Der Fürst war in der Tat nicht wohl und saß allein zu Haus, den Kopf mit einem nassen Tuch umwunden. Er schien mich mit Ungeduld erwartet zu haben; ihn quälten nicht nur heftige Kopfschmerzen, sondern vor allem seelische Schmerzen. Überhaupt muß ich darauf hinweisen, daß ich in der letzten Zeit vor der Katastrophe fortgesetzt mit Menschen zusammenkam, die so erregt und unzurechnungsfähig waren, daß man sie alle für mehr oder weniger wahnsinnig hätte halten können, und ich glaube fast, daß ich von ihnen gewissermaßen angesteckt wurde. Ich kam mit feindlichen Gefühlen zu ihm, und ich schämte mich, weil er mich gestern hatte weinen sehen. Und immerhin hatten Lisa und er mich so geschickt zu betrügen verstanden, daß ich nun als Dummkopf dastand, was ich doch unmöglich selbst übersehen konnte. Kurz, als ich bei ihm eintrat, tönten in mir viele falsche Saiten. Aber alles dieses Falsche und Vorgefaßte fiel sehr bald von mir ab. Besonders in einer Beziehung muß ich ihm Gerechtigkeit widerfahren lassen: nachdem er sein Mißtrauen einmal aufgegeben hatte, gab er sich wirklich mit ganzem Herzen; dann erst sah man seine fast kindliche Zärtlichkeit und Liebesfähigkeit und ein wahrhaft rührendes Vertrauen. Er küßte mich unter Tränen und kam sofort auf die Sache selbst zu sprechen ... Er hatte mich tatsächlich sehr nötig. Seine Worte und Gedanken waren auffallend wirr.
Zunächst teilte er mir seinen festen Entschluß mit, Lisa zu heiraten, und zwar so bald als möglich.
„Daß sie nicht adlig ist, hat nicht einen Augenblick Bedenken in mir erweckt,“ sagte er zu mir. „Mein Großvater hat im Alter ein Hofmädchen geheiratet, das bei einem benachbarten Gutsbesitzer, der aus seinen Leibeigenen ein ganzes Privattheater gebildet hatte, Sängerin gewesen war. Freilich hat meine Familie gewisse Hoffnungen auf mich gesetzt, aber die werden sie eben aufgeben müssen, und der Kampf wird schließlich nicht allzu lange dauern. Ich will mit allem brechen, mit allem Gegenwärtigen und Gewesenen, ein für allemal! Es muß alles anders werden, alles muß von neuem beginnen! Ich begreife nicht, warum Ihre Schwester mich liebgewonnen hat. Aber eines steht fest: ohne sie lebte ich jetzt gewiß nicht mehr auf dieser Welt. Ich schwöre Ihnen aus tiefstem Herzen: ich sehe darin einfach eine höhere Fügung in meinem Leben, daß ich ihr damals in Luga begegnet bin. Ich glaube, sie liebt mich wegen der ‚unermeßlichen Tiefe meines Falles‘ ... können Sie das verstehen, Arkadi Makarowitsch?“
„Vollkommen!“ sagte ich mit aufrichtiger Überzeugung. Ich saß im Lehnstuhl vor dem Tisch, er ging im Zimmer auf und ab.
„Ich muß Ihnen die Geschichte unserer Begegnung ganz erzählen, ohne etwas zu verschweigen,“ fuhr er fort. „Der Anlaß war ein Geheimnis, das ich mit mir herumtrage, und das ich nur ihr allein mitgeteilt habe, weil ich nur zu ihr habe Vertrauen fassen können. Außer ihr weiß es bis zum heutigen Tage kein Mensch. Nach Luga war ich damals mit Verzweiflung im Herzen gekommen; ich wohnte bei der Stolbejeff, warum, weiß ich selbst nicht. Ich suchte wohl Einsamkeit. Damals hatte ich gerade mein Abschiedsgesuch eingereicht und hatte das –sche Regiment verlassen. In dieses Regiment war ich nach meiner Rückkehr aus dem Auslande eingetreten, – nach der Geschichte in Ems mit Andrei Petrowitsch. Ich hatte damals Geld, verschwendete viel und lebte auf großem Fuß; aber meine Regimentskameraden mochten mich nicht, obgleich ich mir Mühe gab, keinem zu nahe zu treten. Ja, ich muß gestehen, mich hat in meinem ganzen Leben noch niemand gemocht. Im Regiment war auch ein Kornett, ein gewisser Stepanoff, ein wirklich ganz leerer, nichtssagender und eigentlich sogar bescheidener Mensch; kurz, ein Mensch, der sich durch nichts Besonderes auszeichnete. Aber er war zweifellos ein anständiger Junge. Es wurde ihm bald zur Gewohnheit, mich zu besuchen – ich machte keine Umstände mit ihm –, und er saß bei mir schweigsam in der Ecke, manchmal einen Tag lang, bewahrte aber durchaus Haltung und störte mich fast nie. Eines Tages erzählte ich ihm eine Geschichte, die gerade kursierte. Im Erzählen fügte ich aber noch manches Unwahre hinzu, wie zum Beispiel, daß ich der Tochter unseres Obersten nicht ganz gleichgültig sei, und daß der Oberst auf mich als Schwiegersohn rechne, und daher selbstverständlich alles tue, was ich wünschte ... Die Einzelheiten übergehe ich, – kurz, es entstand daraus eine sehr unangenehme Klatschgeschichte. Daran war aber nicht Stepanoff schuld, sondern mein Bursche, der uns belauscht und später alles weitererzählt hatte, besonders einen lächerlichen Umstand, der die junge Dame bloßstellte. Dieser Bursche berief sich später bei seinem Verhör auf Stepanoff als Zeugen. Stepanoff befand sich da in einer peinlichen Lage; denn er konnte doch dem Burschen nicht ins Gesicht leugnen, daß er diese Geschichte tatsächlich von mir gehört hatte. Da aber zwei Drittel der Geschichte von mir frei erfunden waren, so waren die Offiziere sehr empört und der Regimentskommandeur sah sich gezwungen, das Offizierkorps bei sich zu versammeln und eine Untersuchung anzustellen. Und eben da wurde an Stepanoff jene Frage gestellt: ob er das gehört habe oder nicht? Und er war gezwungen, die ganze Wahrheit auszusagen. Was aber tat ich, ich, der Fürst aus tausendjährigem Geschlecht? Ich leugnete es und sagte Stepanoff ins Gesicht, daß er gelogen habe. Natürlich sagte ich das nur in dem Sinne, daß er mich ‚falsch verstanden habe‘ usw. usw. ... Ich übergehe wieder die Einzelheiten, aber der Vorteil meiner Lage war der, daß ich, da Stepanoff mich oft besucht hatte, die Sache so hinstellen konnte – und das war schließlich nicht ganz unwahrscheinlich –, als ob Stepanoff das in einem geheimen Einverständnis mit meinem Burschen ausgesagt hätte und das Ganze ein abgekartetes Spiel von ihnen in einer gewissen eigennützigen Absicht gewesen wäre. Stepanoff sah mich nur schweigend an und zuckte die Achseln. Ich sehe noch seinen Blick und werde ihn nie vergessen. Darauf wollte er sofort sein Abschiedsgesuch einreichen, aber was glauben Sie wohl, was geschah? Die Offiziere machten ihm alle, ohne Ausnahme, einen gemeinsamen Besuch und baten ihn, nicht den Abschied zu nehmen. Vierzehn Tage später trat ich aus dem Regiment aus: mich hatte niemand aufgefordert, zu gehen, niemand hinausgeworfen; ich gab Familienverhältnisse als Grund meines Abschiedsgesuches an. Damit war die Sache erledigt. Am Anfang machte ich mir nichts daraus, ärgerte mich sogar noch über die anderen. Ich lebte in Luga, machte die Bekanntschaft mit Lisaweta Makarowna. Aber es verging ein Monat, und ich betrachtete meinen Revolver und dachte an den Tod. Ich sehe immer alles schwarz, Arkadi Makarowitsch. Schließlich entwarf ich einen Brief an den Regimentskommandeur und an die Kameraden, in dem ich meine Schuld eingestand und Stepanoff vollkommen rehabilitierte. Als ich den Brief geschrieben hatte, stellte ich mir die Frage: soll ich ihn absenden und mich nicht erschießen oder ihn absenden und mich erschießen? Die Antwort auf die Frage hätte ich allein nie gefunden. Ein Zufall, ein blinder Zufall, ließ mich nach einem flüchtigen und sonderbaren Gespräch Lisaweta Makarowna nähertreten. Sie hatte auch früher schon oft Frau Stolbejeff besucht, wir waren uns begegnet, hatten uns auch begrüßt, aber selten ein Wort miteinander gesprochen. Und auf einmal gestand ich ihr alles. Und eben damals war es, wo sie mir ihre Hand reichte.“
„Wie beantwortete sie Ihre Frage?“
„Ich schickte den Brief nicht ab. Sie sagte: wenn ich den Brief abschickte, so würde ich damit natürlich eine edle Handlung begehen, die meine Schuld aufhöbe und noch mehr als das; aber ob das nicht über meine Kraft ginge? Sie war der Meinung, daß so etwas über die Kraft eines jeden Menschen gehe: die eigene Zukunft zu vernichten und die Auferstehung zu einem neuen Leben sich selbst unmöglich zu machen. Etwas anderes wäre es gewesen, wenn Stepanoff unschuldig darunter zu leiden gehabt hätte, aber die Offiziere hatten ihn doch sowieso schon vollkommen rehabilitiert. Mit einem Wort, ihre Begründung war paradox; aber sie hielt mich zurück, und ich unterwarf mich ihr vollständig.“
„Sie hat jesuitisch, doch wie ein Weib entschieden!“ rief ich. „Sie muß Sie schon damals geliebt haben!“
„Gerade das hat mich ja zu neuem Leben erweckt. Ich gab mir das Wort, mich zu ändern, mit dem früheren Leben zu brechen und das Gewesene vor ihr und vor mir selbst gutzumachen, und – womit hat das nun geendet! Damit, daß ich mit Ihnen in die Roulettezirkel fahre und ein Spieler geworden bin! Ich habe vor der Erbschaft nicht standgehalten, habe wieder an eine Karriere gedacht, mich von diesen großen Leuten und eigenen Equipagen und Pferden blenden lassen ... Ich quäle Lisa ... Oh, die Schmach!“
Er rieb sich mit der Hand die Stirn und schritt wieder durch das Zimmer.
„Das russische Schicksal hat uns beide ereilt, Arkadi Makarowitsch: Sie wissen nicht, was Sie tun sollen, und ich weiß nicht, was ich tun soll. Gerät der russische Mensch nur ein wenig aus dem durch die Gewohnheit für ihn zum Gesetz gewordenen Geleise, so hört er gleich auf zu wissen, was er tun soll. Im Geleise ist alles klar: das Einkommen, der Rang, die Stellung in der Gesellschaft, die Equipage, die Visiten, der Beruf, die Frau, – aber es braucht nur eine Kleinigkeit in die Quere zu kommen, und – was bin ich? Ein losgelöstes Blatt, mit dem der Wind spielt. Ich weiß nicht, was ich zu tun habe! In diesen zwei Monaten habe ich mir die größte Mühe gegeben, mich im Geleise zu halten; ich liebe das Geleise, ich fühlte, wie es mich ins Geleise zog. Aber Sie kennen noch nicht die ganze Größe meines neuen Verrats: ich liebe Lisa, ich liebe sie aufrichtig, und doch habe ich dabei an die Achmakoff gedacht!“
„Nicht möglich?“ rief ich schmerzlich betroffen. „Übrigens, Fürst, was sagten Sie mir gestern über Werssiloff: er habe Sie aufgehetzt, Katerina Nikolajewna bloßzustellen?“
„Ich habe vielleicht übertrieben. Vielleicht tue ich ihm gerade so unrecht mit meinem Verdacht, wie ich Ihnen unrecht getan habe. Lassen wir das. Oder glauben Sie, ich hätte nicht die ganze Zeit, seit meinem Aufenthalt in Luga, ein hohes Lebensideal im Herzen gehabt? Ich schwöre Ihnen, ich habe es niemals vergessen, es hat mir immer vorgeschwebt und hat in meiner Seele noch nichts von seiner Schönheit eingebüßt. Ich habe den Schwur, den ich Lisaweta Makarowna gegeben habe, den Schwur, ein neues Leben zu beginnen, niemals vergessen. Andrei Petrowitsch hat mir gestern, als er hier vom Adel redete, nichts Neues gesagt, das können Sie mir glauben. Mein Ideal steht mir klar und fest vor Augen: weniger als hundert Desjätinen Land (denn von der Erbschaft ist mir fast nichts mehr verblieben); ein vollkommener Bruch mit der Gesellschaft und der Karriere; ein Landhaus, eine Familie, und ich selbst – ein Ackerbauer oder nicht viel mehr als das. Oh, in unserer Familie ist das nichts Neues: der Bruder meines Vaters hat eigenhändig gepflügt, mein Großvater gleichfalls. Wir, ein tausendjähriges Fürstengeschlecht, und von so altem Adel wie die Rohans, – wir sind Bettler. Aber jedem meiner Kinder würde ich vor allem ein Gebot hinterlassen: ‚Vergiß es nie, daß du – ein Edelmann bist, daß in deinen Adern das heilige Blut russischer Fürsten fließt, und schäme dich dessen nicht, daß dein Vater selbst sein Land gepflügt hat: er hat es fürstlich getan.‘ Ich würde meinen Kindern kein Vermögen hinterlassen, außer diesem einen Stück Land, aber dafür würde ich es für meine Pflicht halten, ihnen eine höhere Bildung zu geben. Oh, Lisa würde mir schon helfen, und die Kinder, die Arbeit; oh, wie oft habe ich mit ihr davon geträumt, hier, in diesen Räumen, und ... Und zur selben Zeit habe ich an Katerina Nikolajewna Achmakoff gedacht, ohne sie zu lieben, und an die Möglichkeit einer reichen, vornehmen Heirat! Erst als uns Naschtschokin gestern die Nachricht von ihrer Verlobung mit Bjoring brachte, entschloß ich mich, zu Anna Andrejewna zu gehen.“
„Aber Sie sind doch zu ihr gegangen, um ihr gewissermaßen abzusagen. Und das war doch, denke ich, sehr anständig von Ihnen.“
„Glauben Sie?“ Er blieb vor mir stehen. „Nein, dann kennen Sie meine Natur noch nicht! Oder ... oder ich verstehe da selbst irgend etwas nicht; denn es ist, wie es scheint, nicht nur eine Natur in mir. Ich liebe Sie aufrichtig, Arkadi Makarowitsch, und außerdem habe ich Ihnen in diesen zwei Monaten so sehr unrecht getan, – darum möchte ich, daß Sie, als Lisas Bruder, das alles erfahren. Ich fuhr zu Anna Andrejewna, um ihr einen Antrag zu machen, nicht aber, um ihr abzusagen.“
„Ist es möglich? Aber Lisa sagte mir doch ...“
„Ich habe Lisa belogen.“
„Sie haben ihr also einen förmlichen Antrag gemacht, und Anna Andrejewna hat Ihnen einen Korb gegeben? War es so? Sagen Sie, war es so? Die Einzelheiten sind für mich ungeheuer wichtig, Fürst.“
„Nein, einen Antrag habe ich ihr nicht gemacht, aber nur darum nicht, weil ich gar nicht dazu kam. Sie gab mir schon im voraus einen Korb – das heißt, nicht buchstäblich, aber sie gab mir mit sehr durchsichtigen Andeutungen ‚zartfühlend‘ zu verstehen, daß diese Idee unmöglich sei.“
„Dann haben Sie ihr also doch keinen Antrag gemacht, und Ihr Stolz braucht sich nicht verletzt zu fühlen.“
„Können Sie das wirklich so auffassen! Und mein eigenes Gewissen? Und Lisa, die ich betrogen habe und ... die ich somit habe verlassen wollen? Und das Gelübde, das ich vor mir selbst und meinen Vorfahren abgelegt, ein neuer Mensch zu werden und die alten Sünden gutzumachen? Ich bitte Sie, sagen Sie Lisa nichts davon! Dieses eine würde sie mir vielleicht doch nicht vergeben können! Ich bin seit gestern krank. Im Grunde ist ja schon jetzt alles zu Ende, und der letzte der Fürsten Ssokolski wird zur Zwangsarbeit verurteilt werden. Arme Lisa! Ich habe den ganzen Tag auf Sie gewartet, Arkadi Makarowitsch, um Ihnen, als Lisas Bruder, alles das zu sagen, was sie nicht weiß. Also hören Sie: Ich bin ein – Staatsverbrecher und an der Fälschung der –skschen Eisenbahnaktien beteiligt.“
„Was heißt das! Wie, ein ...“ Ich war aufgesprungen und sah ihn mit Entsetzen an.
Aus seinem Gesicht sprach tiefer, düsterer, hoffnungsloser Schmerz und das Bewußtsein, dem Verhängnis nicht mehr entrinnen zu können.
„Setzen Sie sich,“ sagte er, und er setzte sich selbst in einen Lehnstuhl mir gegenüber. „Zunächst die Tatsachen: Vor einem Jahr, also in demselben Sommer, als ich in Ems war, wo sich damals auch Lydia und Katerina Nikolajewna aufhielten, und von wo ich mich dann auf zwei Monate nach Paris begab, ging mir, eben in Paris, natürlich das Geld aus. Dort hielt sich aber zu der Zeit gerade Stebelkoff auf, den ich übrigens schon von früher kannte. Er gab mir sofort Geld und versprach, mir noch mehr zu geben, wenn auch ich ihm einen kleinen Dienst erweisen wollte: er brauchte einen Künstler, der Zeichner, Graveur, Lithograph und zugleich Chemiker und Techniker war, und zwar brauchte er ihn zu einem ganz bestimmten Zweck. Diesen Zweck ließ er sogar ziemlich deutlich durchblicken. Warum sollte er auch nicht? Er kannte meinen Charakter: mich belustigte das alles nur. Ich war nämlich, wie er wußte, noch von der Schulbank her mit einem Herrn bekannt, der jetzt als russischer Emigrant – er ist aber nicht Russe – irgendwo da in Hamburg lebt. In Rußland soll er schon früher einmal in eine unangenehme Geschichte wegen gefälschter Wertpapiere verwickelt gewesen sein. Und gerade auf diesen Menschen rechnete nun Stebelkoff, aber er brauchte eine Empfehlung an ihn, und wegen dieser Empfehlung wandte er sich an mich. Ich gab ihm denn auch ein paar Zeilen mit, doch das war für mich so nebensächlich, daß ich die ganze Geschichte fast sofort vergaß. Darauf traf ich Stebelkoff noch ein paarmal, und ich erhielt von ihm damals im ganzen etwa dreitausend Rubel. Aber wie gesagt, die Hauptsache hatte ich in kürzester Zeit buchstäblich vergessen. Hier habe ich dann die ganze Zeit Geld von ihm genommen, gegen Wechsel und Pfänder; er gab sich fast sklavisch als mein ergebenster Diener. Und, gestern höre ich plötzlich von ihm, daß ich ein – Staatsverbrecher sein soll!“
„Wann denn gestern?“
„Als wir gestern dort im Nebenzimmer aneinandergerieten, kurz bevor Naschtschokin kam. Er unterstand sich da zum erstenmal, mir ganz unverfroren von Anna Andrejewna zu sprechen. Ich erhob die Hand, um ihn zu ohrfeigen, er aber sprang plötzlich auf und erklärte mir, ich dürfe nicht vergessen, daß ich mit ihm solidarisch sei, sein Helfershelfer und folglich ein Spitzbube wie er! Wenn er sich auch nicht so ausdrückte, so war das doch der Sinn seiner Worte.“
„Welch ein Unsinn! Aber das sind doch Hirngespinste?“
„Nein, das sind keine Hirngespinste. Er war heute wieder bei mir und erklärte sich deutlicher. Die Aktien sind schon längst in Umlauf, und es werden noch neue in Umlauf gesetzt, aber an manchen Stellen scheint man die Fälschung schon erkannt zu haben. Allerdings habe ich nichts damit zu schaffen, aber Stebelkoff erklärte mir: ‚Sie haben mir damals doch diese Empfehlung gegeben.‘“
„Aber Sie wußten doch nicht, um was es sich handelte, – oder wußten Sie es?“
„Ich wußte es,“ sagte der Fürst leise und schlug die Augen nieder. „Das heißt, sehen Sie, ich wußte es, und wußte es auch wieder nicht. Die Sache belustigte mich, und ich war bei guter Laune. Gedacht habe ich mir damals eigentlich überhaupt nichts, um so weniger, als ich die falschen Aktien doch gar nicht brauchte, und ich auch mit der Fälschung gar nichts zu tun hatte. Aber die Dreitausend, die er mir damals gab, hat er mir nicht angerechnet, und ich, ich habe das zugelassen. Übrigens, was können Sie wissen, vielleicht bin ich auch ein Falschmünzer? Ich mußte mir das doch selbst sagen, ich bin doch kein Kind, das von nichts weiß. Und ich wußte es ja auch, aber, wie gesagt, es belustigte mich, und ich half den Spitzbuben und Zuchthäuslern ... und half ihnen für Geld! Folglich bin ich doch ein – Falschmünzer!“
„Oh, Sie übertreiben! Sie sind ja nicht ganz frei von jeder Schuld, aber so schuldig sind Sie doch nicht!“
„Da ist nun noch ein gewisser Shibelski,“ erzählte der Fürst weiter, „ein junger Mensch, so eine Art Jurist oder Schreiber bei einer Gerichtsbehörde. Der soll an dieser Aktienfälschung auch irgendwie beteiligt sein. Ich weiß nur, daß er von jenem Herrn in Hamburg einmal zu mir gekommen ist, aber aus einem ganz anderen, ganz nebensächlichen Grunde; ja, eigentlich weiß ich selbst nicht, warum; denn von den Aktien war damals nicht einmal die Rede. Aber jedenfalls hat er zwei Briefe von mir in Händen, Briefe von nur zwei bis drei Zeilen, und die sind nun Beweise gegen mich, – das habe ich heute sehr gut begriffen. Stebelkoff erklärte mir, daß dieser Shibelski der Sache gefährlich werde: er hätte da etwas unterschlagen, irgendwelche Gelder, ich glaube Staatsgelder, und er hätte die Absicht, noch mehr zu unterschlagen und dann ins Ausland durchzubrennen; aber um seinen Plan ausführen zu können, brauche er achttausend Rubel, nicht weniger. Mein Teil der Erbschaft würde für Stebelkoff genügen, aber Stebelkoff sagt, auch Shibelski müsse befriedigt werden ...! Kurz, ich müßte ihnen meinen Teil der Erbschaft abtreten und noch zehntausend Rubel dazugeben – das ist ihre letzte Forderung. Dann würde ich meine zwei Briefe von ihnen zurückerhalten. Sie sind natürlich unter einer Decke, das ist klar.“
„Aber das ist doch ein offenbarer Unsinn! Wenn sie Sie anzeigen, so liefern sie sich doch selbst aus! Deshalb werden sie das unter keinen Umständen tun!“
„Das weiß ich. Aber sie drohen ja auch gar nicht damit, sie sagen nur: ‚Wir werden selbstverständlich nichts anzeigen, aber wenn die Sache aufgedeckt wird, so ...‘ – das ist alles, was sie sagen, und ich denke, das genügt! Doch nicht das ist das Schreckliche! Gleichviel was daraus wird, und ob ich die Briefe in meiner Tasche habe oder nicht, – aber solidarisch zu sein mit diesen Spitzbuben, mein Leben lang ihr Mitschuldiger zu sein, mein Leben lang! Und mein Vaterland belügen, meine Kinder belügen, Lisa belügen und mein eigenes Gewissen belügen ...!“
„Weiß Lisa davon?“
„Nein, alles weiß sie nicht. Sie würde es in ihrer jetzigen Lage nicht überleben. Ich trage noch die Uniform meines Regimentes, aber bei jeder Begegnung mit einem Soldaten meines Regiments, in jedem Augenblick auf der Straße muß ich mir sagen, daß ich nicht wert bin, sie zu tragen.“
„Hören Sie,“ fuhr ich plötzlich auf, „da sind weiter keine Worte zu verlieren: die einzige Rettung, die Ihnen verbleibt, ist Ihr alter Freund, Fürst Nikolai Iwanowitsch. Gehen Sie zu ihm und bitten Sie ihn um zehntausend Rubel, ohne ihm etwas aufzudecken. Bestellen Sie dann die beiden Schufte zu sich, rechnen Sie mit ihnen ab, kaufen Sie Ihre Briefe zurück, und die Sache ist erledigt! Und dann, wenn das aus der Welt geschafft ist, dann sehen Sie zu, daß Sie zu pflügen anfangen! Zum Teufel mit der Phantasie, und vertrauen Sie sich dem Leben an!“
„Daran habe ich schon gedacht,“ sagte er entschlossen. „Ich habe es mir den ganzen Tag überlegt und geschwankt, doch jetzt ist mein Entschluß gefaßt. Ich habe nur noch auf Sie gewartet; ich werde hinfahren. Wissen Sie, daß ich noch nie eine Kopeke vom Fürsten Nikolai Iwanowitsch genommen habe? Er ist sehr gut zu uns, er ... hat sogar bewiesen, daß er Anteil nimmt an meiner Familie, aber ich, ich persönlich habe nie Geld von ihm genommen. Doch jetzt habe ich mich entschlossen. Sie müssen wissen, daß unsere Linie der Fürsten Ssokolski älter ist als die Linie des Fürsten Nikolai Iwanowitsch; er entstammt der jüngeren Linie, nur einer Seitenlinie, einem fast anfechtbaren Zweig ... Unsere Vorfahren lebten in Feindschaft miteinander. Als Peter der Große seine Reformen einführte, wollte mein Urgroßvater, der auch Peter hieß und zu den Altgläubigen gehörte, von seinem Glauben nicht lassen und mußte sich in den Kostromaschen Wäldern verbergen. Dieser Fürst Peter war in zweiter Ehe mit einer Nichtadeligen verheiratet ... Und eben dadurch kamen jene anderen Ssokolskis, die Nebenlinie, in die Höhe ... Aber ich ... ja, wovon sprach ich denn eigentlich?“
Er war sehr erschöpft und schien selbst nicht mehr zu wissen, was er sagte.
„Beruhigen Sie sich, und legen Sie sich jetzt schlafen, das ist das erste, was Sie tun müssen,“ sagte ich, stand auf und nahm meinen Hut. „Der Fürst Nikolai Iwanowitsch wird es Ihnen nicht abschlagen, besonders jetzt nicht, im Glück. Sie wissen doch schon das Neueste? Oder noch nicht? Ich habe etwas Unglaubliches gehört: er werde heiraten! Das soll freilich noch ein Geheimnis bleiben, aber natürlich nicht vor Ihnen.“
Und ich erzählte ihm noch schnell, den Hut schon in der Hand, was ich gehört hatte. Er wußte noch nichts davon. Er erkundigte sich hastig nach den Einzelheiten, besonders wollte er wissen, wann und wo diese Verlobung stattgefunden haben sollte, und ob die Nachricht überhaupt zuverlässig sei. Natürlich verheimlichte ich ihm nicht, daß es gleich nach seinem Besuch bei Anna Andrejewna geschehen sein mußte. Ich vermag nicht wiederzugeben, was für einen schmerzlichen Eindruck diese Nachricht auf ihn machte; sein Gesicht verzerrte sich, ein schiefes Lächeln verzog seine Lippen; als ich alles erzählt hatte, war er unheimlich blaß, starrte zu Boden und schien in tiefe Gedanken versunken zu sein. Da begriff ich, daß seine Eigenliebe durch die gestrige Absage Anna Andrejewnas furchtbar verletzt war. Vielleicht sah er in seinem krankhaften Zustande die lächerliche und erniedrigende Rolle, die er gestern gespielt hatte, in gar zu greller Beleuchtung, diese Erniedrigung vor der jungen Dame, von deren Einwilligung er die ganze Zeit über so fest überzeugt gewesen war. Und vielleicht kam ihm auch der Gedanke, was für eine Ehrlosigkeit er Lisa gegenüber begangen hatte, und alles das um nichts! Es ist wirklich merkwürdig, wofür diese Gesellschaftsmenschen einander halten, und auf welcher Basis sie sich gegenseitig achten! Dieser Fürst mußte sich doch sagen, daß Anna Andrejewna von seiner Beziehung zu Lisa, die dazu noch ihre Schwester war, einmal erfahren konnte, wenn sie nicht schon alles wußte, doch siehe da – er hatte an ihrem Jawort nicht einmal gezweifelt!
„Und Sie konnten wirklich glauben,“ sagte er auf einmal und sah mich stolz und hochfahrend an, „daß ich fähig wäre, nach einer solchen Mitteilung noch zum Fürsten Nikolai Iwanowitsch zu gehen und ihn um Geld zu bitten! Zu ihm, dem Verlobten dieses Mädchens, das mir soeben einen Korb gegeben hat – nein, diese Niedrigkeit, diese Lakaienhaftigkeit! Nein, jetzt ist alles verloren, und wenn die Hilfe dieses alten Fürsten noch meine letzte Hoffnung war, so mag auch diese Hoffnung sinken!“
In meinem Herzen stimmte ich ihm natürlich bei, aber der Wirklichkeit gegenüber mußte man die Sache doch etwas weitherziger auffassen: war denn dieser alte Herr noch ein Mann, ein richtiger Verlobter? Mir kamen noch andere Ideen in den Kopf. Ich hatte ja ohnehin beschlossen, am nächsten Morgen sofort zum alten Fürsten zu gehen. Ich bemühte mich, den schlimmen Eindruck meiner Erzählung abzuschwächen und den Armen zu bereden, sich schlafen zu legen. „Schlafen Sie sich aus, und Sie werden sehen, Ihre Gedanken werden klarer werden!“ Er drückte mir fest die Hand, aber er küßte mich nicht mehr. Ich gab ihm mein Wort, morgen abend zu ihm zu kommen, „und dann wollen wir uns aussprechen; es gibt jetzt so vieles, worüber wir noch sprechen müssen,“ sagte ich. Doch als Antwort auf meine Worte hatte er nur ein fatalistisches Lächeln.