Diesmal aber tat sie mir, ich weiß nicht warum, wirklich leid.
Und siehe da, plötzlich, ohne ein Wort zu sagen, beugte sie sich vor, senkte den Kopf tief herab, umfaßte mich mit ihren Armen und stützte ihr Gesicht auf meine Knie. Sie ergriff meine Hand, doch nicht, wie ich glaubte, um sie zu küssen, sondern sie drückte sie nur an ihre Augen; und auf einmal brach sie in heiße Tränen aus. Sie erzitterte vor Schluchzen, doch weinte sie lautlos. Mein Herz krampfte sich zusammen, obschon ich mich gleichzeitig ärgerte. Doch sie umschlang mich voll Zutrauen, ohne meinen Ärger zu fürchten, und trotzdem sie mich vorher so ängstlich und unterwürfig angelächelt hatte. Ich bat sie, sich doch zu beruhigen.
„Liebling, ich weiß nicht, was ich mit mir anfangen soll. Sobald die Dämmerung kommt, kann ich es nicht mehr aushalten. Die Dämmerung zieht mich jedesmal auf die Straße, in die Dunkelheit. Und immer wegen der einen Vorstellung. Ich denke dann so bei mir, wenn ich ... wenn ich ... hinausgehe, werde ich sie plötzlich auf der Straße treffen. Und so gehe ich, und mir scheint, ich sehe sie schon. Ich weiß ja, es gehen da ganz andere Leute, aber ich gehe ihnen nach, absichtlich immer nur hinter ihnen, und denke so bei mir: Da, diese da ... ist die nicht ganz wie meine Olä? Und so denk ich und denk ich. Und zuletzt werde ich ganz dumm und taumele nur noch irgendwie weiter ... mir wird ganz übel. Wie eine Betrunkene taumele ich und stoße die Leute an, manche schimpfen. Ich behalte schon alles für mich und gehe zu keinem hin. Denn wohin ich auch gehe, es wird mir nur schlechter. Und jetzt bin ich hier an Ihrem Haus vorbeigekommen, und da dachte ich so bei mir: ‚Ich will doch zu ihm gehen, er ist der beste von allen, und er ist auch damals dabeigewesen.‘ Mein Lieber, verzeihen Sie mir unnützem Menschen, – ich werde ja gleich wieder gehen, ich gehe schon ...“
Sie erhob sich plötzlich und beeilte sich sehr, fortzukommen. Ich ging mit ihr. Als wir hinaustraten, kam mein Schlitten gerade vorgefahren; ich setzte sie hinein und brachte sie nach Haus, in die Wohnung der Stolbejeff.