II.

„Vor zwei Monaten stand ich hier hinter der Portiere ... Sie wissen ... und Sie erzählten Tatjana Pawlowna von jenem Brief. Ich stürzte schließlich hervor, besinnungslos, außer mir, und verriet mein Geheimnis. Sie begriffen sofort, daß ich etwas wußte ... Sie mußten es ja begreifen. Sie suchten ein wichtiges Dokument und befürchteten vieles ... Warten Sie, Katerina Nikolajewna, sagen Sie noch nichts. Ich erkläre Ihnen hiermit, daß Ihr Verdacht nicht unbegründet war: dieses Dokument existiert ... das heißt, es hat existiert ... ich habe es gesehen; es war das ein Brief von Ihnen an Andronikoff, nicht wahr?“

„Sie haben diesen Brief gesehen?“ fragte sie hastig in sichtlicher Verwirrung und Aufregung. „Wo haben Sie ihn gesehen?“

„Ich ... ich habe ihn ... bei Krafft gesehen; bei dem, der sich erschossen hat ...“

„Wirklich? Sie haben den Brief selbst gesehen? Wo ist er jetzt, was ist mit ihm geschehen?“

„Krafft hat ihn zerrissen.“

„In Ihrer Gegenwart? Haben Sie das selbst gesehen?“

„Ja, in meiner Gegenwart. Er hat ihn zerrissen, wahrscheinlich, um ihn vor seinem Tode zu vernichten. Ich wußte ja damals noch nicht, daß er sich erschießen wollte ...“

„So ist der Brief vernichtet! Gott sei Dank!“ sagte sie langsam und atmete auf und bekreuzte sich.

Ich hatte sie nicht belogen. Das heißt, ich hatte ihr natürlich eine Unwahrheit gesagt; denn das Dokument besaß ich, und Krafft hatte es nie besessen, doch das war nur eine Nebensache; in der Hauptsache aber hatte ich nicht gelogen; denn in dem Augenblick, als ich sagte, der Brief wäre zerrissen worden, gab ich mir das Wort, diesen Brief noch an demselben Abend zu verbrennen. Wäre der Brief in dem Augenblick in meiner Tasche gewesen, so hätte ich ihn, mein Ehrenwort, hervorgezogen und ihn ihr übergeben; aber ich hatte ihn nicht bei mir, er war in meiner Wohnung. Übrigens, vielleicht hätte ich ihn ihr doch nicht gegeben; denn ich hätte mich sehr geschämt, ihr zu gestehen, daß ich ihn besessen, und so lange aufbewahrt und gewartet und ihn ihr nicht gegeben hatte. Deshalb dachte ich denn: ich verbrenne ihn zu Haus, also ist er schon ebensogut wie vernichtet, und folglich sage ich ja gar keine Unwahrheit! Jedenfalls war mein Gewissen rein, und das mit Recht.

„Und da es so ist,“ fuhr ich, beinahe in Ekstase, fort, „so sagen Sie mir jetzt: Haben Sie mich nur deshalb angelockt, weil Sie vermuteten, ich wüßte etwas von diesem Dokument? Warten Sie noch einen Augenblick, Katerina Nikolajewna, sagen Sie noch nichts, lassen Sie mich zu Ende sprechen: ich habe die ganze Zeit, so lange ich mit Ihnen überhaupt verkehre, geargwöhnt, daß Sie mich nur aus dem Grunde verwöhnten, weil Sie von mir Näheres über diesen verschwundenen Brief erfahren wollten, weil Sie mich zu Geständnissen verleiten wollten ... Warten Sie noch einen Augenblick: ich argwöhnte das, aber ich litt darunter. Ihr Doppelspiel war für mich unerträglich; denn ich ... denn ich hatte in Ihnen das edelste Wesen erkannt! Ich sage Ihnen offen, ganz offen: ich war Ihr Feind, aber ich habe in Ihnen das edelste Wesen erkannt! Alles in mir war mit einem Schlage besiegt. Aber Ihr Doppelspiel, das heißt, der Verdacht, Sie könnten nicht aufrichtig sein, hat mich gequält ... Jetzt muß sich alles entscheiden, alles erklären, jetzt ist die Stunde gekommen, aber ... nein, warten Sie noch ein wenig, sagen Sie noch nichts, hören Sie erst, wie ich selbst die Sache ansehe, gerade jetzt, in diesem Augenblick! Ich sage Ihnen unverhohlen: wenn es auch so war, ich werde Ihnen deshalb nicht böse sein ... das heißt, ich wollte sagen, ich werde es Ihnen nicht übelnehmen; denn es wäre ja so natürlich: ich verstehe es doch! Was ist denn dabei Unnatürliches und Schlechtes? Das Dokument quält Sie, Sie haben einen im Verdacht, daß er etwas davon weiß oder alles weiß; da mußten Sie doch, das ist ja selbstverständlich, den Wunsch haben, von diesem Wissenden etwas zu erfahren, ihn zum Sprechen zu veranlassen ... Dabei ist doch nichts Schlechtes, wirklich nicht! Ich sage das ganz aufrichtig! ... Aber es ist doch notwendig, daß Sie mir jetzt irgend etwas sagen ... daß Sie ein Geständnis ablegen (verzeihen Sie das Wort)! Ich muß die Wahrheit wissen! Aus einem besonderen Grunde! So sagen Sie mir jetzt: sind Sie deshalb freundlich zu mir gewesen, um über das Dokument etwas von mir zu erfahren ... Katerina Nikolajewna?“

Ich sprach wie ein aus Höhen Herabfallender, und meine Stirn brannte. Sie hörte mich bereits ohne Aufregung an, im Gegenteil, es lag Mitempfinden in ihrem Gesicht; aber ihr Blick war schüchtern, als schäme sie sich.

„Ja, deshalb,“ sagte sie langsam und halblaut. „Verzeihen Sie mir, es war unrecht von mir,“ fügte sie plötzlich hinzu und hob ihre Hände ein wenig mir entgegen. Das hätte ich nimmer erwartet. Auf alles war ich gefaßt, alles hätte ich erwartet, nur diese Worte nicht; nicht von ihr, obgleich ich sie doch schon kannte.

„Und Sie sagen mir das so: ‚es war unrecht von mir‘! Sagen es so ohne weiteres und offen, daß es unrecht von Ihnen war?“ rief ich aus.

„Oh, ich habe es schon lange gefühlt, daß ich Ihnen unrecht tat, ich habe meine Schuld empfunden ... und ich bin sogar froh, daß es jetzt zur Sprache gekommen ist ...“

„Schon lange gefühlt? Aber warum haben Sie denn nichts gesagt?“

„Ja, ich wußte nicht, wie ich es sagen sollte,“ sagte sie lächelnd. „Das heißt, ich hätte es vielleicht auch gewußt,“ lächelte sie wieder, „aber ich schämte mich immer mehr ... denn ich hatte Sie anfangs tatsächlich nur deshalb ‚angelockt‘, wie Sie sich ausdrückten, dann aber wurde mir alles das sehr bald zuwider ... und diese ganze Verstellung hatte ich bald so satt, das können Sie mir glauben!“ fügte sie mit bitterem Gefühl hinzu, „und überhaupt alle diese Suchereien!“

„Aber warum, warum haben Sie mich dann nicht einfach gefragt, ganz offen und ehrlich? Sie hätten nur zu sagen gebraucht: ‚Du weißt doch von diesem Brief, warum verstellst du dich?‘ – und ich hätte Ihnen sofort alles gesagt, hätte sofort alles gestanden!“

„Ja, ich ... fürchtete Sie ein wenig. Ich muß gestehen, ich traute Ihnen nicht ganz. Und es ist doch wahr: wenn ich nicht ganz aufrichtig gewesen bin, so sind Sie es ja auch nicht gewesen,“ schloß sie und lachte leise.

„Ja, wahrhaftig, ich hatte Ihr Vertrauen nicht verdient!“ rief ich betroffen. „Oh, Sie kennen noch nicht die ganze unermeßliche Tiefe meines Falles!“

„Ach, sogar schon unermeßliche Tiefe! Ich erkenne Ihren Stil wieder,“ lächelte sie still. „Dieser Brief,“ fuhr sie traurig fort, „war die häßlichste und leichtsinnigste Tat meines Lebens. Das Bewußtsein dieser Tat ist mir eine ewige Selbstanklage gewesen. Ich habe unter dem Einfluß der Umstände und verschiedener Befürchtungen an meinem lieben, großmütigen Vater gezweifelt. Und da ich wußte, daß dieser Brief ... bösen Menschen in die Hände fallen konnte ... und da ich allen Grund hatte, das zu fürchten,“ sagte sie erregt, „so zitterte ich bei dem Gedanken, daß man ihn benutzen, meinem Papa zeigen könnte ... Dieser Brief hätte auf ihn einen so schrecklichen Eindruck machen können ... bei seinem Zustande ... bei seiner angegriffenen Gesundheit ... er hätte aufgehört, mich zu lieben ... Ja,“ fuhr sie fort und sah mir hell in die Augen, da sie in meinem Blick wohl einen flüchtigen Gedanken gelesen hatte, „ja, ich fürchtete auch für meine Zukunft: ich fürchtete, er könnte ... unter dem Einfluß seiner Krankheit ... mir seine Unterstützung entziehen ... Diese Sorge beunruhigte mich gleichfalls, aber ich habe ihm gewiß auch in dieser Beziehung unrecht getan: er ist so gut und großmütig, daß er mir bestimmt verziehen hätte. Und das war alles. Daß ich mich aber Ihnen gegenüber so verhalten habe, das war nicht richtig von mir,“ schloß sie plötzlich wieder verlegen. „Jetzt muß ich mich vor Ihnen schämen.“

„Nein, Sie haben keinen Grund, sich vor mir zu schämen!“ rief ich.

„Ich habe, in der Tat, auf ... Ihr heißes Temperament gerechnet ... und gestehe Ihnen das,“ sagte sie leise mit gesenktem Blick.

„Katerina Nikolajewna! Wer, sagen Sie, wer zwingt Sie, mir dieses Geständnis zu machen?“ rief ich wie trunken. „Sie hätten doch nur aufzustehen und mir in den gewähltesten Ausdrücken auf die feinste Weise zu erklären brauchen, wie zweimal zwei vier ist, daß, wenn auch etwas gewesen ist, eigentlich doch nichts gewesen sei, – Sie wissen schon: wie man so in Ihren hohen Kreisen mit der Wahrheit umzugehen pflegt. Ich bin doch unerfahren und unschlau, ich hätte Ihnen sofort geglaubt, Ihnen hätte ich alles geglaubt, gleichviel was Sie gesagt hätten! Es hätte Ihnen doch nichts gekostet, so zu handeln? Sie können sich doch in der Tat nicht vor mir fürchten? Wie konnten Sie sich freiwillig so vor mir erniedrigen, vor mir, dem vorwitzigen Jungen, vor so einem traurigen Jüngling?“

„Darin wenigstens habe ich mich nicht vor Ihnen erniedrigt,“ sagte sie mit freiem Stolz: sie hatte meine Worte offenbar nicht verstanden.

„Oh, im Gegenteil, im Gegenteil! Nur das sage ich ja die ganze Zeit ...!“

„Ach, das war so häßlich und so leichtsinnig von mir!“ rief sie und legte ihre Hand auf die Augen. „Ich habe mich noch gestern so geschämt, und deshalb war ich auch so mißgestimmt, als Sie bei mir waren ... Es war ja nur,“ fuhr sie auf einmal fort, „weil meine Verhältnisse sich so gestalteten, daß ich endlich die ganze Wahrheit über den Verbleib dieses unseligen Briefes erfahren mußte ... ich war ja schon daran, ihn ganz zu vergessen ... Denn ich habe Sie durchaus nicht nur deshalb bei mir empfangen,“ fügte sie auf einmal hinzu.

Mein Herz erzitterte.

„Natürlich nicht,“ sagte sie mit einem feinen Lächeln, „natürlich nicht nur deshalb! Ich ... Sie bemerkten vorhin sehr richtig, Arkadi Makarowitsch, wir hätten miteinander oft so gesprochen wie ein Student mit einem Studenten. Sie können mir glauben, daß ich mich in der Gesellschaft oft sehr langweile; besonders jetzt nach meiner Rückkehr aus dem Auslande und allen diesen Unglücksfällen in unserer Familie ... Ich gehe jetzt auch nur selten aus und das nicht nur aus Trägheit. Oft habe ich Lust, aufs Land zu ziehen. Dort würde ich noch einmal alle meine Lieblingsbücher lesen, die ich schon so lange nicht mehr in der Hand gehabt habe, und hier komme ich immer nicht dazu, sie wieder zu lesen. Ich habe mit Ihnen schon darüber gesprochen. Erinnern Sie sich noch, Sie lachten darüber, daß ich russische Zeitungen lese und sogar zwei Zeitungen täglich?“

„Ich habe nicht gelacht ...“

„Aber das hat Sie doch auch erregt, und ich habe Ihnen ja schon lange gestanden: ich bin Russin und liebe Rußland. Wissen Sie noch, wie wir immer zusammen die ‚Fakta‘ lasen, wie Sie sie nannten,“ sagte sie lächelnd. „Sie waren zwar recht oft etwas ... wunderlich, aber Sie konnten sich manchmal so erregen und begeistern, und dann haben Sie immer eine treffende Bemerkung gemacht, und immer haben Sie sich gerade für das interessiert, was mich interessierte. Wenn Sie ‚Student‘ sind, sind Sie wirklich reizend und originell. Aber die anderen Rollen, die, scheint es, eignen sich weniger für Sie,“ meinte sie mit einem entzückenden schelmischen Lächeln. „Wissen Sie noch, wie wir zuweilen stundenlang nur Zahlen zusammenrechneten und verglichen, wie wir zählten, wieviel Schulen es in Rußland gibt, in welcher Richtung sich bei uns die Aufklärung bewegt. Wir zählten die Morde und Kriminalfälle und zählten die guten Nachrichten und hielten sie dann gegeneinander ... wir wollten feststellen, wohin das alles strebte, und was schließlich aus uns selbst werden würde. Ich habe in Ihnen so viel echte Aufrichtigkeit gefunden. In der Gesellschaft spricht man mit uns Frauen niemals so. In der vorigen Woche versuchte ich mit dem Fürsten ...off über Bismarck zu sprechen, weil dieses Problem mich so interessiert und ich mir eine Lösung nicht denken konnte. Und stellen Sie sich vor, er setzte sich neben mich und begann mir alles zu erklären, sogar sehr eingehend und ausführlich, aber bei alledem doch mit diesem gewissen Sarkasmus, eben mit dieser für mich unerträglichen Nachsicht, mit der die ‚großen Männer‘ gewöhnlich mit uns Frauen sprechen, wenn wir uns ‚in Dinge einmischen, die uns nichts angehen‘ ... Und wissen Sie noch, wie wir uns wegen Bismarck einmal fast verzankt hätten? Sie erklärten mir, auch Sie hätten eine Idee, und die wäre sogar ‚viel reiner‘ als die Bismarcksche,“ sagte sie lachend. „Ich bin in meinem Leben nur zwei Männern begegnet, die mit mir wirklich ganz ernsthaft gesprochen haben: meinem verstorbenen Mann, der ein sehr, sehr kluger und vornehmer Mensch war,“ sagte sie überzeugt, „und dann noch – Sie wissen, wem ...“

„Werssiloff!“ rief ich. Ich lauschte fast atemlos auf jedes ihrer Worte.

„Ja, ich habe es sehr geliebt, ihm zuzuhören, ich sprach mit ihm schließlich ganz ... vielleicht gar zu aufrichtig, aber gerade dann glaubte er mir nicht!“

„Er glaubte Ihnen nicht?“

„Nein, und auch sonst hat mir ja noch nie jemand geglaubt.“

„Aber Werssiloff, Werssiloff!“

„Nicht nur, daß er mir nicht glaubte,“ sagte sie mit gesenktem Blick und einem eigentümlichen Lächeln, „er meinte sogar, in mir wären ‚alle Laster‘ ...“

„Von denen kein einziges in Ihnen ist!“

„Doch, auch ich habe welche.“

„Werssiloff hat Sie nicht geliebt, deshalb hat er Sie auch nicht verstanden,“ rief ich mit blitzenden Augen. In ihrem Gesicht zuckte es eigen.

„Lassen Sie das, und reden Sie mir nie wieder von ... diesem Menschen,“ sagte sie erregt und abweisend. „Doch genug; es ist Zeit für mich.“ Sie erhob sich, um aufzubrechen. „Nun, und wie wird es zwischen uns: verzeihen Sie mir, oder verzeihen Sie mir nicht?“ fragte sie und sah mir hell in die Augen.

„Ich ... Ihnen ... verzeihen ...! Hören Sie mich, Katerina Nikolajewna, und seien Sie mir nicht böse: ist es wahr, daß Sie heiraten werden?“

„Das ist noch gar nicht entschieden,“ sagte sie, als hätte irgend etwas sie erschreckt, und mit einer gewissen Verwirrung.

„Ist er ein guter Mensch? Verzeihen Sie, verzeihen Sie mir diese Frage!“

„Ja, ein sehr guter Mensch ...“

„Antworten Sie mir nicht mehr, würdigen Sie mich keiner Antwort mehr! Ich weiß doch, daß solche Fragen von mir etwas Unmögliches sind! Ich wollte ja nur wissen, ob er Ihrer wert ist, aber ich werde das schon selbst erfahren.“

„Ach, nein, das geht doch nicht!“ sagte sie erschrocken.

„Nein, nein, ich werde es nicht, ich werde es nicht tun. Ich verzichte ... Aber nur das will ich Ihnen noch sagen: Gott gebe Ihnen jedes Glück, jedes, das Sie sich selbst wünschen ... dafür, daß auch Sie mir jetzt soviel Glück gegeben haben, in dieser einen Stunde! Sie haben sich jetzt auf ewig in mein Herz geprägt. Ich habe einen Schatz erworben: den Gedanken an Ihre Vollkommenheit. Ich argwöhnte Hinterlist, rohe Koketterie und war unglücklich ... denn ich konnte diesen Gedanken nicht mit Ihrem Bilde vereinigen ... In der letzten Zeit habe ich mich Tag und Nacht damit gequält, doch jetzt ist auf einmal alles klar und licht wie der Tag! Als ich herkam, dachte ich, ich würde Jesuitismus, Schlauheit und eine aushorchende Schlange finden, statt dessen fand ich Ehre und Stolz, fand einen ‚Studenten‘! Sie lachen? Meinetwegen, lachen Sie nur, das tut nichts, das tut nichts! Sie sind doch eine Heilige, Sie können nicht über das lachen, was heilig ist ...“

„O nein, ich lache nur über Ihre schrecklichen Ausdrücke. Was ist das nun wieder für eine ‚aushorchende Schlange‘?“ lachte sie.

„Ihnen ist heute ein kostbares Wort entschlüpft,“ fuhr ich begeistert fort. „Wie konnten Sie mir so von Angesicht zu Angesicht sagen, Sie hätten auf mein ‚heißes Temperament gerechnet‘? Nun gut, mögen Sie als Heilige auch das gestanden haben – da Sie sich schuldig glaubten und sich selbst strafen wollten ... obschon von einer Schuld gar nicht die Rede sein kann; denn wenn da auch etwas gewesen sein sollte, so ist doch nichts gewesen, da alles, was von Ihnen kommt, heilig ist! – Aber Sie hätten doch gerade dieses Wort nicht zu sagen brauchen, nicht diesen Ausdruck ...! Eine solche geradezu unnatürliche Offenherzigkeit beweist nur Ihre hohe Keuschheit, Ihre Achtung vor mir, Ihren Glauben an mich,“ rief ich wirr. „Oh, erröten Sie nicht, erröten Sie nicht ...! Und wer, wer hat Sie so verleumden und sagen können, Sie wären ... eine leidenschaftliche Frau? Oh, verzeihen Sie mir! – Ich sehe einen gequälten Ausdruck in Ihrem Gesicht; verzeihen Sie einem außer sich geratenen Jüngling seine plumpen Worte! Aber kommt es denn jetzt auf Worte, auf Ausdrücke an? Stehen Sie denn nicht über allen Ausdrücken ...? Werssiloff hat mir einmal gesagt, Othello hätte nicht deshalb Desdemona getötet und dann sich selbst, weil er eifersüchtig war, sondern weil man ihm sein Ideal genommen hatte ... Ich kann das verstehen, denn mir hat man heute mein Ideal wiedergegeben!“

„Sie rühmen mich gar zu sehr, ich bin dessen nicht wert,“ sagte sie mit innigem Gefühl. „Wissen Sie noch, was ich Ihnen einmal über Ihre Augen gesagt habe?“ fügte sie, wie um abzulenken, als scherzhafte Frage hinzu.

„Daß ich nicht Augen hätte, sondern statt der Augen zwei Mikroskope, und daß ich aus jeder Fliege ein Kamel machte! Nein, diesmal übertreibe ich nicht ...! Wie, Sie gehen schon?“

Sie stand mitten im Zimmer, den Muff und ihren Schal in der Hand.

„Nein, ich warte, bis Sie gegangen sind, ich gehe später. Ich werde noch zwei Worte an Tatjana Pawlowna schreiben.“

„Ich gehe gleich, sofort, aber noch einmal: werden Sie glücklich, allein oder mit dem, den Sie erwählen, das gebe Gott! Ich aber – ich brauche nichts weiter als ein Ideal!“

„Lieber, guter Arkadi Makarowitsch, glauben Sie mir, daß ich Sie ... Mein Vater sagt von Ihnen immer: ‚Dieser liebe, dieser gute Junge!‘ Glauben Sie mir, ich werde nie vergessen, was Sie mir von dem armen Jungen, der bei fremden Menschen untergebracht worden war, und von seinen einsamen Träumen erzählt haben ... Ich verstehe so gut, wie Ihre Seele sich unter diesen Verhältnissen entwickelt hat ... Aber jetzt,“ fuhr sie mit einem bittenden und verlegenen Lächeln fort, indem sie meine Hand drückte, „jetzt dürfen wir uns, obschon wir Studenten sind, doch nicht mehr sehen, wir dürfen nicht mehr wie früher verkehren und, und ... Sie werden das doch wohl selbst einsehen?“

Nicht mehr?“

„Nein, nicht mehr, lange nicht mehr ... daran bin ich nun schuld ... Ich sehe, daß das jetzt ganz unmöglich ist ... Wir werden uns wohl treffen, manchmal, bei Papa ...“

„Sie fürchten mein ‚heißes Temperament‘, Sie trauen mir nicht?“ wollte ich schon ausrufen; aber da sah ich, wie sehr sie sich auf einmal vor mir schämte, und die Worte kamen mir nicht über die Lippen.

„Sagen Sie,“ hielt sie mich plötzlich noch einmal auf, als ich schon zur Tür ging, „haben Sie es selbst gesehen, daß ... dieser Brief zerrissen worden ist? Kann es nicht ein Irrtum sein? Wissen Sie es genau? Woher wußten Sie, daß es gerade dieser Brief an Andronikoff war?“

„Krafft hat mir seinen Inhalt erzählt und ihn mir sogar gezeigt ... Leben Sie wohl! Wenn ich bei Ihnen war, war ich schüchtern in Ihrer Gegenwart, aber wenn Sie hinausgingen, wäre ich hingestürzt, um die Stelle zu küssen, wo Ihr Fuß gestanden hatte ...“ kam es plötzlich über meine Lippen, ich wußte selbst nicht, wie und wozu ich es sagte, und ich ging, ohne sie anzusehen, schnell aus dem Zimmer.

Ich fuhr schnurstracks nach Haus; ich war von Entzücken erfüllt. In meinem Kopf drehte sich alles wie im Wirbelsturm, und mein Herz war übervoll. Als ich vor dem Hause, in dem meine Mutter wohnte, vorfuhr, fiel mir plötzlich Lisas Undankbarkeit gegen Anna Andrejewna ein und ihr hartes ungeheuerliches Wort, das sie vorhin gesagt hatte, und auf einmal tat mir das Herz um sie alle weh!

„Wie hart doch ihrer aller Herzen sind! Und Lisa, was mag sie nur haben?“ dachte ich, als ich aus dem Schlitten stieg.

Ich entließ meinen Schlitten und befahl ihm, um neun Uhr vor meiner Wohnung auf mich zu warten.

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