I.

Ich erwachte am nächsten Morgen gegen acht Uhr, schloß schnell meine Tür zu, setzte mich ans Fenster und grübelte vor mich hin. So saß ich fast ganze zwei Stunden. Die Magd hatte inzwischen schon zweimal an meine Tür geklopft, doch ich hatte sie fortgeschickt. Schließlich, die Uhr ging schon auf elf, wurde zum drittenmal an meine Tür geklopft. Ich wollte schon wütend hinausrufen, man solle mich nicht stören, aber diesmal war es Lisa. Mit ihr trat auch die Magd herein, die mir meinen Kaffee brachte und dann den Ofen anzuheizen begann. Sie fortzuschicken war nicht möglich: die ganze Zeit, während diese saumselige Fjokla das Holz in den Ofen legte und schließlich das Feuer anblies, ging ich mit großen Schritten in meinem kleinen Zimmer auf und ab. Ich begann absichtlich kein Gespräch und gab mir Mühe, Lisa nicht anzusehen. Die Magd verrichtete ihre Arbeit mit einer unbeschreiblichen Langsamkeit, und zwar absichtlich, wie das alle Mägde tun, wenn sie bemerken, daß die Herrschaft etwas besprechen will, was die Dienstboten nicht hören sollen. Lisa hatte sich auf den Stuhl am Fenster hingesetzt und schien mich zu beobachten.

„Dein Kaffee wird kalt,“ sagte sie auf einmal.

Ich sah sie an: nicht die geringste Verlegenheit war in ihrem vollkommen ruhigen Gesicht, auf den Lippen sogar ein Lächeln.

„Nein, diese Weiber!“ entfuhr es mir unwillkürlich, und ich zuckte die Achseln.

Endlich war die Magd mit dem Anheizen des Ofens fertig und wollte nun auch noch das Zimmer aufräumen, aber jetzt schickte ich sie doch wütend hinaus und konnte endlich die Tür hinter ihr zuschließen.

„Warum hast du die Tür wieder verschlossen?“ fragte Lisa.

Ich trat auf sie zu und blieb vor ihr stehen.

„Lisa, hätte ich das jemals denken können, daß du mich so betrügen würdest!“ rief ich plötzlich aus, ohne überhaupt daran gedacht zu haben, daß ich so anfangen würde; und diesmal kamen mir nicht Tränen in die Augen, sondern ein so böses Gefühl stach mir auf einmal ins Herz, daß ich selbst ganz verwundert darüber war.

Lisa wurde rot, erwiderte aber nichts; sie fuhr nur fort, mir gerade in die Augen zu sehen.

„Warte, Lisa, warte, – oh, wie war ich dumm! Aber lag es denn an mir? Alle diese Andeutungen sind doch erst gestern so zusammengetroffen, bis dahin aber – wie hätte ich denn etwas erraten können? Etwa daraus, daß du die Stolbejeff besuchtest und diese ... Darja Onissimowna? Aber ich habe dich für eine Sonne gehalten, Lisa, und wie hätte mir so was überhaupt in den Sinn kommen sollen? Weißt du noch, wie ich dich damals, vor zwei Monaten, dort bei ihm im Nebenzimmer sah, und wie wir dann in der Sonne gingen und froh waren ... War es – damals schon? War es schon?“

Sie antwortete mit einem bejahenden Nicken.

„So hast du mich schon damals betrogen! Da war nicht meine Dummheit der Grund meines Nichtverstehens, Lisa, sondern eher mein Egoismus. Oder nein: die Ursache war bestimmt nicht meine Dummheit, wohl aber bestimmt der Egoismus meines Herzens und ... und vielleicht auch mein Glaube an eine Heiligkeit. Oh, ich habe immer geglaubt, ihr ständet alle hoch über mir, – und nun ...! Gestern aber, an diesem einzigen kurzen Tage, hatte ich ja gar keine Zeit, mir das alles zu erklären, trotz der verschiedenen Anspielungen ... Es waren ganz andere Dinge, die mich gestern beschäftigten!“

Da mußte ich auf einmal an Katerina Nikolajewna denken, und wieder stach mich etwas wie mit einer Nadel schmerzhaft ins Herz, und ich wurde bis über die Ohren rot. Natürlich konnte ich in einem solchen Augenblick nicht gut zu ihr sein.

„Aber weshalb rechtfertigst du dich? Mir scheint, Arkadi, daß du dich rechtfertigen willst. So sag mir doch, weswegen denn eigentlich?“ fragte Lisa leise und sanft, aber dennoch mit sehr fester und sicherer Stimme.

„Weswegen?! Ja, aber was soll ich jetzt tun? – nehmen wir nur diese eine Frage! Und du fragst noch ‚weswegen eigentlich?‘ Ich weiß nicht, was ich jetzt tun soll! Ich weiß nicht, wie Brüder in solchen Fällen vorgehen ... Ich weiß, daß man sie mit der Pistole in der Hand zur Heirat zwingt ... Ich werde vorgehen, wie ein anständiger Mensch in solchem Fall vorgehen muß! Aber da weiß ich nun wieder nicht einmal, wie ein anständiger Mensch unter diesen Umständen vorgehen soll ...! Und warum ich das nicht weiß? Weil wir – keine Aristokraten sind, er aber ist ein Fürst und will seine Karriere in seinem Kreise machen; er wird uns ja überhaupt nicht anhören! Wir sind ja nicht einmal Geschwister, sind irgend so welche ‚Außereheliche‘, ohne Familie, Kinder eines leibeigenen Hofknechtes; seit wann vermählen sich denn Fürsten mit dem Hofgesinde? Oh, der Ekel! Und zum Überfluß sitzt du da und wunderst dich noch über mich!“

„Ich glaube dir, daß du dich quälst,“ sagte Lisa und errötete wieder, „aber du übereilst dich und quälst dich selbst.“

„Ich übereile mich? Ja, meinst du denn, daß ich mich noch nicht genug – verspätet habe? Für dich bin ich wohl noch zu früh dahinter gekommen! Wie kannst du, Lisa, gerade du mir das sagen?“ rief ich schließlich in hellem Zorn. „Und wieviel Schmach ich deshalb erduldet habe! Oh, ich kann mir denken, wie dieser Fürst mich hat verachten müssen! Mir ist ja jetzt alles klar! Dieses ganze Bild steht jetzt deutlich vor mir: er hat wirklich geglaubt, daß ich um sein Verhältnis mit dir wußte, jedoch absichtlich dazu schwieg oder gar die Nase hochtrug und auf die Beziehung meiner Schwester zu einem Fürsten noch ‚stolz‘ war – selbst das hätte er von mir denken können! Und daß ich mir für meine Schwester, für die Schande meiner Schwester von ihm Geld geben ließ! Das hat ihm selbstverständlich Ekel eingeflößt, und ich finde es auch durchaus gerechtfertigt. Jeden Tag den Schuft sehen und empfangen müssen, bloß, weil er ihr Bruder ist, und der redet ihm dann noch von Ehre vor ...! das hält kein Herz aus, selbst ein Herz wie seines nicht! Und du hast das alles zugelassen, du hast mir nicht die Augen geöffnet! Er hat mich dermaßen verachtet, daß er sogar einem Stebelkoff alles von mir erzählt hat, und gestern sagte er mir selbst, er hätte mich schon zusammen mit Werssiloff hinauswerfen wollen. Und dieser Stebelkoff! ‚Anna Andrejewna ist doch genau so Ihre Schwester wie Lisaweta Makarowna,‘ und dann schreit er mir noch nach: ‚Mein Geld ist besser!‘ Und ich, ich lümmele mich frech auf seinem Diwan, ich behandle seine Bekannten wie ein Gleichstehender und dränge mich ihnen auf, – der Teufel hole sie allesamt! Und du hast das zugelassen! Auch Darsan weiß es wohl schon, wenigstens nach seinem Ton gestern abend zu urteilen ... Alle, alle haben es schon gewußt, nur ich nicht ...!“

„Niemand weiß etwas, er hat es keinem von seinen Bekannten erzählt und gar nicht erzählen können,“ unterbrach mich Lisa. „Von diesem Stebelkoff weiß ich nur, daß er ihn quält, und daß Stebelkoff höchstens etwas erraten haben kann ... Was aber dich betrifft, so habe ich ihm mehrmals gesagt, und er hat es mir auch aufs Wort geglaubt, daß du nichts weißt, nur verstehe ich nicht, warum und wie es gestern zwischen euch zur Sprache gekommen ist ...“

„Oh, zum Glück habe ich ihm gestern meine Schuld zurückgezahlt, so habe ich doch wenigstens diese Qual vom Halse! Lisa, weiß Mama es schon? Übrigens, was frage ich noch, selbstverständlich weiß sie es! – gestern, gestern, wie sie sich da gegen mich erhob ...! Ach, Lisa! Ja, hältst du dich denn wirklich für vollkommen im Recht, glaubst du denn wirklich, daß dich nicht die geringste Schuld trifft? Klagst du dich denn gar nicht an? Ich weiß nicht, wie man heutzutage darüber urteilt, und welcher Ansicht du bist, ich meine, soweit das mich angeht, deine Mutter, deinen Bruder, deinen Vater ... Weiß Werssiloff es schon?“

„Mama hat ihm nichts gesagt, und er fragt nicht; wahrscheinlich will er nicht fragen.“

„Er weiß es natürlich, aber er will es nicht wissen, das ist schon so, das sieht ihm ähnlich! Nun gut, du lachst vielleicht über die Rolle des Bruders, über den dummen Bruder, wenn er von Pistolen spricht, aber deine Mutter, deine Mutter! Hast du denn wirklich nicht daran gedacht, Lisa, daß das für Mama ein Vorwurf ist? Ich habe mich die ganze Nacht damit gequält. Mamas erster Gedanke muß doch jetzt sein: ‚Das ist deshalb geschehen, weil auch ich mich vergessen habe, und wie die Mutter, so die Tochter!‘“

„Oh, wie gehässig und grausam du das sagst!“ rief Lisa, und Tränen traten ihr in die Augen; sie stand auf und ging schnell zur Tür.

„Bleib, bleib, Lisa!“ rief ich und hielt sie zurück, legte den Arm um sie, führte sie wieder zu ihrem Platz und setzte mich neben sie, ohne meinen Arm fortzunehmen.

„Ich dachte mir schon, als ich herkam, daß alles so kommen würde, und daß du bestimmt verlangen würdest, ich solle mich selbst anklagen ... Nun gut, ich klage mich an. Nur aus Stolz habe ich soeben geschwiegen und nichts gesagt, aber ihr und Mama tut mir viel mehr leid, als ich mir selber leid tue ...“

Sie stockte, und plötzlich brach sie in heiße Tränen aus.

„Laß gut sein, Lisa, weine nicht, das ist nicht nötig, durchaus nicht nötig. Ich bin nicht dein Richter, Lisa. Aber, Mama, – sag, weiß sie es schon lange?“

„Ich glaube, ja; ich habe es ihr selbst erst vor kurzem gesagt, als – das geschah,“ sagte sie leise, mit niedergeschlagenen Augen.

„Und was sagte sie?“

„Sie sagte: ‚Trag es!‘“ sprach Lisa noch leiser vor sich hin.

„Ach, Lisa, ja, ‚trag es!‘ Tu dir nicht irgend etwas an, Gott behüte dich davor!“

„Nein, ich werde mir nichts antun,“ antwortete sie fest und sah mich wieder an. „Du kannst ganz ruhig sein,“ fügte sie hinzu, „darum handelt es sich gar nicht.“ „Lisa, Liebste, ich sehe nur, daß ich hiervon gar nichts verstehe, aber dafür ist mir erst jetzt zu Bewußtsein gekommen, wie ich dich liebe. Nur eins verstehe ich ganz und gar nicht, Lisa: es ist mir ja sonst alles klar, aber nur das begreife ich nicht, warum du dich denn in ihn verliebt hast? Wie konntest du dich in so einen verlieben? Das ist die Frage!“

„Und wahrscheinlich hast du dich auch mit dieser Frage die ganze Nacht gequält?“ sagte Lisa mit einem stillen Lächeln.

„Warte, Lisa, nein, das war eine dumme Frage, und du lachst über mich. Lach nur, aber es ist doch ganz unmöglich, sich nicht darüber zu wundern: du und er – ihr seid doch solche Gegensätze! Ich kenne ihn jetzt, ich habe ihn studiert: er ist finster, mißtrauisch, vielleicht im Grunde ein guter Mensch, aber dafür ist er im höchsten Grade geneigt, in allem Schlechtes zu sehen (darin ist er übrigens ganz wie ich!). Er liebt das Edle und Adlige leidenschaftlich, das gebe ich zu, das sehe ich, aber ich glaube, er liebt es doch nur von ferne, so als Ideal. Oh, er ist auch zur Reue bereit, er schwört sein ganzes Leben lang unaufhörlich, sich zu bessern, und er bereut wirklich aufrichtig, aber er bessert sich nie; übrigens ist das vielleicht auch ein Zug, den er mit mir teilt. Er hat tausend Vorurteile und falsche Meinungen – und dabei überhaupt keine Meinung. Er sucht eine große Heldentat und gibt sich dabei mit schmutzigen Kleinigkeiten ab. Verzeih, Lisa, ich bin übrigens ein Esel: indem ich das sage, kränke ich dich, und ich weiß das, ich verstehe das ja ...“

„Das Bild könnte richtig sein,“ sagte Lisa lächelnd, „aber du bist jetzt nur meinetwegen gar zu böse auf ihn, und deshalb ist eigentlich doch nichts richtig. Er ist dir gegenüber von Anfang an mißtrauisch gewesen, deshalb hast du ihn überhaupt nicht richtig kennen lernen können; zu mir aber war er schon in Luga ... Er sieht ja überhaupt nur mich, seitdem er mich in Luga kennen gelernt hat! Ja, er ist mißtrauisch und krankhaft – ohne mich wäre er wahnsinnig geworden ... Und wenn er mich verlassen sollte, wird er bestimmt wahnsinnig werden oder sich erschießen. Ich glaube, das hat er jetzt eingesehen und weiß es,“ sagte Lisa wie zu sich selbst und in Gedanken verloren vor sich hin. „Ja, er ist fortwährend schwach, aber gerade diese Schwachen sind manchmal auch zu einer außergewöhnlich starken Tat fähig ... Was du da von der Pistole sagtest, Arkadi, das paßt gar nicht hierher, das ist gar nicht nötig – ich weiß selbst ganz genau, was geschehen wird. Nicht ich laufe ihm nach, sondern er läuft mir nach. Mama weint und sagt: ‚Wenn du ihn heiratest, wirst du unglücklich werden, er wird dann aufhören, dich zu lieben.‘ Das glaube ich aber nicht; unglücklich werde ich vielleicht werden, aber mich zu lieben wird er doch nicht aufhören. Das war nicht der Grund, weshalb ich ihm so lange nicht mein Jawort gegeben habe. Er bittet mich schon zwei Monate darum, nur habe ich immer nicht eingewilligt; erst heute habe ich ihm gesagt: Ja, ich heirate dich. Arkascha, weißt du, gestern ist er“ – ihre Augen strahlten, und sie schlang auf einmal beide Arme um meinen Hals –, „gestern ist er zu Anna Andrejewna gefahren und hat ihr ganz ehrlich und mit aller Offenheit gesagt, daß er sie nicht lieben kann ... Ja, er hat ihr alles erklärt, und diese Sache ist jetzt für immer abgetan! Er hat sich ja an diesem Plan auch nie beteiligt, das hat alles der alte Fürst Nikolai Iwanowitsch ausgeheckt, und diese seine Quälgeister haben ihn noch obendrein dazu bewegen wollen, dieser Stebelkoff und noch ein anderer ... Sieh, und dafür habe ich ihm heute mein Jawort gegeben. Lieber, lieber Arkadi, er bittet dich sehr, zu ihm zu kommen, und du sollst das nicht übelnehmen, was gestern vorgefallen ist: er ist heute nicht ganz wohl und wird den ganzen Tag zu Hause bleiben. Er ist wirklich krank, Arkadi, glaube nicht, daß das eine Ausrede ist. Er hat mich auch nur deshalb hergeschickt und mich gebeten, dir zu sagen, daß er ‚deiner bedarf‘, und daß er dir viel zu sagen hat, hier aber in dieser Wohnung würde das nicht gut gehen. Nun, lebe wohl! Ach, Arkadi, ich schäme mich, es dir zu sagen, aber auf dem Wege hierher habe ich solche Angst gehabt, du könntest mich jetzt nicht mehr lieben, ich bekreuzte mich unterwegs immer wieder, du aber – du bist so gut, so lieb! Das werde ich dir nie vergessen! Ich muß jetzt zu Mama. Und du – versuch, ihn wenigstens ein bißchen liebzugewinnen, willst du?“

Ich umfing sie innig und sagte:

„Lisa, ich glaube, du bist ein starker Charakter. Ja, und ich glaube dir auch, daß nicht du ihm nachläufst, sondern er dir, aber trotzdem begreife ich nicht ...“

„‚Warum du dich in ihn verliebt hast – das ist die Frage!‘“ fiel mir Lisa plötzlich ins Wort, mit einem kleinen schelmischen Lachen wie früher, und dies letzte: „Das ist die Frage!“ sagte sie genau so wie ich, und dabei hob sie auch den Zeigefinger vor die Stirn, ganz so wie ich es bei diesem Satz zu tun pflege.

Wir küßten uns zum Abschied, aber als sie hinausgegangen war, krampfte sich mir doch wieder das Herz zusammen.

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