„Gott sei Dank, daß er mich nicht nach Gruschenka gefragt hat,“ dachte seinerseits Aljoscha, als er das Haus des Vaters verließ und sich zu Frau Chochlakoff auf den Weg machte, „sonst hätte ich ja schließlich von der gestrigen Begegnung mit Gruschenka erzählen müssen.“ Aljoscha fühlte es schmerzlich, daß die Widersacher sich über Nacht mit neuen Kräften von neuem erhoben und ihre Herzen sich mit dem anbrechenden Tage von neuem verhärtet hatten. „Der Vater ist gereizt und wütend, er hat sich jetzt etwas ausgedacht und scheint dabei bleiben zu wollen. Und Dmitrij? Der wird über Nacht gleichfalls einen Entschluß gefaßt haben und wird wahrscheinlich ebenso gereizt und wütend sein ... und wer weiß, was er sich noch ausgedacht hat ... O, unbedingt muß ich mir heute noch die Zeit nehmen, ihn, einerlei wo, aufzusuchen. Ja, das muß ich unbedingt tun ...“
Doch Aljoscha hatte nicht lange Zeit zum Nachdenken: unterwegs stieß ihm etwas zu, das anscheinend nicht so wichtig war, ihn aber doch ungewöhnlich erschütterte. Kaum war er über den großen Platz gegangen und in eine Nebenstraße eingebogen, um in die Michailoff-Straße zu gelangen – die von der Großen Straße nur durch einen kanalartigen Graben getrennt war (unsere ganze Stadt ist von derartigen Kanälen oder breiten Gräben durchzogen), als er unten am Graben, nicht weit von einer Brücke, eine Gruppe kleiner Schüler, Jungen von etwa neun bis zwölf Jahren bemerkte. Sie waren auf dem Heimweg aus der Schule und trugen ihre Ränzchen auf dem Rücken oder hatten lederne Büchersäcke an Riemen über die Schulter gehängt; einige waren nur in Jäckchen, andere in Mäntelchen, und ein paar von ihnen hatten hohe Stulpenstiefelchen an, mit Falten in den Stiefelschaften, auf die kleine Knaben stets sehr stolz sind, doch die eigentlich nur wohlhabende Eltern, die ihre Kinder verwöhnen, kaufen können. Die ganze kleine Gesellschaft sprach äußerst lebhaft: man schien sich zu beraten. Aljoscha konnte niemals teilnahmslos an kleinen Kindern vorübergehen (in Moskau war er immer stehen geblieben, um sie zu beobachten), und obwohl er am meisten die Dreijährigen liebte, so gefielen ihm doch auch kleine Schuljungen von zehn Jahren sehr. Darum aber verspürte er jetzt große Lust, so sehr er auch in Sorge war, zu ihnen zu gehen und mit diesen Jungen etwas zu sprechen. Er näherte sich ihnen und betrachtete ihre rosigen, lebhaften Gesichtchen; plötzlich fiel ihm auf, daß ein jeder von ihnen einen Stein in der Hand hielt, einige sogar zwei. Zugleich bemerkte er, daß auf der anderen Seite des Kanals, ungefähr dreißig Schritt von der erregten Gruppe, am Zaun noch ein Knabe stand, gleichfalls ein kleiner Schüler, der auch solch ein Büchertäschchen trug, etwa zehn Jahre alt war oder etwas jünger, ein bleicher kränklicher Kleiner mit dunklen, blitzenden Augen. Er stand und beobachtete aufmerksam die Gruppe der sechs anderen kleinen Schüler, die offenbar seine Schulkameraden waren, doch mit denen er in Fehde zu liegen schien. Aljoscha trat zu ihnen heran und sagte, an einen blonden rotbackigen Knaben in schwarzem Jäckchen sich wendend, indem er ihn betrachtete:
„Als ich solch eine kleine Büchertasche trug, wie du sie hast, trug man sie auf der linken Seite, um bequem mit der rechten Hand hineinlangen zu können; du aber trägst die Tasche auf der rechten Seite, so kannst du sie doch nicht so leicht erreichen.“
Aljoscha hatte ganz unbeabsichtigt mit dieser sachlichen Bemerkung begonnen, ohne zu wissen, daß ein Erwachsener, wenn er das Zutrauen eines Kindes oder gar einer ganzen Gruppe Kinder gewinnen will, gerade so ernst und sachlich beginnen und sie unbedingt als vollkommen gleichstehend behandeln muß; Aljoscha hatte aus dem Instinkt heraus das Richtige getroffen.
„Aber er ist doch ein Linkpfot,“ antwortete sofort ein anderer Knabe, ein gesunder, mutiger Junge von etwa elf Jahren. Die Augen der übrigen fünf richteten sich forschend auf den Jüngling in der Mönchskutte.
„Er – er wirft auch die Steine mit der linken Hand,“ bemerkte ein dritter.
In dem Augenblick flog auf die Gruppe ein Stein, streifte nur leicht den „Linkpfot“, war aber geschickt und kräftig geschleudert worden. Er kam von dem kleinen Knaben, der auf der anderen Seite des Grabens stand.
„Gib ihm eins, ziel aber gut, Ssmuroff!“ riefen sofort alle erregt dem „Linkpfot“ zu.
Doch Ssmuroff (der „Linkpfot“) ließ nicht lange warten und zahlte sofort heim; er zielte und schleuderte seinen Stein auf den Knaben jenseits des Grabens, traf ihn aber nicht: der Stein schlug an den Zaun. Der Knabe jenseits des Grabens schleuderte sofort noch einen Stein auf die feindliche Gruppe und traf diesmal – Aljoscha ziemlich schmerzhaft an der Schulter: er hatte auch ersichtlich gerade auf ihn gezielt. Seine Taschen waren voll von Steinen, das konnte man auf dreißig Schritt an seinen abstehenden Paletotseiten erkennen.
„Er hat auf Sie gezielt, absichtlich gerade auf Sie! Sie sind doch ein Karamasoff, nicht wahr, ein Karamasoff?“ schrien unter erregtem Lachen die Knaben. „Jetzt aber alle auf einmal! Eins, zwei, drei!“
Und sechs Steine flogen auf Kommando aus der Gruppe über den Graben. Ein Stein traf den Jungen am Kopf und er fiel hin, doch sprang er im Augenblick wieder auf und fing an, wie rasend geworden, seine Steine auf die Feinde zu schleudern. Es begann ein lebhaftes Bombardement; es zeigte sich, daß auch einige von den Sechsen Steine vorrätig in den Taschen hatten.
„Was fällt euch ein! Schämt ihr euch nicht! Sechs gegen einen, ihr könnt ihn ja totschlagen!“ rief Aljoscha erschrocken aus.
Er sprang schnell vor, den fliegenden Steinen entgegen, um so mit seinem Körper den Kleinen jenseits des Grabens zu schützen. Drei oder vier von den Jungen hielten eine Minute lang inne.
„Er hat selbst angefangen!“ rief ein Kleiner in einer roten Bluse mit hoher Kinderstimme, „er ist ein Schuft, er hat neulich Krassotkin mit dem Federmesser gestochen, so daß Blut floß. Krassotkin wollte nur nicht klagen gehn, ihn aber muß man durchprügeln ...“
„Warum das? Ihr neckt ihn wahrscheinlich?“
„Ha! jetzt hat er Sie wieder mit einem Stein in den Rücken getroffen! Er kennt Sie!“ schrien die Kinder. „Jetzt zielt er nur auf Sie, nicht auf uns! Nun aber alle Mann hoch, schieß gut, Ssmuroff!“
Und wieder begann das Bombardement, diesmal aber recht erbittert. Da schlug ein Stein den kleinen Knaben vor die Brust: er schrie auf und lief weinend den Berg hinauf zur Michailoff-Straße. In der Gruppe erhob sich sofort ein Triumphgeschrei: „Acha hat Angst bekommen, läuft fort, Bastwisch!“
„Sie wissen nicht, Karamasoff, was das für ein gemeiner Junge ist, ihn totschlagen wäre noch viel zu wenig,“ sagte der Knabe in der Jacke, anscheinend der älteste von den Sechsen.
„Wieso?“ fragte Aljoscha, „petzt er etwa?“
Die Knaben tauschten gleichsam spöttische Blicke untereinander aus.
„Gehen Sie auch in die Michailoffstraße?“ fragte derselbe Knabe. „So holen Sie ihn doch ein ... Sehen Sie, er ist wieder stehen geblieben, er wartet und sieht gerade auf Sie.“
„Ja, er sieht gerade auf Karamasoff, auf Karamasoff!“ riefen sofort auch die anderen.
„Fragen Sie ihn, ob er solch einen Badequast, solch einen rötlich-gelben Lindenbastwisch, mit dem man scheuert oder sich wäscht, ob er solch einen Bastwisch liebt? Hören Sie, fragen Sie ihn gerade so!“
Alle lachten. Aljoscha blickte sie an, und sie blickten wiederum ihn an.
„Gehn Sie nicht, er wird Sie hauen,“ sagte ihn warnend der kleine Ssmuroff.
„Nach dem Bastwisch werde ich ihn nicht fragen, denn wahrscheinlich neckt ihr ihn aus irgendeinem Grunde gerade damit, aber ich werde ihn fragen, warum ihr ihn so haßt ...“
„Fragen Sie nur, fragen Sie nur!“ war die lachende Antwort.
Aljoscha ging über die Brücke und dann den Berg hinauf, längs dem Zaun, gerade auf den von seinen Kameraden geächteten Knaben zu.
„Seien Sie vorsichtig!“ schrien ihm noch die anderen warnend nach, „er hat keine Angst vor Ihnen, er wird Sie plötzlich stechen, hinterrücks ... wie er Krassotkin gestochen hat.“
Der Knabe erwartete ihn, ohne sich zu rühren. Als Aljoscha sich ihm näherte, sah er vor sich einen Knaben von höchstens neun Jahren, eines von den schwächlichen und kleinen Kindern, mit einem bleichen und mageren, länglichen Gesichtchen, mit großen, dunklen und böse ihm entgegenblickenden Augen. Sein Mäntelchen war schon ziemlich alt und vertragen und viel zu eng und zu knapp: er war aus ihm bereits ganz herausgewachsen. Die bloßen Hände hingen aus kurzgewordenen Ärmelchen heraus. Auf dem rechten Knie hatten die Höschen einen großen Flecken, und der rechte Stiefel hatte vorn bei der großen Zehe ein großes Loch, das stark mit Tinte eingeschmiert war. Beide Taschen seines Mäntelchens waren voll von Steinen. Aljoscha blieb zwei Schritt vor ihm stehen und blickte ihn fragend an. Der Kleine, der an Aljoschas Augen erriet, daß dieser ihn nicht schlagen werde, schien sich ein wenig zu schämen, und er begann sogar ungefragt zu sprechen:
„Ich bin allein, und sie sind sechs ... Ich werde sie alle ganz allein verprügeln,“ sagte er mit blitzenden Augen.
„Der eine Stein muß dich sehr schmerzhaft getroffen haben,“ bemerkte Aljoscha.
„Ich aber habe Ssmuroff an den Kopf getroffen!“ rief der Knabe triumphierend.
„Sie sagten mir, daß du mich kennst und aus einem besonderen Grunde absichtlich auf mich mit den Steinen geworfen hättest?“ fragte Aljoscha.
Der Knabe blickte ihn finster an.
„Ich kenne dich nicht. Kennst du mich denn?“ fuhr Aljoscha in seinen Fragen fort.
„Gehn Sie fort!“ schrie ihn plötzlich der Knabe gereizt an, ohne aber sich selbst vom Platz zu rühren, als ob er noch etwas erwartete, und wieder blitzten seine dunklen Augen böse auf.
„Gut, ich werde fortgehen,“ sagte Aljoscha, „nur kenne ich dich nicht, und du sollst nicht glauben, daß ich dich etwa necken will. Deine Kameraden sagten mir, wie du geneckt wirst, ich aber will dich wirklich nicht necken, nun, leb wohl!“
„Kuttenmönch, hosenloser Kuttenmönch!“ höhnte der Knabe geflissentlich und verfolgte ihn immer noch mit demselben boshaften, herausfordernden Blick; er stellte sich auch schon in Positur, da er offenbar glaubte, Aljoscha werde sich unbedingt auf ihn stürzen – doch Aljoscha blickte sich nur einmal nach ihm um und ging. Er hatte aber noch nicht drei Schritte gemacht, als ihn ein ziemlich großer Stein, der größte, den der Knabe gehabt hatte, schmerzhaft in den Rücken traf.
„Also hinterrücks? Dann ist es also wahr, was sie von dir gesagt haben, daß du hinterrücks überfällst?“ fragte Aljoscha, der stehen geblieben war und sich zurückwandte, doch diesmal schleuderte der Knabe mit wahrer Wut wieder einen Stein auf Aljoscha und würde ihn gerade ins Gesicht getroffen haben, wenn Aljoscha nicht den Arm zum Schutz erhoben hätte: so schlug der Stein an seinen Ellenbogen.
„Schämst du dich nicht! Was habe ich dir getan?“ rief Aljoscha.
Der Knabe wartete schweigend und herausfordernd, wie es schien, nur darauf, daß Aljoscha sich jetzt auf ihn stürzen werde; als er aber sah, daß dieser es selbst jetzt nicht tat, geriet er wie ein kleines Tier außer sich vor Wut. Er stürzte sich auf Aljoscha und packte, noch bevor dieser sich rühren konnte, mit beiden Händen dessen linke Hand und biß krampfhaft in den Mittelfinger. Wie Klammern hielten die kleinen Zähne den Finger (etwa zehn Sekunden lang) fest. Aljoscha schrie auf vor Schmerz und versuchte mit aller Gewalt seinen Finger herauszuziehen. Endlich ließ ihn der Knabe los und sprang geschwind auf die frühere Entfernung zurück. Das Fleisch des Fingers war durchgebissen, gerade beim Nagel, tief, bis auf den Knochen, und blutete stark. Aljoscha zog sein Taschentuch hervor und umwickelte fest seine verwundete Hand. Eine gute Minute lang war er damit beschäftigt.
Während dieser ganzen Zeit erwartete der Knabe stillschweigend, was nun kommen werde. Da erhob endlich Aljoscha seinen stillen Blick und richtete ihn auf den Knaben.
„Nun gut,“ sagte er, „du hast mich schmerzhaft gebissen, nun ist es genug. Jetzt sage mir aber, was ich dir getan habe?“
Der Knabe blickte ihn verwundert an.
„Ich kenne dich nicht, ich sehe dich zum erstenmal,“ fuhr Aljoscha ebenso ruhig fort, „aber es kann doch nicht sein, daß ich dir nichts Böses getan habe, denn umsonst würdest du mir doch nie solch einen Schmerz zugefügt haben. So sag doch, was ich dir getan und womit ich das von dir verdient habe?“
Statt zu antworten, fing der Knabe laut zu weinen an, und plötzlich lief er fort. Aljoscha ging ihm langsam nach in die Michailoffstraße, und lange noch sah er, wie weit vor ihm der Knabe lief, ohne sich umzusehen und ohne im Laufen innezuhalten, und wie er wahrscheinlich immer noch laut weinte. Er nahm sich fest vor, sobald er die Zeit hätte, den Kleinen aufzusuchen und die Erklärung seines sonderbaren Hasses zu fordern.