Zunächst eine Anmerkung nur für mich: es gab Augenblicke, nachdem Lisa mich verlassen hatte, in denen mir die überraschendsten Gedanken, und zwar gleich in ganzen Scharen, in den Kopf kamen, und ich sogar sehr zufrieden mit ihnen war. „Ja, aber weshalb rege ich mich denn auf,“ dachte ich unter anderem, „was geht das schließlich mich an? So ist es doch bei allen oder wenigstens ähnlich! Und was hat denn das auf sich, daß Lisa dies passiert ist? Bin ich etwa verpflichtet, die ‚Familienehre‘ zu retten?“ Ich erwähne hier alle diese Einzelheiten, um zu zeigen, wie wenig ich damals noch in meinen Begriffen von Gut und Böse gefestigt war. Nur das Gefühl rettete mich: ich wußte, daß Lisa unglücklich war, daß Mama unglücklich war, ich wußte das, weil ich es fühlte, wenn ich an sie dachte, – und deshalb fühlte ich auch, daß alles das, was da geschehen war, unmöglich gut sein konnte.
Jetzt muß ich vorausschicken, daß die Ereignisse von diesem Tage an bis zu der Katastrophe meiner Erkrankung mit solcher Schnelligkeit einander folgten, daß ich mich nun selbst wundere, wenn ich daran zurückdenke, wie ich ihnen habe standhalten können und nicht vom Schicksal erdrückt worden bin. Sie entkräfteten meinen Verstand und selbst meine Gefühle, und wenn ich zu guter Letzt doch nicht standgehalten und ein Verbrechen begangen hätte – (und ich war wirklich schon nahe daran), so ist es sehr wohl möglich, daß ich von den Geschworenen später freigesprochen worden wäre. Aber ich will mich bemühen, alles in möglichster Ordnung wiederzugeben, obschon meine Gedanken damals sehr wenig geordnet waren. Die Ereignisse stürmten mit solcher Wucht gegen mich an, daß sie meine Gedanken wie dürres Laub im Herbst durcheinanderwirbelten. Und da ich ganz aus fremden Gedanken bestand, wo sollte ich da plötzlich eigene hernehmen, als ich sie auf einmal zu einem selbständigen Entschluß brauchte? Einen Führer oder Berater hatte ich ja nicht.
Zum Fürsten beschloß ich erst am Abend zu gehen, um mich mit ihm über alles auszusprechen; bis dahin aber wollte ich zu Hause bleiben. Es begann bereits zu dämmern, als die Stadtpost mir wieder einen Brief von Stebelkoff brachte: es waren nur drei Zeilen mit der dringenden und „beschwörenden“ Bitte, am nächsten Tage um elf Uhr bei ihm vorzusprechen, „wegen einer Sache von höchster Wichtigkeit, was Sie selbst einsehen werden“. Ich überlegte und beschloß, je nach den Umständen zu handeln; denn bis dahin war ja noch viel Zeit.
Es war inzwischen acht Uhr geworden; ich wäre schon längst zum Fürsten gegangen, wenn ich nicht die ganze Zeit auf Werssiloff gewartet hätte: ich hatte das Bedürfnis, ihm vieles zu sagen. Mein Herz brannte. Aber Werssiloff war nicht gekommen und kam nicht. Bei Mama und bei Lisa wollte ich mich vorläufig noch nicht zeigen, und eine Ahnung sagte mir, daß auch Werssiloff diesen ganzen Tag über nicht zu Hause war. Schließlich machte ich mich auf und ging zu Fuß zum Fürsten, aber unterwegs kam mir der Gedanke, doch in das Kellerrestaurant am Kanal, wohin Werssiloff mich gestern geführt hatte, hineinzusehen. Und richtig, er saß da auf demselben Platz, auf dem er am Abend vorher gesessen hatte.
„Ich habe mir schon gedacht, daß du hierherkommen würdest,“ sagte er mit einem eigentümlichen Lächeln und einem sonderbaren Blick auf mich.
Es war kein gutes Lächeln; es war ein Lächeln, wie ich es in seinem Gesicht schon lange nicht mehr gesehen hatte.
Ich setzte mich an den Tisch und erzählte ihm zunächst die Tatsache vom Fürsten und Lisa, und dann den ganzen Auftritt, zu dem es in der Nacht zwischen mir und dem Fürsten nach der Roulette gekommen war; ich vergaß auch nicht, meinen großen Gewinn zu erwähnen. Er hörte sehr aufmerksam zu und fragte noch einmal nach dem Entschluß des Fürsten, Lisa zu heiraten.
„Pauvre enfant,[50] vielleicht wird sie dadurch nichts gewinnen. Aber vermutlich wird es nicht dazu kommen ... obschon er fähig wäre ...“
„Sagen Sie mir wie einem Freunde: Sie haben das doch gewußt, haben es doch geahnt?“
„Mein Freund, was konnte ich denn dabei tun? Das alles ist – eine Sache des Gefühls und eines fremden Gewissens ..., wenn auch dieses armen Mädchens. Ich sage dir nochmals: ich habe mich seinerzeit zur Genüge in fremde Gewissen eingedrängt, – es ist das die undankbarste Beschäftigung! Im Unglück werde ich meine Hilfe nicht versagen, soweit ich helfen kann, und wenn man mir nur sagt, wie. Und du, mein Lieber, du hast also wirklich die ganze Zeit nichts geahnt?“
„Wie konnten Sie,“ rief ich in plötzlich aufloderndem Zorn, „wie konnten Sie, wenn Sie auch nur ein Atom von einem Verdacht hatten, ich wüßte um Lisas Verhältnis mit dem Fürsten, und da Sie doch sahen, daß ich von ihm Geld annahm, – wie konnten Sie da noch mit mir sprechen, mit mir verkehren, mir die Hand reichen, – mir, den Sie doch für einen Schuft halten mußten! Denn ich könnte wetten, daß Sie bestimmt vermutet haben, ich wüßte alles und nähme das Geld vom Fürsten wissentlich für meine Schwester!“
„Das war – wiederum eine Gewissenssache,“ sagte er lächelnd. „Und woher weißt du denn,“ fügte er deutlich und mit einem geradezu rätselhaften Empfinden hinzu, „woher weißt du, ob nicht auch ich, ganz wie du, gestern, in einem anderen Fall, – ob nicht auch ich gefürchtet habe, mein ‚Ideal‘ zu verlieren und statt meines heißblütigen und ehrlichen Jungen einen nichtswürdigen Bengel vor mir zu sehen? In dieser Befürchtung schob ich den Augenblick hinaus. Warum sollte man in mir nicht statt Faulheit und Hinterlist etwas Unschuldigeres, nun, meinetwegen auch Dümmeres, aber doch etwas Edleres voraussetzen dürfen? Que diable![38] Ich bin gar zu oft dumm, auch ohne edleren Grund. Was wärst du dann noch für mich gewesen, wenn du schon solche Anlagen gehabt hättest? Durch Zureden bessern wollen ist in solchen Fällen ein klägliches Verfahren; in meinen Augen würdest du doch jeden Wert verloren haben, auch wenn du dich gebessert hättest ...“
„Aber Lisa tut Ihnen doch leid, sie tut Ihnen doch leid?“
„Sehr leid, mein Lieber. Wie kommst du darauf, mich für so gefühllos zu halten ...? Im Gegenteil, ich werde mich nach Kräften bemühen ... Nun, und wie steht es mit dir, wie stehen deine Angelegenheiten?“
„Sprechen Sie nicht davon; ich denke jetzt nicht an meine Angelegenheiten. Aber sagen Sie, warum zweifeln Sie daran, daß er sie heiraten wird? Er ist gestern bei Anna Andrejewna gewesen und hat sich endgültig losgesagt ... von, Sie wissen schon, von diesem dummen Einfall des alten Fürsten Nikolai Iwanowitsch – sie zu verkuppeln. Er hat sich endgültig davon losgesagt.“
„So? Wann war er denn bei ihr? Und von wem hast du das gehört?“ erkundigte er sich interessiert.
Ich erzählte ihm alles, was ich wußte.
„Hm ... Dann ist das ...“ sagte er nachdenklich und schien zu überlegen. „Dann ist das ungefähr eine Stunde früher geschehen ... vor einer anderen Erklärung. Hm ... nun ja, eine solche Auseinandersetzung zwischen ihnen kann ja immerhin stattgefunden haben ... obgleich ich genau weiß, daß in dieser Sache dort niemals, weder von der einen noch von der anderen Seite, etwas gesagt oder getan worden ist ... Freilich genügen ja zwei Worte, um das zu erklären. Aber nun höre mal zu,“ sagte er plötzlich mit einem eigentümlichen Lächeln, „ich werde dich mit einer recht außergewöhnlichen Neuigkeit überraschen: selbst wenn dein junger Fürst gestern Anna Andrejewna einen Heiratsantrag gemacht hätte (übrigens hätte ich, da ich die Geschichte mit Lisa ahnte, diese Verbindung aus allen Kräften zu verhindern gesucht, entre nous soit dit[51]), so hätte ihm Anna Andrejewna unter allen Umständen sofort einen Korb gegeben. Du scheinst Anna Andrejewna sehr gern zu haben, sie auch sehr zu achten und zu schätzen, wenn ich mich nicht irre? Das ist sehr nett von dir, und deshalb wirst du dich vermutlich für sie freuen, wenn ich dir diese Neuigkeit mitteile: sie hat sich verlobt, mein Lieber. Und soweit ich ihren Charakter kenne, wird es auch zur Heirat kommen, und ich – nun, ich gebe ihr natürlich meinen Segen.“
„Sie wird heiraten? Aber wen denn?“ rief ich maßlos erstaunt.
„Rat mal. Doch ich will dich nicht quälen: sie heiratet den Fürsten Nikolai Iwanowitsch, deinen lieben alten Herrn.“
Ich starrte ihn mit großen Augen an.
„Es ist anzunehmen, daß sie schon lange diese Absicht gehegt hat; und selbstverständlich wird sie die Sache genial vorbereitet haben,“ fuhr er lässig und langsam, doch nicht ohne Schärfe fort. „Ich denke mir, das wird so etwa eine Stunde nach dem Besuch des ‚Fürsten Sserjosha‘ geschehen sein. (Der hätte mit seinem Besuch bei ihr auch etwas warten können!) Sie ist einfach zum alten Fürsten Nikolai Iwanowitsch gegangen und hat ihm den Antrag gemacht.“
„Wie das – ‚ihm den Antrag gemacht‘? Sie wollen wohl sagen: er hat ihr einen Antrag gemacht?“
„Wie sollte er! Nein, mein Lieber, sie, sie selbst hat es getan, deshalb ist er ja auch so selig und entzückt. Wie ich hörte, soll er jetzt nichts tun als dasitzen und sich immer nur wundern, wie und weshalb er nicht selbst darauf gekommen ist. Man sagte mir, er sei sogar krank geworden ... vermutlich auch das vor Seligkeit.“
„Hören Sie, Sie sagen das so spöttisch ... Ich kann es fast nicht glauben. Ja, und wie hat sie ihm denn den Antrag machen können? Was hat sie denn gesagt?“
„Sei überzeugt, mein Freund, daß ich mich darüber aufrichtig freue,“ sagte er da mit einem plötzlich ganz ernsten Gesicht. „Er ist allerdings schon alt, aber nach Gesetz und Sitte kann er doch noch heiraten; und was sie betrifft, – ja, das ist nun wieder Sache eines fremden Gewissens, ist das, wovon ich dir schon mehrmals gesprochen habe, mein Freund. Übrigens ist sie viel zu klug, um nicht ihre eigenen Ansichten zu haben und um nicht genau zu wissen, was sie tut. Was nun die Einzelheiten betrifft, nach denen du fragst, und wie sie sich ausgedrückt hat, – ja, darüber weiß ich dir nichts zu sagen, mein Freund. Aber sie wird es fraglos schon verstanden haben, und wahrscheinlich besser, als wir zwei es jemals uns ausdenken könnten. Das Beste an der ganzen Sache ist, daß sie nichts von einem Skandal an sich hat; die Welt wird alles très comme il faut[52] finden. Natürlich ist es ja klar, daß sie sich damit eine Stellung in der Gesellschaft schaffen will, aber sie ist dieser Stellung doch wahrlich auch wert! So etwas ist in der Gesellschaft ganz gang und gäbe. Und ihren Antrag hat sie offenbar tadellos und mit der größten Vornehmheit gemacht. Sie ist der Typ einer strengen Frau, mein Freund, eine ‚geborene Nonne‘, wie du sie einmal bezeichnet hast; oder auch eine ‚kühle Jungfrau‘, wie ich sie schon lange nenne. Sie ist doch fast seine Pflegetochter, das weißt du ja, und sie hat auch seine Güte schon mehr als einmal an sich selbst erfahren. Sie hat mir bereits vor langer Zeit versichert, daß sie ihn ‚so schätze und verehre, so bedauere und so mit ihm sympathisiere‘, und noch alles mögliche von der Art, daß ich zum Teil eigentlich vorbereitet war. Alles dieses hat mir heute morgen in ihrem Namen und auf ihre Bitte hin mein Sohn Andrei Andrejewitsch mitgeteilt, ihr Bruder, mit dem du, glaube ich, nicht bekannt bist. Ich sehe ihn in jedem halben Jahr auch nur einmal. Er billigt ihren Schritt mit allem schuldigen Respekt.“
„So ist die Sache schon öffentlich? Weiß Gott, ich bin ganz baff!“
„Nein, sie ist noch gar nicht öffentlich; wenigstens vorläufig soll sie noch nicht bekanntgemacht werden ... Ich bin darüber nicht näher unterrichtet und stehe überhaupt ganz abseits. Aber es ist so, wie ich dir sagte.“
„Ja, aber was wird jetzt Katerina Nikolajewna, seine Tochter ... Was meinen Sie, was wird Bjoring dazu sagen?“
„Das kann ich nicht wissen ... was eigentlich ihm daran nicht gefallen könnte. Sei versichert, Anna Andrejewna ist auch in der Beziehung ein im höchsten Grade korrekter Mensch. Aber ist sie nicht großartig, diese Anna Andrejewna? Da fragt sie mich gerade noch kurz vorher am Morgen, ob ich die verwitwete Frau Achmakoff liebe! Erinnerst du dich, ich erzählte dir das gestern und wunderte mich noch. Das russische Gesetz würde ihr doch nicht gestatten, den Vater zu heiraten, wenn ich die Tochter geheiratet hätte! Verstehst du das jetzt?“
„Ach, in der Tat!“ rief ich. „Aber hat denn Anna Andrejewna wirklich im Ernst glauben können, daß Sie ... den Wunsch haben könnten, Katerina Nikolajewna zu heiraten?“
„Offenbar, mein Freund. Übrigens ... übrigens wird es für dich jetzt an der Zeit sein, deinen Weg dorthin fortzusetzen, wohin du gehen willst. Ich habe, offen gestanden, die ganze Zeit Kopfschmerzen. Werde die ‚Lucia‘ spielen lassen. Ich liebe die Feierlichkeit der Langweile. Aber das habe ich dir schon einmal gesagt ... Ich wiederhole mich unverzeihlich ... Vielleicht werde ich auch irgendwo anders hingehen. Ich habe dich sehr lieb, mein Lieber, aber jetzt lebe wohl. Wenn ich Kopfschmerzen habe oder Zahnweh, dann verlangt mich nach Einsamkeit.“
In seinem Gesicht bemerkte ich einen Ausdruck von innerer Qual; ich glaube es ihm jetzt, daß ihm damals der Kopf schmerzte, besonders der Kopf!
„Also morgen,“ sagte ich.
„Morgen? Wer weiß, was morgen sein wird!“ sagte er mit einem verzerrten Lächeln.
„Ich komme morgen zu Ihnen, oder Sie kommen zu mir.“
„Nein, nicht ich werde zu dir kommen, wohl aber wirst du zu mir stürzen ...“
Aus seinem Gesicht sprach etwas Böses, doch ich dachte nicht weiter an ihn, – nach einer solchen Neuigkeit!