Ganz zuerst ging Aljoscha zu seinem Vater. Als er sich dem Hause näherte, fiel ihm ein, daß ihn der Vater gebeten hatte, möglichst vorsichtig einzutreten, damit sein Bruder Iwan es nicht höre oder sonstwie bemerke. „Warum wohl?“ fragte sich Aljoscha. „Wenn er mir allein etwas heimlich zu sagen hat, warum soll ich denn deswegen heimlich eintreten? Vielleicht hatte er es gestern in der Erregung anders gemeint, sich aber nur nicht richtig ausgedrückt,“ dachte er schließlich. Trotzdem war er froh, als ihm Marfa Ignatjewna, die ihm die Hofpforte aufschloß (Grigorij war, wie sich zeigte, unwohl und lag zu Bett), auf seine Frage mitteilte, daß Iwan Fedorowitsch schon vor zwei Stunden fortgegangen sei.
„Und der Vater?“
„Sind aufgestanden, trinken Kaffee,“ antwortete Marfa Ignatjewna etwas trocken.
Aljoscha trat ein. Der Alte saß in Hausschuhen und in einem alten Mantel allein am Tisch und sah zum Zeitvertreib, übrigens ohne große Aufmerksamkeit, irgendwelche Rechnungen durch. Er war ganz allein im Hause; Ssmerdjäkoff war einkaufen gegangen. Doch die Rechnungen schienen ihn nicht sonderlich zu beschäftigen. Er war allerdings früh aufgestanden und versuchte, munter zu sein, denn er wollte auf keinen Fall krank scheinen, doch sah er noch müde und angegriffen aus. Seine Stirn, auf der sich über Nacht die blutunterlaufenen Flecke noch verdunkelt hatten, war mit einem roten Tuch umwunden. Die Nase war gleichfalls über Nacht gehörig angeschwollen, und auch auf ihr zeichneten sich einige weniger bedeutende blutunterlaufene Flecke ab, die dem Gesicht entschieden ein ganz besonders gereiztes und böses Aussehen verliehen. Der Alte wußte das auch selbst und blickte daher dem eintretenden Aljoscha nichts weniger als freundlich entgegen.
„Der Kaffee ist kalt,“ sagte er kurz, „biete ihn dir auch nicht an. Ich sitze heute selbst auf dem Trockenen, das heißt, werde nichts als Fastenfischsuppe genießen, fordere daher auch niemanden zum Essen auf. Wozu hast du dich herbemüht?“
„Um mich nach Ihrer Gesundheit zu erkundigen,“ sagte Aljoscha.
„So, und außerdem hab ich dir gestern befohlen, herzukommen. Solch ’n Blödsinn. Hast aber umsonst geruht, dich zu bemühen. Übrigens wußt ich’s ja, daß du dich sofort ranschleppen wirst ...“
Alles, was er sprach, sagte er im feindseligsten Tone. Er erhob sich vom Stuhl und blickte besorgt in den Spiegel (vielleicht zum vierzigstenmal an diesem Morgen), um wieder seine Nase zu betrachten. Auch versuchte er, das rote Tuch auf der Stirn zurechtzuzupfen, damit es etwas hübscher aussähe.
„Ein rotes ist doch immerhin etwas besser, im weißen sieht man ja sofort wie ein wandelndes Lazarett aus,“ bemerkte er bissig. „Nun, wie ist’s denn dort bei dir? Was macht dein Alter?“
„Es geht ihm sehr schlecht; er wird vielleicht heute noch sterben,“ antwortete Aljoscha; doch der Vater hörte ihm schon nicht mehr zu und hatte auch seine Frage sofort wieder vergessen.
„Iwan ist fortgegangen,“ sagte er plötzlich. „Er macht jetzt Mitjka mit aller Gewalt die Braut abspenstig – einzig darum lebt er hier,“ fügte er mit boshaft verzogenen Lippen hinzu und blickte Aljoscha an.
„Hat er das wirklich Ihnen selbst gesagt?“ fragte Aljoscha.
„Jawohl und schon vor langer Zeit. Was glaubst du wohl: vor nicht weniger als drei Wochen hat er’s selbst ausgesprochen. Ist doch nicht hergekommen, um mich heimlich aufzuspießen! Zu irgendeinem Zweck muß er doch gekommen sein?“
„Warum, weshalb reden Sie so?“ fragte Aljoscha erschrocken und verwirrt.
„Um Geld bittet er mich nicht, das ist wahr; aber er wird ja auch von mir keinen Heller zu riechen bekommen. Ich, mein liebster Alexei Fedorowitsch, ich beabsichtige nämlich, möglichst lange hier in dieser Welt zu leben, das lassen Sie sich ein für allemal gesagt sein, damit Sie’s nur wissen; darum aber brauche ich jede Kopeke, und je länger ich lebe, um so nötiger habe ich sie,“ fuhr er fort, im Zimmer auf und ab schreitend, die Hände in den Taschen seines breiten, gelben, befleckten Sommermantels. „Jetzt bin ich immerhin noch ein Mann, hab’ erst fünfundfünfzig auf dem Buckel; und will mich noch mindestens zwanzig Jahre zu den Männern zählen. Wenn ich dann alt werde und widerlich – dann werden sie doch nicht mehr gutwillig zu mir kommen; nun, und dann wird man’s eben mit den Gelderchen machen müssen. Also baue ich jetzt vor und sammle, sammle – für mich allein, mein verehrter Herr Sohn, damit Sie’s nur beizeiten wissen; denn ich beabsichtige in meiner Liederlichkeit bis zu meinem Ende zu leben, das lassen Sie sich gesagt sein. Liederlich zu leben, ist doch am schönsten; alle schimpfen darüber, und doch leben sie alle ebenso, bloß tun sie es alle heimlich, ich aber tue es öffentlich. Wegen dieser meiner Offenherzigkeit schimpfen ja jetzt sämtliche Schweine über mich. Für dein Paradies aber danke ich untertänigst, das kann mir gestohlen werden, damit du’s nur weißt, mein lieber Alexei Fedorowitsch; und ’s wäre ja auch für einen anständigen Menschen unanständig, dorthin zu kommen, selbst wenn es so etwas geben würde. Meiner Meinung nach schläft man einfach ein und wacht nicht mehr auf, und weiter gibt es nichts. Wollt ihr meiner noch gedenken, Seelenmessen für mich lesen lassen, na, meinetwegen, wenn’s euch Spaß macht; wollt ihr nicht, na, dann hol euch allesamt der Teufel. Das ist meine ganze Philosophie. Gestern bei Tisch redete Iwan nicht schlecht, wenn wir auch alle betrunken waren. Iwan ist ein Prahlhans, und von so ’ner großen Gelehrsamkeit oder Bildung merk ich nichts bei ihm ... er lächelt bloß und macht sich innerlich lustig über dich, versteht aber zu schweigen – das ist alles, was er kann.“
Aljoscha hörte zu und schwieg.
„Warum spricht er nicht mit mir? Spricht er aber mal mit mir, so verstellt er sich ... ’n Schuft ist dein Iwan! Gruschenka aber werde ich heiraten, sobald ich nur will. Denn mit Geld in der Tasche braucht man nur zu wollen, mein verehrter Alexei Fedorowitsch, und alles geschieht, was man will. Das aber ist es ja, was Iwan fürchtet, und darum bewacht er mich hier, damit ich nicht heirate, und darum hetzt er auch Dmitrij, daß er Gruschenka nehme. Auf diese Weise will er mich von Gruschenka fernhalten – als ob ich ihm Geld hinterließe, wenn ich sie nicht heirate! – und andererseits, wenn Mitjka die Gruschenka heiratet, so fällt ihm noch dessen reiche Braut zu; siehst du jetzt, was für Berechnungen er hat! ’n Schuft ist dein ganzer Iwan!“
„Sie sind heute noch von dem gestern Erlebten gereizt; Sie müßten sich etwas erholen, zu Bett gehen,“ sagte Aljoscha.
„Sieh, wenn du mir das sagst,“ bemerkte plötzlich der Alte, als ob es ihm zum erstenmal aufgefallen wäre, „dann ärgere ich mich nicht über dich; auf Iwan aber, wenn er mir dasselbe gesagt hätte, würde ich sofort spinnwütend geworden sein. Nur mit dir allein bin ich ein paar Augenblicke lang gut gewesen, denn sonst bin ich ja doch ein böser Mensch.“
„Nein, Sie sind kein böser Mensch, Sie sind nur ein verdorbener Mensch,“ sagte Aljoscha lächelnd.
„Hör, ich wollte schon diesen Räuber Mitjka heute einsperren lassen, und eigentlich weiß ich auch jetzt noch nicht genau, was ich tun werde. Heutzutage ist es ja wohl höchst modern, Väter und Mütter für ein Vorurteil zu halten; aber nach dem Gesetz, glaube ich wenigstens, ist es selbst in unserer aufgeklärten Zeit noch nicht schwarz auf weiß erlaubt, seine Väter an den Haaren zu reißen, auf dem Fußboden herumzuschleifen und mit den Absätzen ins Gesicht zu treten, dazu in deren eigenem Hause! Und dann sich noch zu brüsten, später wiederzukommen, um einen ganz totzuschlagen, dazu alles in Gegenwart von Zeugen! Ich könnte ihn, wenn ich wollte, für das Gestrige sofort einsperren lassen.“
„Aber Sie werden es doch nicht tun?“
„Iwan riet mir ab. Ich pfeife natürlich auf Iwan; aber mir ist dabei etwas anderes eingefallen ...“
Er näherte sich Aljoscha, beugte sich zu ihm nieder und fuhr in geheimnisvollem Geflüster fort:
„Lasse ich den Schuft festsetzen, so erfährt sie es und läuft sofort zu ihm; hört sie dagegen, daß er mich, den schwachen Greis, halb totgeschlagen hat, so ist es möglich, daß sie ihm den Rücken kehrt und mich besuchen kommt ... Wir kennen doch die Weiber – immer das Entgegengesetzte! Itsch, dann erst recht! Ich kenne sie wie meine fünf Finger! Aber willst du nicht ’nen kleinen Kognak? Trink mal ’n bissel Kaffee; er ist zwar nur lauwarm, aber er kann dir nicht schaden; werde dir ein Viertelgläschen hineingießen, das gibt dem Zeug ’nen andern Geschmack.“
„Nein, danke, nicht nötig. Dieses Brötchen werde ich mir in die Tasche stecken, wenn Sie erlauben,“ sagte Aljoscha und steckte sich ein Dreikopeken-Franzbrot in die Tasche seiner Kutte. „Und auch Sie sollten heute lieber keinen Kognak trinken,“ meinte er mit einem etwas besorgten Blick auf das Gesicht des Vaters.
„Du hast recht, er reizt nur und gibt keine Ruh. Aber ein einziges Gläschen ... Ich nehm ihn aus dem Schränkchen ...“
Er zog seine Schlüssel aus der Tasche und schloß das Schränkchen auf, goß sich ein Gläschen ein und schloß dann das Schränkchen wieder zu.
„So, Schluß damit. Von einem Kognak werde ich doch nicht krepieren.“
„Sie sind davon immerhin schon freundlicher geworden,“ meinte Aljoscha lächelnd.
„Hm! Dich liebe ich auch ohne Kognak; mit Schuften aber bin auch ich ’n Schuft. Wanjka will nicht nach Tschermaschnjä fahren – warum nicht? Mich bespionieren will er: ob ich Gruschenka viel gebe, wenn sie kommt. Alle sind Schufte! Und diesen Iwan erkenne ich überhaupt nicht an, will nichts von ihm wissen, kenne ihn überhaupt nicht! Von wo mag solch einer nur hergekommen sein? Gar nicht wie unsereiner; weiß der Teufel, was der Kerl für eine Seele hat. Und als ob ich ihm etwas hinterlassen werde! Nicht mal ’n Testament werde ich hinterlassen, damit ihr’s nur wißt, meine Verehrtesten! Mitjka aber, den schlag ich platt wie eine Schabe. Wenn diese schwarzen Biester nachts in mein Zimmer kommen, so knacke ich sie immer mit dem Pantoffel: es knallt, daß es eine wahre Freude ist, wenn man drauftritt und sie platzen. So wird auch dein Mitjka platzen, wenn ich ihn plattdrücke. Sage ‚dein Mitjka‘, weil du ihn ja so ins Herz geschlossen hast. Sieh, du liebst ihn; ich aber fürchte mich deshalb nicht, weil du ihn liebst. Wenn ihn aber Iwan liebte, so würde ich für mich, weil der ihn liebt, Angst bekommen. Aber Iwan liebt niemanden, Iwan ist kein Mensch wie wir; solche Menschen, wie Iwan, das, weißt du, sind nicht Menschen, das ist aufgewirbelter Staub ... kommt ein Wind, so wird der Staub verweht ... Gestern kam mir eine Dummheit in den Kopf, als ich dir befahl, heute herzukommen; wollte durch dich etwas von Mitjka erfahren ... wenn man ihm Eintausend, nun, sagen wir Zweitausend, hinschmisse, er hat doch nichts – ob er sich dann wohl dazu verstehen würde, sich von hier zu packen, aber ganz und gar, auf fünf Jahre oder besser auf fünfunddreißig, und ohne Gruschenka, versteht sich, sich vielmehr ganz von ihr loszusagen, was meinst du?“
„Ich ... ich werde ihn fragen ...“ stotterte Aljoscha leise. „Wenn Sie alle Dreitausend geben würden, so wäre es vielleicht möglich, daß er ...“
„Du lügst! Und jetzt ist es überhaupt nicht nötig zu fragen! Hab mich anders bedacht. Das war nur so’n dummer Gedanke, der mir gestern in die Dachstube kletterte. Nichts gebe ich, nicht einmal zu riechen kriegt er was, meine Gelderchen brauche ich für mich allein!“ Der Alte wurde wütend und fuchtelte mit den Armen. „Werde ihn auch ohnedem wie ’ne Schabe plattdrücken. Sag du ihm nichts, sonst faßt er womöglich noch Hoffnung. Und auch du hast hier nichts bei mir zu suchen, schieb mal ab! Und diese seine Braut, die Katerina Iwanowna, die er so sorgfältig die ganze Zeit vor mir verbirgt, wird die ihn nun nehmen oder nicht? Du gingst doch gestern zu ihr, wie?“
„Sie will ihn um keinen Preis verlassen.“
„Ja, gerade solche werden ja von den zärtlichen Damen geliebt, solche Durchgänger und Schufte! Taugen nichts, das sag ich dir, diese blassen Fräulein; da ist doch ganz was andres so’n ... Na, du solltest mal sehn, wenn ich seine Jahre hätte und mein damaliges Gesicht – denn mit achtundzwanzig Jahren war ich hübscher als er –, so würde ich ganz genau so wie er siegen und Triumphe feiern. Solch eine Kanaille! Aber Gruschenka kriegt er doch nicht, kriegt er doch nicht! ... Werde ihn vernichten, zu Dreck machen!“
Bei den letzten Worten wurde er wieder wild.
„Aber jetzt kannst auch du dich packen, hast nichts hier bei mir zu suchen,“ sagte er barsch.
Aljoscha trat zu ihm, um sich zu verabschieden, und küßte ihn auf die Schulter.
„Was soll das?“ fragte der Alte etwas verwundert. „Werden uns doch noch sehen. Oder glaubst du, daß wir uns nicht mehr sehen werden?“
„Durchaus nicht, ich tat es nur so, ganz zufällig.“
„Nun ja, auch ich sagte es nur so ...“ Der Alte blickte ihn an. „Hör mal, hör,“ rief er ihm plötzlich noch nach; „komm einmal zur Fischsuppe her, werde eine kochen lassen, eine besondere, pikfeine, nicht so wie heute, komm bestimmt! Komm morgen, hörst du, unbedingt morgen!“
Kaum war Aljoscha hinausgegangen, als der Alte wieder zu seinem Schränkchen trat und sich noch ein halbes Gläschen hinter die Binde goß.
„Jetzt aber Schluß!“ murmelte er, räusperte sich krächzend, schloß das Schränkchen wieder zu und steckte den Schlüssel in die Tasche; darauf ging er ins Schlafzimmer, legte sich erschöpft aufs Bett und schlief im Augenblick fest ein.