Jetzt wird mir das Erzählen zur Pein. Das ist ja alles schon vor langer Zeit geschehen; aber auch jetzt noch ist für mich alles das wie eine Fata Morgana.
Wie konnte eine Frau, wie sie, einem so garstigen Jungen, wie ich damals war, ein Stelldichein geben? – Das war die erste Frage! Als ich nach dem Gespräch mit Lisa in meinem Schlitten zu ihr flog, und mein Herz zu klopfen begann, dachte ich geradezu, ich wäre verrückt geworden: die Vorstellung, daß sie mich zu einem Stelldichein aufgefordert hatte, erschien mir auf einmal so ungereimt, so hirnverbrannt, daß jede Möglichkeit, daran zu glauben, einfach ausgeschlossen war. Und doch – zweifelte ich nicht im geringsten! Es war sogar so: je klarer ich die Unmöglichkeit erkannte, um so blinder glaubte ich. Daß es schon drei geschlagen hatte, beunruhigte mich: „Wenn es ein Stelldichein ist, wie kann ich dann zu spät kommen?“ dachte ich. Es gingen mir auch noch andere dumme Fragen durch den Kopf, wie zum Beispiel: „Was ist für mich jetzt ratsamer, Kühnheit oder Schüchternheit?“ Aber das zog alles nur flüchtig vorüber; denn das Vorherrschende und die Hauptsache lag doch im Herzen, und das war etwas, was ich nicht zu benennen vermochte. Am Tage vorher hatte sie zu mir gesagt: „Morgen werde ich um drei Uhr bei Tatjana Pawlowna sein,“ – und das war alles gewesen. Aber erstens hatte sie mich auch bei sich immer allein empfangen, sie hätte mir also in ihrer Wohnung alles sagen können, was sie nur wollte, und brauchte sich deshalb nicht zu Tatjana Pawlowna zu begeben; folglich fragte es sich, wozu sie mich denn nun eigentlich an einen anderen Ort, eben zu Tatjana Pawlowna, bestellt hatte? Und die zweite Frage: Wird Tatjana Pawlowna zu Hause sein oder nicht? Wenn es ein Stelldichein sein sollte, so durfte Tatjana Pawlowna natürlich nicht zu Hause sein. Aber wie hätte sie das so einrichten können, ohne Tatjana Pawlowna vorher in alles einzuweihen? Also mußte Tatjana Pawlowna um das Geheimnis wissen? Dieser Gedanke erschien mir geradezu roh und so ... so unkeusch, ja, fast sogar schmutzig.
Und schließlich konnte sie gestern einfach auf den Gedanken gekommen sein, Tatjana Pawlowna zu besuchen, was sie mir dann ohne jede besondere Absicht mitgeteilt hatte, ich aber war gerade auf diese einfachste Deutung gar nicht verfallen. Und sie hatte es auch nur so nebenbei gesagt, nachlässig, ruhig, und nach einer sehr langweiligen Unterhaltung; denn ich war an diesem Nachmittag die ganze Zeit völlig verwirrt gewesen: ich hatte gesessen, unklar gesprochen und nicht gewußt, was ich sagen sollte, hatte mich furchtbar geärgert und geniert, sie aber hatte, wie sich herausstellte, irgendwohin fahren wollen und war daher sichtlich froh, als ich endlich aufbrach. Alle diese Erwägungen zogen durch meinen Kopf. Zuletzt beschloß ich folgendes: „Ich werde klingeln, und wenn die Köchin aufmacht, sie einfach fragen, ob Tatjana Pawlowna zu Haus ist! Ist sie nicht zu Hause, so ist es ein – ‚Stelldichein‘.“ Aber ich zweifelte nicht daran, ich zweifelte nicht daran!
Ich lief die Treppe hinauf, und noch auf der Treppe, vor der Tür ihrer Wohnung, verschwand plötzlich meine ganze Furcht. „Ach, gleichviel wie und was,“ dachte ich, „wenn’s sich nur schnell entscheidet!“ Die Köchin machte mir die Tür auf und brummte mit ihrem widerlichen Phlegma, Tatjana Pawlowna sei ausgegangen. Ich wollte schon fragen: „Aber ist nicht sonst jemand hier, wartet nicht jemand auf Tatjana Pawlowna?“ – aber ich unterließ die Frage, dachte mir: „ich sehe lieber selbst nach,“ sagte der Köchin, ich würde warten, warf meinen Pelz ab und machte die Tür auf ...
Katerina Nikolajewna saß am Fenster und „wartete auf Tatjana Pawlowna“.
„Sie ist nicht da?“ fragte sie mich sogleich, anscheinend besorgt und etwas geärgert, kaum daß sie mich erblickt hatte.
Und ihre Stimme und ihr Gesichtsausdruck entsprachen so wenig meinen Erwartungen, daß ich einfach auf der Schwelle stehen blieb und zu versinken glaubte.
„Wer ist nicht da?“ stammelte ich.
„Tatjana Pawlowna! Ich bat Sie doch gestern, ihr zu sagen, daß ich um drei Uhr zu ihr kommen würde.“
„Ich ... ich habe sie überhaupt nicht gesehen.“
„Sie haben es vergessen?“
Ich sank wie erschlagen auf einen Stuhl. Also das war es gewesen! Und alles war ja so klar, wie sich nun herausstellte, wie zweimal zwei vier ist, ich aber – ich glaubte immer noch.
„Ich kann mich aber gar nicht erinnern, daß Sie mich gebeten hätten, es ihr zu sagen. Und Sie haben mich ja auch gar nicht darum gebeten: Sie sagten nur, daß Sie um drei Uhr hier sein werden,“ brachte ich ungeduldig hervor.
Ich sah sie nicht an.
„Ach!“ rief sie da auf einmal, „wenn Sie es ihr zu sagen vergessen haben, selbst aber wußten, daß ich hier sein würde, warum sind Sie dann hergekommen?“
Ich hob den Kopf: weder Spott noch Zorn sah ich in ihrem Gesicht, sondern nur ein helles, lustiges Lächeln und eine gewisse auffallende Schelmerei in ihrem Gesichtsausdruck, – übrigens hatte sie immer diesen Ausdruck – so eine fast kindliche Ausgelassenheit, die förmlich zu necken schien: „Siehst du, jetzt habe ich dich ganz überführt, was wirst du nun sagen?“
Ich wollte nicht antworten und sah wieder zu Boden. Das Schweigen dauerte wohl eine halbe Minute.
„Sie kommen von Papa?“ fragte sie plötzlich.
„Ich komme von Anna Andrejewna, beim Fürsten Nikolai Iwanowitsch bin ich überhaupt nicht gewesen ... Und das wußten Sie,“ fügte ich auf einmal hinzu.
„Und bei Anna Andrejewna ist mit Ihnen nichts geschehen?“
„Sie meinen, weil ich wie ein Verrückter aussehe? Nein, ich war schon vor meinem Besuch bei Anna Andrejewna verrückt.“
„Und sind bei ihr nicht vernünftig geworden?“
„Nein, ich bin nicht vernünftig geworden. Ich habe außerdem gehört, daß Sie Baron Bjoring heiraten werden.“
„Hat sie Ihnen das gesagt?“ forschte sie plötzlich interessiert.
„Nein, das habe ich ihr erzählt, und gehört habe ich es vorhin, als Naschtschokin es dem Fürsten Ssergei Petrowitsch erzählte.“
Ich sah sie noch immer nicht an; ich wagte nicht, den Blick zu ihr zu erheben; sie ansehen, hieß für mich, in strahlendes Licht, in Freude, in Glück tauchen, ich aber wollte nicht glücklich sein. Der Stachel des Unwillens hatte sich in mein Herz gebohrt, und in einem Augenblick faßte ich einen ungeheuren Entschluß. Und dann begann ich auf einmal zu sprechen, ich weiß kaum, wovon. Ich sprach atemlos, sprach wirr und unverständlich, aber ich sah sie schon dreist an. Mein Herz klopfte. Ich sprach von irgend etwas, was mit der Situation in gar keinem Zusammenhang stand, vielleicht aber doch nicht ganz ohne Sinn war. Sie wollte mir anfangs zuhören, wie gewöhnlich mit ihrem nachsichtigen, sich gleichbleibenden Lächeln, das selten ganz aus ihrem Gesicht verschwand, doch allmählich trat Erstaunen und schließlich sogar Schreck in ihren gespannt auf mir ruhenden Blick. Das Lächeln schwand immer noch nicht ganz, aber auch das Lächeln veränderte sich hin und wieder gleichsam vor Schreck; da fiel es mir auf, daß sie plötzlich am ganzen Körper zusammengezuckt war.
„Was haben Sie?“ fragte ich.
„Ich fürchte mich vor Ihnen,“ antwortete sie mir fast aufgeregt.
„Warum gehen Sie nicht fort? Da Sie doch Tatjana Pawlowna nicht angetroffen haben und wissen, daß sie nicht so bald kommen wird, so hätten Sie doch aufstehen und fortgehen müssen.“
„Ich hatte die Absicht, sie zu erwarten, aber jetzt ... in der Tat ...“ Sie wollte sich erheben.
„Nein, nein, bleiben Sie,“ hielt ich sie zurück, „da sind Sie schon wieder zusammengezuckt, aber Sie lächeln auch in der Angst ... Sie haben immer ein Lächeln. Sehen Sie, jetzt lächeln Sie so, daß es ganz deutlich zu erkennen ist ...“
„Sie reden wohl im Fieber?“
„Ja, im Fieber.“
„Ich fürchte ...“ murmelte sie.
„Was?“
„Daß Sie – die Wand einreißen ...“ sagte sie wieder lächelnd, aber nun fürchtete sie sich wirklich.
„Ich kann Ihr Lächeln nicht ertragen!“
Und ich begann wieder zu sprechen. Es war mir, als flöge ich, und irgend etwas stieß mich vorwärts. Noch nie, noch nie hatte ich so zu ihr gesprochen, immer war ich schüchtern gewesen. Auch jetzt war ich furchtbar bange, aber ich sprach trotzdem. Ich weiß noch, ich fing von ihrem Gesicht an:
„Ich kann Ihr Lächeln nicht mehr ertragen!“ rief ich plötzlich aus. „Warum habe ich Sie mir so anders vorgestellt, noch in Moskau, immer streng, unnahbar, pompös und mit den falschen Gesellschaftsphrasen der großen Dame? Ja, schon in Moskau! Wir haben damals viel von Ihnen gesprochen, Marja Iwanowna und ich, haben immer versucht, uns vorzustellen, wie Sie aussehen ... Sie kennen doch Marja Iwanowna? Sie waren ja bei ihr. Und auf der Reise hierher hat mir die ganze Nacht im Waggon nur von Ihnen geträumt. Und hier habe ich vor Ihrer Ankunft einen ganzen Monat Ihr Porträt im Kabinett Ihres Vaters betrachtet und doch nichts erraten. Der Ausdruck Ihres Gesichts ist kindliche Schelmerei und unendliche Offenherzigkeit – ja! Ich habe mich die ganze Zeit, seitdem ich Sie besuche, darüber gewundert. Oh, ich weiß, Sie können auch stolz sein und einen mit Ihrem Blick einfach vernichten: ich werde es nicht vergessen, wie Sie mich damals bei Ihrem Vater ansahen, als Sie aus Moskau zurückkehrten ... Ich sah Sie damals, aber hätte mich draußen jemand gefragt: Wie sieht sie aus? – ich hätte nichts zu sagen gewußt. Nicht einmal Ihre Größe hätte ich anzugeben gewußt. Wie ich Sie damals erblickte, erblindete ich. Ihr Porträt dort ist Ihnen gar nicht ähnlich: Sie haben keine dunklen, sondern helle Augen, nur Ihre langen Wimpern lassen sie dunkel erscheinen. Sie haben eine volle Gestalt, Sie sind von mittlerer Größe, aber Ihre volle Gestalt ist straff und leicht wie die eines gesunden Dorfmädchens. Und auch Ihr Gesicht ist ländlich, ist das Gesicht einer jungen Dorfschönheit, – nehmen Sie es mir nicht übel; denn das ist doch gut, ist ja viel besser so, – ein rundes, frisches, helles, kühnes, lachendes und ... schüchternes Gesicht! Wirklich schüchtern. Und das soll das Gesicht Katerina Nikolajewna Achmakoffs sein? – Ja, schüchtern und keusch ist es, ich schwöre Ihnen! Ja, mehr noch als keusch, – kindlich ist es! Das ist Ihr Gesicht! Ich habe mich die ganze Zeit darüber gewundert und mich immer gefragt: ist das wirklich dieselbe Frau? Jetzt weiß ich, daß Sie sehr klug sind, aber anfangs dachte ich doch, Sie wären geistlos. Sie haben einen heiteren Verstand, aber ohne alle Raffiniertheiten ... Und was ich an Ihnen noch besonders liebe, ist, daß dieses Lächeln Sie nie verläßt; dieses Lächeln ist mein Paradies! Und dann liebe ich noch Ihre Ruhe, Ihre Stille, und daß Sie die Worte so gleitend aussprechen, so ruhig und fast lässig, – gerade diese Lässigkeit liebe ich. Ich glaube, selbst wenn eine Brücke unter Ihnen einstürzte, Sie würden auch dann noch ruhig und lässig irgend etwas sagen ... Ich stellte Sie mir als den Gipfel allen Stolzes und aller Leidenschaften vor, und nun haben Sie zwei Monate mit mir wie ein Student zu einem Studenten gesprochen. Ich hätte mir nie gedacht, daß Sie eine solche Stirn haben; sie ist etwas niedrig, wie bei Statuen, aber weiß und zart wie Marmor unter dem reichen Haar. Sie haben eine hohe Brust, einen leichten Gang, Sie sind von außergewöhnlicher Schönheit, und dabei sind Sie eigentlich gar nicht stolz. Das habe ich ja erst jetzt begriffen, bis heute habe ich es ja immer noch nicht geglaubt!“
Sie hatte diese ganze wilde Tirade mit großen offenen Augen angehört, sie sah, daß ich zitterte. Ein paarmal hatte sie mit einer reizenden furchtsamen Gebärde ihre kleine behandschuhte Hand erhoben, um mich aufzuhalten, aber jedesmal hatte sie ihre Hand verwundert und ängstlich wieder sinken lassen. Ein paarmal war sie sogar zurückgezuckt und weitergerückt. Zwei- oder dreimal war auch ihr Lächeln wieder erschienen; einmal wurde sie feuerrot, zum Schluß aber sah sie entschieden erschrocken aus und wurde immer bleicher. Kaum war ich verstummt, da streckte sie die Hand aus und sagte halblaut mit bittender, weicher Stimme:
„So dürfen Sie nicht sprechen ... so spricht man nicht ...“
Und plötzlich erhob sie sich von ihrem Platz und griff ohne Hast nach ihrem Schal und ihrem Zobelmuff.
„Sie gehen?“ rief ich.
„Ich fürchte mich wirklich vor Ihnen ... Sie mißbrauchen ...“ sagte sie zögernd, und ich glaubte, ein Bedauern und einen Vorwurf herauszuhören.
„Hören Sie mich an, – bei Gott, ich werde die Wand nicht einreißen!“
„Sie haben ja schon angefangen,“ konnte sie sich nicht enthalten zu sagen, und sie lächelte. „Ich weiß nicht einmal, ob Sie mich hinauslassen werden?“
Ich glaube, sie befürchtete wirklich, daß ich sie nicht hinauslassen würde.
„Ich werde Ihnen selbst die Tür aufmachen, es steht Ihnen frei, zu gehen. Aber Sie ... Ich habe einen großen Entschluß gefaßt; und wenn Sie mir Freude schenken wollen, so bleiben Sie noch, setzen Sie sich und lassen Sie mich Ihnen nur noch zwei Worte sagen. Aber wenn Sie’s nicht wollen, so gehen Sie, ich werde Ihnen selbst die Tür aufmachen!“
Sie sah mich an und setzte sich.
„Mit welcher Empörung wäre eine andere fortgegangen, Sie aber sind geblieben!“ rief ich berauscht.
„Sie haben sich früher nie erlaubt, so mit mir zu sprechen.“
„Ich habe früher nie meine Schüchternheit überwinden können. Auch als ich jetzt hier eintrat, wußte ich nicht, was ich sagen sollte. Sie glauben, ich wäre jetzt nicht schüchtern? Ich bin es. Aber ich habe einen großen Entschluß gefaßt, und ich fühle, daß ich ihn ausführen werde. Und als ich diesen Entschluß gefaßt hatte, da verlor ich gleich meinen Verstand und begann das alles zu sagen ... Hören Sie mich an, nur zwei Worte: bin ich ein Spion oder nicht? Antworten Sie mir – das ist meine Frage!“
Das Blut schoß ihr ins Gesicht.
„Nein, antworten Sie noch nicht, Katerina Nikolajewna, hören Sie erst alles an, und dann sagen Sie mir die ganze Wahrheit.“
Ich hatte auf einmal alle Schranken zerbrochen und schwebte in der Luft.