Pater Paissij irrte sich nicht, wenn er annahm, daß sein „lieber Junge“ wiederkehren werde, und vielleicht hatte er, wenn auch nicht ganz, so doch scharfsinnig genug Aljoschas Seelenstimmung erraten. Ich muß aber gestehen, daß es mir nichtsdestoweniger schwer wird, die Ursache dieser sonderbaren augenblicklichen Seelenstimmung des jungen und von mir so inniggeliebten Helden meines Romanes zu erklären. Auf die traurige Frage Pater Paissijs: „Solltest auch du zu den Kleingläubigen gehören?“ kann ich jedoch mit Bestimmtheit für Aljoscha antworten: Nein, er gehörte nicht zu den Kleingläubigen. Nein, hier war sicher das Gegenteil der Fall: seine ganze Verwirrung kam daher, daß er nur zu sehr glaubte. Eine große Verwirrung war es aber, und alles, was sich ereignete, war so quälend für ihn, daß er sogar nach langer Zeit diesen kummervollen Tag für einen der schwersten und verhängnisvollsten Tage seines Lebens hielt. Wenn man aber fragen wollte: „Sollte wirklich sein ganzer Kummer und seine Seelenunruhe davon herrühren, daß der Leichnam seines Staretz, statt sofort unmittelbare Heilkraft zu offenbaren, im Gegenteil, so früh in Verwesung übergegangen war,“ so antworte ich ohne zu zögern: Ja, so ist es in der Tat gewesen. Nur möchte ich den Leser bitten, nicht gleich über den reinen Sinn meines Jünglings zu lachen. Ich habe nicht die Absicht, seinen einfältigen Glauben durch sein jugendliches Alter zu entschuldigen oder zu rechtfertigen. Ich tue gerade das Entgegengesetzte und versichere hiermit, daß ich für ihn aufrichtige Hochachtung empfinde. Zweifellos wäre mancher andere Jüngling, der schon verstanden hätte, mit Vorsicht solche Herzenseindrücke zu empfangen, der verstanden hätte, nicht heiß, sondern nur lau zu lieben – wenn auch mit richtigem, so doch für sein Alter gar zu reiflich überlegendem und daher billigem Verstande –, solch ein Jüngling, sage ich, wäre dem entgangen, was mit meinem Jüngling geschah. Nur ist, meiner Meinung nach, in manchen Fällen denn doch achtbarer, sich so hinreißen zu lassen (denn wenn es auch unvernünftig ist, so geschieht es doch nur aus übergroßer Liebe), als sich überhaupt nicht hinreißen zu lassen. Und das besonders noch im Jünglingsalter! ... Denn hoffnungslos und billig ist der Geist eines beständig überlegenden Jünglings, – das ist meine Meinung. „Aber,“ rufen da vielleicht die vernünftigen Leute aus, „es kann doch nicht ein jeder Jüngling an solche Vorurteile glauben, und Ihr Jüngling kann doch kein Vorbild für andere sein.“ Darauf kann ich nur erwidern: Ja, mein Jüngling gehörte nicht zu den Kleingläubigen, er glaubte heilig und unerschütterlich, und dennoch werde ich nicht für ihn um Entschuldigung bitten.
Sehen Sie: wenn ich auch vorhin sagte (vielleicht etwas zu voreilig), daß ich jene Stimmung meines Jünglings weder erklären, noch entschuldigen oder rechtfertigen werde, so sehe ich jetzt doch ein, daß einige Erläuterungen zum Verständnis meiner weiteren Erzählung unbedingt erforderlich sind. Hier handelte es sich nicht um Wunder. Nicht um eine Erwartung von Wundern, die in ihrer Ungeduld leichtfertig gewesen wäre, handelte es sich dabei. Auch nicht für den Triumph seiner Überzeugung verlangte Aljoscha Wunder (das war erst recht nicht der Fall) oder etwa für den Sieg einer vorgefaßten Idee über eine andere, – o nein, auch das war es nicht. Nein, über allem anderen und an erster Stelle stand für ihn die Person, nur die Person seines geliebten Staretz, die Person des Gerechten, die er mit solcher Vergötterung liebte und ehrte. Das war es gerade, daß die ganze Liebe, die sein junges und reines Herz zu „Jedem und Allem“ während des ganzen vergangenen Jahres gehegt, sich fast nur auf diesen einen Menschen bezogen hatte, auf seinen entschlafenen und über alles geliebten Staretz. Dieses Wesen hatte so lange als unbestreitbares Ideal vor ihm gestanden, daß alle seine jungen Kräfte und alle seine Bestrebungen sich ausschließlich nur diesem Ideal zuwandten und er in manchen Minuten sogar „Alles und Jedes“ vergaß. Später erinnerte er sich noch, daß er an diesem schweren Tage selbst seinen Bruder Dmitrij, um den er sich noch am Abend vorher so gesorgt, ganz vergessen hatte; und so vergaß er auch, dem Vater Iljuschas die zweihundert Rubel zu überbringen, wie er es noch am Abend vorher begeistert beschlossen hatte. Und nicht um Wunder war es ihm zu tun, sondern nur um „die höhere Gerechtigkeit“, die seinem Glauben nach verletzt worden war. Ja, das war es, was so grausam sein Herz verwundet hatte. Und was war denn dabei so wunderlich, daß diese „Gerechtigkeit“ in ihm, wie die Dinge nun einmal lagen, zur Erwartung eines Wunders wurde, das unverzüglich von dem irdischen Staube seines vergötterten Staretz ausgehen werde? Das erwarteten doch alle im Kloster, selbst die, vor deren großem Verstande Aljoscha sich beugte, wie zum Beispiel Pater Paissij. Und so war es denn auch mit Aljoscha: ohne weiter durch irgendwelche Zweifel beunruhigt zu werden, nahmen seine Erwartungen dieselbe Form an, die die Erwartungen aller anderen hatten. Und lange schon hatte sich diese Erwartung in seinem Herzen zur vollen Überzeugung entwickelt, – lebte er doch schon ein ganzes Jahr lang im Kloster, in der unmittelbaren Nähe des Staretz. Gerechtigkeit, Gerechtigkeit erwartete er und nicht Wunder! Und siehe da – der, welcher nach seiner Zuversicht von allen auf der Welt am meisten erhöht werden sollte, derselbe erntete jetzt, statt ihm gebührender Ehre, nur Schmach und Spott! Warum? Wer hatte gerichtet? Wer konnte so richten? – Das waren die Fragen, die sein unerfahrenes und naives Herz quälten. Er konnte es nicht, ohne gekränkt zu sein, und nicht ohne Erbitterung ertragen, daß der Gerechteste aller Gerechten der lächerlichen und boshaften Verspottung durch eine so leichtfertige und weit unter ihm stehende Menge preisgegeben war. Nun, und mögen sich auch keine Wunder ereignen, möge das Erwartete sich auch nicht gleich verwirklichen – aber warum diese Unehre, dieser Schimpf, warum diese sofortige Verwesung, „die der Natur sogar zuvorgekommen ist,“ wie die boshaften Mönche sagten? Warum dieser „Fingerzeig Gottes“, auf den sie zusammen mit Pater Ferapont im Triumph hinwiesen, und warum glaubten sie, daß sie das Recht hätten, so zu urteilen? Wo blieb denn die Vorsehung und ihr Fingerzeig? Warum hält sie sich „im notwendigsten Augenblick“ verborgen, geradezu als wenn sie sich selbst den blinden und tauben und unbarmherzigen Naturgesetzen unterordnen wollte, dachte Aljoscha.
Das war es, warum sein Herz blutete, und wie ich schon sagte, handelte es sich für ihn zuerst um den über alles geliebten Menschen, um die Person des Staretz, die jetzt beschimpft und entehrt worden war! Mag dieser Kummer meines Jünglings leichtfertig und unverständig gewesen sein, doch wiederhole ich zum drittenmal: Ich bin froh, daß er in solch einer Minute nicht zu verständig war, denn der Verstand kommt schon mit der Zeit bei jedem nicht gar zu dummen Menschen; doch wenn in einer so außergewöhnlichen Minute im Herzen eines Jünglings sich keine Liebe erweist, wann soll sie dann kommen? Bei der Gelegenheit will ich noch eine sonderbare Erscheinung nicht verschweigen, die an diesem für Aljoscha verhängnisvollen und verwirrenden Tage in seinem Kopfe auftauchte. Dieses neue, sich kundgebende Etwas bestand in einigen quälenden Eindrücken, die in der Erinnerung an sein gestriges Gespräch mit Iwan in ihm auftauchten. Und das noch gerade jetzt! Oh, nicht daß sie die Grundlagen seines Glaubens in seiner Seele wanken gemacht hätten! Er liebte seinen Gott und glaubte unerschütterlich an ihn, wenn er sich auch jetzt gegen seinen Urteilsspruch aufgelehnt hatte. Doch immerhin war in seiner Seele eine trübe und quälende Erinnerung an das Gespräch mit seinem Bruder zurückgeblieben, und plötzlich stieg sie wieder in seiner Seele auf und nahm ihn allmählich mehr und mehr gefangen.
Als es zu dämmern begann, bemerkte Rakitin, der durch das Wäldchen der Einsiedelei auf das Kloster zuging, Aljoscha unter einem Baum liegend: er lag mit dem Gesicht zur Erde, unbeweglich und wie schlafend. Rakitin trat zu ihm und rief ihn an.
„Du hier, Alexei? Ja, ist es denn mit dir ...“ rief er verwundert aus, doch stockte er mitten im Satz.
Er wollte sagen: „Ist es denn mit dir schon so weit gekommen?“
Aljoscha sah ihn nicht an, doch an einer kurzen Bewegung erriet Rakitin sofort, daß er ihn gehört und verstanden hatte.
„Was ist denn mit dir passiert?“ fuhr er verwundert fort zu fragen.
Aber seine Verwunderung machte auf seinem Gesichte bald einem Lächeln Platz, das immer spöttischer wurde.
„So hör doch, ich suche dich bereits seit zwei Stunden. Du warst dort plötzlich verduftet. Aber was tust du denn hier? Was machst du für heilige Dummheiten? Sieh mich doch wenigstens an ...“
Aljoscha erhob seinen Kopf, setzte sich auf und lehnte sich mit dem Rücken an den Baumstamm. Er weinte nicht, doch sein Gesicht drückte Leiden aus, und seinen Augen sah man die Erregung an, in der er sich befand. Er sah übrigens nicht zu Rakitin auf, sondern blickte zur Seite.
„Hör mal, dein Gesicht hat sich ja ganz verändert. Von deiner berühmten früheren Engelskeuschheit ist nichts mehr zu sehen. Hast dich wohl über irgend jemanden geärgert, nicht? Hat man dich etwa gekränkt?“
„Laß mich!“ sagte Aljoscha plötzlich, vermied es aber, ihn anzusehen und winkte nur müde mit der Hand ab.
„Oho, also so sind wir! Man fängt also schon wie die übrigen Sterblichen an, anzuschnauzen. Und das soll ein Ebenbild der Engel sein! Nun, Aljoschka, du hast mich aber in Erstaunen gesetzt, das laß dir gesagt sein! Ich spreche jetzt aufrichtig. Schon lange wundere ich mich hier über nichts mehr. Übrigens habe ich dich doch immer für einen gebildeten Menschen gehalten ...“
Endlich sah ihn Aljoscha an, tat es aber so zerstreut, als ob er ihn gar nicht verstanden hätte.
„Bist du denn wirklich darum so, weil dein Alter stinkt? Glaubtest du denn im Ernst, daß er alte Wunder wieder auffrischen werde?“ fragte Rakitin, in immer größere Verwunderung geratend.
„Ich glaubte, glaube, will glauben und werde glauben und was willst du noch?“ fragte Aljoscha, gereizt auffahrend.
„Aber ganz und gar nichts, mein Täubchen. Pfui, Teufel, an diesen Rummel glaubt ja selbst ein dreizehnjähriger Schuljunge nicht mehr. Übrigens, Teufel ... Du hast dich also über deinen Gott geärgert, hast dich jetzt empört? – Um eine Rangerhöhung seid ihr gekommen, habt keinen Orden zu den Feiertagen gekriegt! Ach, ihr!“
Aljoscha sah Rakitin lange mit halbzugekniffenen Augen an, und plötzlich blitzte etwas in seinen Augen auf ... es war aber nicht Wut über Rakitin.
„Ich empöre mich nicht gegen meinen Gott, nur ‚will ich seine Welt nicht annehmen‘,“ sagte Aljoscha mit einem verzerrten Lächeln.
„Wie willst du denn diese Welt nicht annehmen?“ Rakitin dachte ein wenig über das Gesagte nach. „Was ist nun das wieder für ein Gallimatthias?“
Aljoscha schwieg.
„Na, genug von den Dummheiten, jetzt zur Sache: Hast du heute gegessen oder nicht?“
„Ich weiß nicht ... ich glaube.“
„Du mußt dich unbedingt stärken, nach deinem Gesicht zu urteilen. Wenn man dich ansieht, packt einen ja das wahre Mitleid. Du hast ja auch in der Nacht nicht geschlafen; wie ich hörte, habt ihr da eine Sitzung gehabt. Und darauf dieses ganze Drunter und Drüber und Gequack noch dazu ... Du wirst wohl höchstens ein Stückchen Hostie gekaut haben. Ich habe bei mir in der Tasche ein Stück Wurst, habe sie mir in der Stadt, auf dem Wege hierher, auf alle Fälle eingesteckt, aber du wirst wohl keine Wurst ...“
„Gib sie her.“
„Ah! Also so bist du! Also schon ganz Aufruhr, Barrikaden! Nun, Bruder, es gibt Sachen, die doch nicht so ganz zu verachten sind. Gehen wir zu mir ... Ich möchte mir selbst ein Schnäpschen hinter die Binde gießen, bin todmüde. Für Schnaps würdest du dich natürlich nicht entschließen ... oder würdest du nicht schließlich auch ein Gläschen trinken?“
„Gib auch Schnaps.“
„Sieh mal an! Das ist ja wunderbar, Bruder!“ Rakitin betrachtete ihn neugierig. „Nun, so oder so, Schnaps und Wurst, das ist eine herrliche Sache, das muß man nicht versäumen. Komm, gehen wir!“
Aljoscha erhob sich schweigend von der Erde und folgte Rakitin.
„Wenn das dein Bruder Wanitschka sehen würde, der würde sich wundern! Übrigens, dein Brüderchen Iwan Fedorowitsch ist heute morgen nach Moskau gefahren, weißt du das?“
„Ich weiß es,“ sagte Aljoscha teilnahmslos. Und plötzlich tauchte vor seinem Geiste die Gestalt seines Bruders Dmitrij auf, aber es war nur ein Auftauchen, und obgleich er sich dabei einer sehr eiligen Sache, einer Sache, die keine Minute länger aufgeschoben werden durfte, irgendeiner Schuld, einer furchtbaren Verpflichtung erinnerte, so machte diese Erinnerung doch auf ihn durchaus keinen Eindruck, sie reichte nicht bis in sein Herz und verflog im selben Augenblick wieder aus seinem Gedächtnis. Später aber erinnerte sich Aljoscha deutlich dieses Augenblicks.
„Dein Brüderchen Wanitschka hat sich über mich einmal geäußert, ich sei ‚ein untalentierter liberaler Sack‘. Auch du hast einmal nicht an dich halten können und hast mir zu verstehen gegeben, daß ich ‚unehrlich‘ sei ... Schön! Ich werde aber jetzt einmal auch eure Begabung und Ehrenhaftigkeit auf die Probe stellen.“ (Den Schluß murmelte Rakitin leise vor sich hin.)
„Pfui Teufel, hör mal!“ sagte er wieder laut „gehen wir um das Kloster herum und auf dem Fußpfad gerade zur Stadt ... Hm! Ich muß übrigens zur Chochlakowa gehen. Stelle dir vor: Ich schrieb ihr alles, was sich bei uns ereignet hatte, und sie antwortet mir mit einem Briefchen – diese Dame liebt über alles, Briefchen zu schreiben –, daß sie von einem so ehrenwerten Greise, wie der Staretz Sossima, nie eine solche Handlung erwartet hätte! Sie hat tatsächlich ‚eine solche Handlung‘ geschrieben. Sie ist also gleichfalls empört über ihn. Ach, ihr alle! Halt!“ rief er wieder und blieb plötzlich stehen, packte Aljoscha an der Schulter und hielt ihn auf: „Weißt du, Aljoscha,“ er sah ihm fragend in die Augen, ganz unter dem Eindruck eines plötzlich in ihm auftauchenden Gedankens, und obgleich er äußerlich lächelte, so fürchtete er sich doch, seinen unerwarteten und neuen Gedanken laut auszusprechen, – so wenig wagte er, an die für ihn wunderbare und unerwartete Stimmung Aljoschas zu glauben, in der er ihn jetzt sah. „Aljoschka,“ sagte er endlich schüchtern und vorsichtig. „Aljoschka, weißt du, wohin wir jetzt am besten gehen?“
„Mir ist es gleich ... wohin du willst.“
„Gehen wir zu Gruschenka, was? Kommst du?“ fragte Rakitin, fast zitternd in erregter Erwartung.
„Gehen wir zu Gruschenka,“ antwortete sofort und ruhig Aljoscha.
Dieses ruhige und schnelle Einverständnis kam so unerwartet für Rakitin, daß er fast zurückschrak.
„Nun ja, warum auch nicht!“ meinte er verdutzt, griff aber plötzlich Aljoscha unter den Arm und zog ihn schnell mit sich fort, in großer Angst, daß dieser seinen Entschluß ändern könnte. Sie gingen schweigend zur Stadt. Rakitin fürchtete sich sogar, zu sprechen.
„Froh wird sie sein, riesig froh ...“ murmelte er, doch verstummte er wieder.
Doch nicht nur, um Gruschenka eine Freude zu bereiten, führte er Aljoscha zu ihr. Er war ein „gediegener“ Mensch, – ohne ein für ihn vorteilhaftes Ziel unternahm er nichts. Hierbei verfolgte er nun einen doppelten Zweck: erstens, sich zu rächen, – das heißt „die Schande des Gerechten“ und „den Fall“ Aljoschas „vom Heiligen zum Sünder“ zu erleben, worüber er sich schon im voraus freute. Und zweitens verfolgte er ein für sich sehr vorteilhaftes, materielles Ziel, wovon später noch die Rede sein wird.
„Also, solch ein Augenblick ist das,“ dachte er bei sich boshaft frohlockend, „wollen wir ihn am Schopf fassen, diesen Augenblick, denn er wird uns sehr gelegen kommen.“