Frühmorgens, noch vor Sonnenaufgang, wurde Aljoscha geweckt. Der Staretz war aufgewacht und fühlte sich sehr schwach, wollte trotzdem aufstehen und sich in seinen Lehnstuhl setzen. Er war bei voller Besinnung; sein Gesicht jedoch war, wenn auch sehr ermüdet, hell und klar, fast könnte man sagen – freudig, und der Blick ruhig, heiter und willkommenheißend. „Möglich, daß ich den begonnenen Tag nicht überleben werde,“ sagte er zu Aljoscha; darauf wollte er unverzüglich beichten und das Abendmahl nehmen. Sein Beichtvater war von jeher Pater Paissij; nach dem Empfang der beiden Sakramente begann die letzte Ölung. Die Priestermönche versammelten sich, und die Zelle füllte sich allmählich mit den Bewohnern der Einsiedelei. Inzwischen wurde es Tag. Da kam man auch aus dem Kloster zu ihm. Nach dem Frühgottesdienst wollte der Staretz sich von allen verabschieden, und er küßte einen jeden. Da die Zelle so klein war, gingen die früher Gekommenen hinaus, um den neu Ankommenden Platz zu machen. Aljoscha stand neben dem Staretz, der sich wieder in den Lehnstuhl gesetzt hatte. Er sprach und lehrte so viel er konnte; seine Stimme war allerdings schwach, aber doch noch ziemlich fest. „Ich habe euch so viel Jahre gelehrt und daher so viel gesprochen, daß mir das Sprechen gewiß zur Gewohnheit geworden ist, doch euch durch Sprechen zu unterweisen – das ist so stark in mir eingewurzelt, daß mir Schweigen vielleicht sogar schwerer fallen würde als das Reden, meine Lieben – selbst jetzt, bei meiner Schwäche,“ scherzte er mit gerührtem Blick auf die sich zu ihm Drängenden. Aljoscha erinnerte sich noch später dessen, was der Staretz damals gesagt hatte. Wohl sprach er noch deutlich und sogar mit ziemlich fester Stimme, doch seine Rede war schon etwas zusammenhanglos. Er sprach über vieles; wie es schien, wollte er alles aussprechen, vor dem Tode alles noch einmal sagen, alles im Leben Unausgesprochene, und nicht nur allein um der Predigt willen, sondern gleichsam aus dem Verlangen heraus, seine Freude und seine Begeisterung mit allen und allem zu teilen, noch einmal im Leben sein Herz auszuschütten ...
„Liebet einander,“ lehrte der Staretz (wie sich Aljoscha dessen später erinnerte). „Liebet Gottes Volk. Sind wir doch, weil wir uns hier in diesen Mauern eingeschlossen haben, nicht heiliger als die Weltlichen; im Gegenteil, ein jeder Hergekommene hat sich allein schon dadurch, daß er hergekommen ist, im Herzen eingestanden, daß er schlechter ist als die Weltlichen und alles und jedes auf Erden. Und je länger der Einsiedler in diesen Mauern lebt, um so aufrichtiger und tiefer muß er dies erkennen; denn tut er es nicht, so hat er wahrlich keine Ursach gehabt, herzukommen. Wenn er aber zu dieser Erkenntnis gekommen ist, daß er nicht nur schlechter als alle Weltlichen, wohl aber noch vor allen Menschen für alle und alles schuldig ist, an allen Sünden der Menschen im allgemeinen wie im einzelnen, dann erst wird der Zweck unserer Absonderung erreicht sein. Denn wisset, meine Lieben, daß ein jeder von uns schuldig ist für alle und alles auf der Welt, das ist unanfechtbar – und nicht nur durch die allgemeine Weltschuld, sondern ein jeder einzeln für alle Menschen und für jeden Menschen auf dieser Erde. Diese Erkenntnis ist die Krone des Lebens sowohl jedes Einsiedlers wie jedes Menschen in dieser Welt – sind doch die Mönche keine anderen Menschen als die Weltlichen, wohl aber sind sie solche, die den Menschen auf Erden als Beispiel dienen sollten. Dann erst, wenn alle das verstanden haben, wird sich unser Herz in dieser unendlichen, allumfassenden Liebe weiten, die keine Sättigung, also auch keinen Tod kennt. Dann wird ein jeder von euch die Kraft haben, die ganze Welt durch seine Liebe zu erkaufen und mit seinen Tränen die Sünden der Welt abzuwaschen ... Ein jeder gehe seinem Herzen nach, ein jeder beichte sich selbst unermüdlich. Vor eurer Sünde fürchtet euch nicht, selbst wenn ihr sie erkannt habt; tragt nur Sorge, daß die Reue nicht vergehe, doch sollt ihr mit Gott nie Handel treiben. Und wiederum sage ich euch: Seid nicht stolz, weder vor den Geringen noch vor den Mächtigen. Haßt auch nicht, die euch verleugnen, euch schmähen und verleumden; haßt nicht die Atheisten, nicht die Lehrer des Bösen, nicht die Materialisten, sogar die Schlechten von ihnen nicht, nicht nur die Guten nicht, denn auch unter den Schlechten sind viele Gute, besonders in unserer Zeit. Gedenkt ihrer im Gebet also, wie ich euch sage: Vater unser, errette und behüte alle, die niemand haben, der für sie betet; erlöse auch die, welche nicht zu dir beten wollen. Und fügte noch hinzu: Nicht aus Stolz oder Hochmut bitte ich dich, Vater, also, denn ich selbst bin der Schlechten Schlechtester ... Liebet Gottes Volk, lasset nicht die Herde von Fremdlingen forttreiben, denn wahrlich, ich sage euch, wenn ihr in Faulheit und eurem geringschätzenden Hochmut einschlaft oder gar in verderblichem Eigennutz, so werden sie von allen Seiten kommen und euch eure Herde abspenstig machen. Verkündet unermüdlich dem Volke das heilige Evangelium ... Treibt nicht Wucher ... Hängt euer Herz nicht an Gold und Silber, trachtet nicht danach, sucht nicht, es zu erraffen ... Glaubt und haltet das Banner hoch, und erhebt es hoch, hoch ...“
Der Staretz sprach übrigens abgerissener, als es hier wiedergegeben ist und wie es Aljoscha später niedergeschrieben hat. Zuweilen hörte er ganz auf zu sprechen, als ob er wieder Kräfte sammelte, doch war er ersichtlich in innerer Ekstase. Man hörte ihm mit tiefer Rührung andächtig zu, obgleich sich viele über seine Worte wunderten und sie unklar fanden. Später erinnerte man sich wieder dieser Worte. Als Aljoscha auf einen Augenblick die Zelle verließ, war er erstaunt über die allgemeine Erregung und Erwartung der sich in und vor der Zelle drängenden Brüderschaft. Diese Erwartung äußerte sich bei vielen in ungewöhnlicher Spannung, bei anderen wiederum in feierlicher Stimmung. Alle erwarteten sie, daß etwas Großes sofort nach dem Verscheiden des Staretz geschehen werde. Diese Erwartung war sogar von einem gewissen Standpunkt aus unernst, doch selbst die Strengsten der Brüderschaft konnten sich nicht enthalten, sie zu teilen. Am strengsten war das Gesicht Pater Paissijs. Aljoscha verließ die Zelle, da ihn der aus der Stadt gekommene Rakitin geheimnisvoll durch einen Klosterbruder hatte herausrufen lassen. Rakitin übergab ihm einen sonderbaren Brief von Frau Chochlakoff. Sie teilte Aljoscha eine wichtige und sehr zur rechten Zeit gekommene Nachricht mit. Am Tage vorher war nämlich mit vielen anderen Weibern aus dem Volke auch ein altes Mütterchen aus der Stadt, die Unteroffizierswitwe Prochorowna, zum Staretz gekommen. Sie hatte den Staretz gefragt, ob sie für ihren Sohn Wassenjka, der fern nach Sibirien, nach Irkutsk, gefahren war, und von dem sie schon seit einem Jahr keine Nachricht erhalten hatte, eine Seelenmesse solle lesen lassen; worauf ihr der Staretz so etwas streng verboten und gesagt hatte, daß eine Seelenmesse für einen Lebenden ebensogut wie Zauberei wäre. Darauf hatte er ihr wegen ihrer Unwissenheit verziehen und zum Schluß noch hinzugefügt, „als ob er im Buche der Zukunft gelesen“ (schrieb Frau Chochlakoff in ihrem Brief), „daß ihr Sohn Wassjä am Leben sei und alsbald entweder selbst zu ihr kommen oder einen Brief schicken werde und sie nach Haus gehen und alles erwarten solle. Und was glauben Sie wohl!“ schrieb Frau Chochlakoff in ihrer Begeisterung: „– Die Prophezeiung ist buchstäblich in Erfüllung gegangen, und sogar noch mehr als das!“ Kaum war sie nach Haus zurückgekehrt, als man ihr einen aus Sibirien angekommenen Brief übergeben hatte. Und das wäre noch nicht alles: In diesem Brief, der auf der Reise in Jekaterinenburg geschrieben war, teilte der Sohn Wassjä seiner Mutter mit, daß er mit einem anderen Beamten nach Rußland zurückkehre und vielleicht schon nach drei Wochen „seine Mutter zu umarmen“ hoffe. Frau Chochlakoff bat Aljoscha eindringlich, dieses neue „Wunder der Prophezeiung“ dem Prior sowie der ganzen Brüderschaft mitzuteilen. „Alle sollen das erfahren, alle, alle!“ – Damit schloß sie ihren Brief. Dieser Brief war sehr schnell geschrieben; die Eile und Erregung der Schreiberin sprachen aus jeder Zeile. Aber Aljoscha brauchte der Brüderschaft nichts mehr mitzuteilen; alle wußten es schon. Rakitin hatte dem Klosterbruder nach der Bitte, Aljoscha herauszurufen, noch den Auftrag gegeben, untertänigst Seiner Hochehrwürden dem Pater Paissij zu melden, er, Rakitin, habe ihm eine Sache von solcher Wichtigkeit mitzuteilen, daß er nicht um eine Minute die Mitteilung hinausschieben dürfe, für seine Dreistigkeit aber kniend um Verzeihung bäte. Da nun der Klosterbruder zuerst zu Pater Paissij mit Rakitins Bitte gegangen war, so blieb Aljoscha nichts mehr übrig, als sofort dem Pater den Brief als bestätigendes Dokument zu übergeben. Und siehe, selbst dieser strenge, mißtrauische Mensch konnte nicht ganz sein Gefühl verbergen, nachdem er die Nachricht von dem „Wunder“ mit finsterem Gesicht gelesen hatte. Seine Augen blitzten auf, und die Lippen lächelten stolz und überzeugt.
„Wer weiß, was wir noch erleben werden?“ entfuhr es ihm plötzlich gleichsam gegen seinen Willen.
„Ja, was werden wir noch erleben, was werden wir noch erleben?“ wiederholten in der Runde die Mönche. Doch Pater Paissij, dessen Gesicht sich von neuem verfinstert hatte, bat alle, wenigstens „bis dahin“ niemandem laut davon Mitteilung zu machen: „bis es sich bestätigt – denn viel ist doch auch Leichtgläubigkeit in den Menschen, und vielleicht ist alles ganz natürlich geschehen,“ fügte er vorsichtig hinzu, als ob er damit sein Gewissen beruhigen wollte; doch bemerkten alle sehr wohl, daß er selbst an seine Einwendung nicht glaubte. Selbstverständlich wurde das „Wunder“ noch in derselben Stunde im ganzen Kloster bekannt, und auch viele Weltliche, die zur Liturgie in die Klosterkirche gekommen waren, erfuhren es. Am meisten aber war der kleine Mönch „vom heiligen Silvester“ aus Obdorsk über das Wunder erstaunt. Er hatte am Tage vorher zusammen mit Frau Chochlakoff auf den Staretz gewartet, und als sie von ihrer „geheilten“ Tochter gesprochen, den Staretz ungewöhnlich ernst gefragt, wie er solches tun könne. Jetzt aber war er wie vor den Kopf gestoßen und wußte kaum noch, woran er eigentlich glauben sollte. Er hatte nämlich am Abend vorher, nach dem Gespräch mit dem Staretz Sossima auf der Galerie, den Klosterpater Ferapont in seiner abgesonderten Zelle hinter dem Bienengarten besucht und von ihm einen ungewöhnlichen und beängstigenden Eindruck davongetragen. Dieser Pater Ferapont war derselbe alte Einsiedler, der große Schweiger und Faster, dessen ich schon einmal erwähnt habe: als Gegner des Staretz Sossima und des Startzentums überhaupt, das er für eine schädliche und leichtsinnige Neuerung hielt. Diesen aber als Gegner zu haben, war sehr gefährlich, obgleich er, als Schweiger, fast überhaupt nicht sprach. Gefährlich war er vor allem dadurch, daß ihm viele aus der Brüderschaft seine Gegnerschaft lebhaft nachempfanden und viele von den weltlichen Besuchern ihn für einen großen Gerechten und Glaubenseiferer hielten, obschon sie in ihm einen unzweifelhaft Geistesschwachen nicht verkennen konnten. Aber diese heilige Geistesschwäche nahm sie gerade am meisten für ihn ein. Dieser Pater Ferapont ging z. B. nie zum Staretz Sossima. Zwar lebte auch er in der Einsiedelei, doch wurde er mit den dort üblichen Regeln nicht weiter belästigt, da er sich ja doch wie ein Geistesschwacher benahm. Er war etwa fünfundsiebzig Jahre alt, wenn nicht mehr, und lebte bei der Zaunecke hinter dem Bienengarten der Einsiedelei in einer alten, morschen Holzzelle, die dort schon vor langer Zeit, noch im vorigen Jahrhundert, für einen gleichfalls großen Faster und Trappisten, den Pater Jonas, erbaut worden war. Dieser Pater Jonas war hundertfünf Jahre alt geworden, und noch jetzt erzählte man sich im Kloster wie in der Umgegend merkwürdige Geschichten von ihm. Pater Ferapont hatte endlich durchgesetzt, daß man ihm erlaubte, sich in diese einsame Zelle zurückzuziehen, und so lebte er denn schon sieben Jahre in dieser kleinen Hütte, die aber von innen auffallend einem kleinen Bethaus glich, da alle Wände mit vielen, vielen geschenkten Heiligenbildern behangen waren und vor ihnen Tag und Nacht viele, viele geschenkte Lämpchen brannten, die mit Öl zu füllen, anzuzünden, sie zu besorgen und nach ihnen zu sehen, Pater Feraponts einzige Arbeit war. Er aß, wie man erzählte (und es war auch wahr), nur zwei Pfund Brot in drei Tagen, nie mehr; das wurde ihm alle drei Tage von dem daselbst im Bienengarten wohnenden Bienenwärter gebracht; doch auch mit diesem wechselte Pater Ferapont nur höchst selten ein paar Worte. Diese vier Pfund Brot und Sonntags das Abendmahlbrötchen, das ihm der Prior jedesmal pünktlich nach dem Hochamt schickte, waren die ganze Nahrung, die er in einer Woche zu sich nahm. Das Wasser dazu wurde ihm täglich im Kruge gebracht. Zur Liturgie oder zum Gottesdienst kam er nur selten. Fromme Pilger, die ihn besuchten, sahen, daß er zuweilen den ganzen Tag im Gebet auf den Knien lag und kein einziges Mal aufblickte. Ließ er sich einmal mit jemandem in ein Gespräch ein, so war er immer sehr lakonisch, jedenfalls sehr sonderbar und gewöhnlich sehr grob. Es kam wohl zuweilen vor – allerdings nur äußerst selten –, daß er selbst mit den Pilgern zu sprechen begann; doch sprach er dann meistenteils nur ein paar sonderbare Worte zu ihnen, die den armen Leuten viel zu denken gaben, da sie stets rätselhaft blieben, denn Pater Ferapont ließ sich durch keine Bitten mehr bewegen, eine Erklärung zu seinem Ausspruch zu geben. Die Priesterwürde besaß er nicht; er war nur ein gewöhnlicher Mönch. Unter den einfachen Leuten hatte sich das Gerücht verbreitet, daß Pater Ferapont mit den himmlischen Geistern in Verbindung stehe und mit ihnen rede, darum aber im Verkehr mit den Menschen schweige; doch glaubten daran nur die Allerungebildetsten. Der kleine Mönch aus Obdorsk nun hatte sich gegen Abend in den Bienengarten gewagt und war dann nach der Angabe des Bienenwärters, eines gleichfalls sehr schweigsamen und mürrischen Mönches, in der Richtung zur Zaunecke auf die Suche nach der Hütte Pater Feraponts gegangen. „Kann sein, daß er dir was sagt, kann aber auch sein, daß du nichts von ihm zu hören bekommst,“ sagte ihm der Bienenwärter. Das Mönchlein näherte sich nach seinen eigenen Worten in großer Angst und Ehrfurcht. Es war schon eine ziemlich späte Stunde. Pater Ferapont saß diesmal an der Tür der Zelle auf einer niedrigen, kleinen Bank. Über ihm rauschte sacht im Abendwind der Wipfel einer mächtigen, alten, uralten Ulme. Abendkühle schlich sich heran. Der kleine Obdorsksche Mönch fiel vor dem Gebenedeiten nieder, verneigte sich vor ihm bis zur Erde und bat ihn um seinen Segen.
„Willst du nicht, daß auch ich vor dir niederfalle, Mönch?“ fragte Pater Ferapont. „Erhebe dich!“
Das Mönchlein erhob sich gehorsam.
„Segne mich und sei gesegnet. Setz dich neben mich. Von woher hat’s dich hergeführt?“
Was am meisten das arme Mönchlein in Erstaunen setzte, war, daß Pater Ferapont trotz seines so strengen Fastens und seines hohen Alters, ein dem Ansehen nach wirklich noch starker Mann war, daß er sich jedenfalls ganz gerade hielt, doch von Wuchs, nicht im geringsten gebeugt war und ein, wenn auch mageres, so doch gesundes, frisches Gesicht hatte. Zweifellos besaß er auch noch eine bedeutende körperliche Kraft. Gebaut war er geradezu athletisch, und trotz seines hohen Alters war er noch nicht einmal ganz ergraut; er hatte sogar sehr dichtes Haupt- und Barthaar, das früher ganz schwarz gewesen sein mußte; hatte große, leuchtende, graue Augen – doch sperrte er die Augenlider so weit auf, daß es einem sofort auffiel. Das O sprach er stets stark betont und als deutliches O aus.[14] Gekleidet war er in eine lange, sackartige Kutte aus grobem „Sträflingstuch“, wie man diesen Stoff früher nannte, und mit einer dicken Schnur umgürtet. Der Hals und die Brust waren bloß. Ein beinahe schwarzes Hemd von gröbster Leinwand, das monatelang nicht von seinem Körper kam, blickte unter dem Kittel hervor. Es hieß, daß er unter diesem Kittel dreißigpfündige Ketten trug. Seine nackten Füße staken in alten, fast gänzlich auseinanderfallenden Schuhen.
„Ich komme aus der kleinen Obdorskschen Mönchsherberge des heiligen Silvester,“ antwortete demütig der kleine Mönch, doch blickten seine flinken Äuglein wohl etwas ängstlich, aber immerhin recht neugierig den Einsiedler an.
„Kenn ihn; hab bei ihm gewohnt. Was macht er jetzt, ist er gesund?“
Diese sonderbare Frage machte das Mönchlein nicht wenig betreten; es begann etwas zu stottern ...
„Einfältige Menschenkinder seid ihr! Wie haltet ihr das Fasten ein?“
„Unsere Speiseregel ist nach alter Einsiedlersatzung folgende: Während der großen Fastenzeit vor Ostern gibt es am Montag, Mittwoch und Freitag nichts, am Dienstag und Donnerstag für die Brüderschaft weiße Brote, Gerstentrank mit Honig, Schellbeeren oder gesalzenen Kohl und Hafermehlbrei. Am Sonnabend Weißkohl, Erbsen, Grütze mit Hanfsaft, alles in Öl. In der Woche zum Kohl noch getrockneten Fisch und Grütze. In der Karwoche aber vom Montag bis zum Sonnabend, also sechs Tage, nichts als Brot und Wasser und rohes Kraut, und auch das nur mit Enthaltsamkeit. Dann kann man wieder so essen wie in der ersten Fastenwoche; aber am heiligen Karfreitag wird nichts gegessen, und also auch am heiligen Sonnabend fasten wir bis zur dritten Morgenstunde, und dann dürfen wir etwas Brot mit Wasser und jeder je ein Gläschen Wein trinken. Am heiligen Gründonnerstag aber essen wir Gekochtes ohne Öl, trinken Wein mit etwas Trockenkost dazu; denn also ist auch auf dem heiligen Konzil zu Laodicäa gesagt worden: ‚Wenn ihr die ganze heilige Fastenzeit einhaltet, dann aber einen der letzten vier Tage freigebt, so habt ihr die ganze heilige Fastenzeit geschändet.‘ So ist es bei uns. Was aber ist das im Vergleich zu Euch, großer Vater,“ fügte das Mönchlein, dreister geworden, hinzu, „denn Ihr genießet doch das liebe runde Jahr und auch zu den heiligen Osterfeiertagen, wenn doch alle essen, nur Brot und Wasser, und was an Brot bei uns nur auf zwei Tage reicht, das genügt Euch für alle sieben Herrgottstage der Woche. Wahrlich, sie ist wunderbar, Eure so große Enthaltsamkeit.“
„Und die Pfefferschwämme?“ fragte plötzlich Pater Ferapont.
„Pfefferschwämme?“ fragte das Mönchlein erstaunt.
„Nun ja; ich werde auch noch von ihrem Brot fortgehen, brauch’s überhaupt nicht, gehe in den Wald, werde dort von Pfefferschwämmen oder Beeren leben; sie aber gehen hier nirgends fort von ihrem Sauerteig, sind also dem Teufel untertan, daß sie an ihn gebunden bleiben. Heutzutage reden die Unflätigen, es sei unnütz, so viel zu fasten. Das kommt alles nur von ihrer Unersättlichkeit und ihrem stinkenden Hochmut.“
„Ach ja, das ist wohl wahr!“ meinte das Mönchlein seufzend.
„Hast du aber bei ihnen auch die Teufel gesehen?“ fragte Pater Ferapont.
„Bei welchen ‚ihnen‘?“ erkundigte sich vorsichtig und schüchtern das Mönchlein.
„Im vergangenen Jahr ging ich am Karfreitag hinauf zum Prior, das war denn auch das letztemal, seitdem bin ich nie mehr dort gewesen. Sah, bei dem einen sitzt er auf der Brust, versteckt sich unter der Kutte, nur die Hörner gucken noch raus; beim anderen sitzt er in der Tasche, lauert nur noch vorsichtig mit flinken, kleinen Augen, hat Angst vor mir; beim dritten hat er sich im Bauch niedergelassen, an der unflätigsten Stelle seines Leibes; dem vierten hat er sich einfach an den Hals gehängt, und der trägt ihn wie nichts, bemerkt ihn überhaupt nicht.“
„Ihr ... Ihr seht so etwas?“ erkundigte sich das Mönchlein wieder.
„Sag ich dir doch, daß ich sie sehe, durch und durch sogar. Als ich dann langsam vom Prior fortging, da, sieh – sitzt einer hinter der Tür, will sich dort vor mir verstecken, solch ein fester Junge, eine oder anderthalb Arschin groß oder noch größer, mit einem dicken, dunkelbraunen, langen Schwanz, das Ende aber vom Schwanz war zwischen die Türspalte geraten – da war ich nicht dumm und knallte die Tür zu und klemmte seinen Schwanz ein. Wie er quiekte, wie er um sich schlug! Ich aber machte das Zeichen des Kreuzes dreimal nacheinander und kreuzte ihn einfach tot. Er krepierte denn auch auf der Stelle, wie eine plattgedrückte Spinne. Jetzt muß dort das Aas in der Ecke wohl schon verwest sein und stinken, sie aber sehen es weder, noch riechen sie es. Ein Jahr lang bin ich nicht mehr dort gewesen; nur dir hab ich’s gesagt, weil du doch ein Fremdling bist.“
„Furchtbar sind Eure Worte! Aber wie, großer, gebenedeiter Vater,“ – das Mönchlein wurde etwas mutiger – „ist es wahr, was man sich in fernen Gauen Rußlands von Euch erzählt, daß Ihr, wie es heißt, sogar mit dem Heiligen Geiste in fortwährendem Verkehre stehet?“
„Wenn er kommt, kommt’s vor.“
„Wie kommt er denn?“
„Geflogen kommt er.“
„In welcher Gestalt denn?“
„Als Vogel.“
„Also der Heilige Geist in Gestalt einer Taube?“
„Manchmal der Heilige Geist, manchmal der Heilgeist. Der Heilgeist ist was anderes, der kann auch als ein anderer Vogel herniederfahren: als Schwälbchen, als Stieglitz, als Meise.“
„Aber wie unterscheidet Ihr ihn denn von einer gewöhnlichen Meise?“
„Er spricht.“
„Aber wie spricht er denn? In welcher Sprache?“
„In menschlicher.“
„Aber was sagt er denn zu Euch?“
„Heute sagte er, daß ein Esel mich besuchen und dumme Fragen stellen werde. Willst wahrlich nicht wenig wissen.“
„Furchtbar sind Eure Worte, gebenedeiter, heiligster Vater,“ sagte das Mönchlein kopfschüttelnd; doch in seinen erschrockenen Äuglein lag ein bißchen Mißtrauen.
„Siehst du hier diesen Baum?“ fragte nach einigem Schweigen Pater Ferapont.
„Jawohl, heiliger Vater.“
„Deiner Meinung nach ist’s eine Ulme, meiner Meinung nach aber ist’s ein ganz anderes Ding.“
„Was ist es denn?“ Das Mönchlein schwieg in vergeblicher Erwartung.
„Meistens in der Nacht,“ sagte plötzlich nach längerem Schweigen Pater Ferapont. „Siehst du diese zwei großen Äste? In der Nacht streckt Christus von dort seine Arme mir entgegen und sucht mich mit diesen Armen, das sehe ich deutlich, und ich zittere. Furchtbar, o furchtbar!“
„Was ist denn dabei furchtbar, wenn es Christus selbst ist?“
„Er kann mich doch erfassen und emportragen.“
„Lebendig?“
„Hast du denn von Elias nichts gehört? Er umfaßt einen und trägt einen fort ...“
Obschon der kleine Obdorsksche Mönch nach diesem Gespräch nicht wenig nachdenklich in die ihm angewiesene Zelle eines der Klosterbrüder kam, so fühlte er sein Herz doch mehr zum Pater Ferapont als zum Staretz Sossima hingezogen. Das arme Mönchlein war vor allen Dingen fürs Fasten, und da sollte es, seiner Meinung nach, niemanden weiter wundernehmen, wenn solch ein Faster, wie Pater Ferapont, auch „Wunderbares erschaute“. Seine Worte waren allerdings etwas absonderlich gewesen, aber wer konnte denn außer Gott wissen, was sich in ihnen verbarg, in diesen Worten, und doch konnte man allen anderen um Christi willen Einfältigen kein einziges solcher Worte und keine einzige solcher Taten nachrühmen. An den eingeklemmten Teufelsschwanz war er nicht etwa im bildlichen, sondern im buchstäblichen Sinn des Wortes mit ganzer Seele und mit wahrem Vergnügen zu glauben bereit. Außerdem war er immer sehr voreingenommen gegen das Startzentum gewesen, das er bis jetzt nur vom Hörensagen kannte und wie viele andere gleichfalls für eine schädliche Neuerung hielt. Noch war er keinen ganzen Tag im Kloster gewesen, als er schon das geheime Murren einiger freimütiger Klosterbrüder wider das Startzentum vernommen hatte. Zudem war er schon von Natur ungewöhnlich neugierig und für alles interessiert, weshalb er denn auch immer umherschnüffelte und überall spionierte. Das war nun der Grund, warum ihn die Nachricht von dem neuen „Wunder“, das der Staretz Sossima vollbracht haben sollte, so erregte. Aljoscha erinnerte sich später, daß er in der Menge, die sich vor der Zelle des Staretz drängte, mehrmals die kleine Gestalt des herumschnüffelnden Gastes vom heiligen Silvester bemerkt hatte, wie der Kleine von Gruppe zu Gruppe ging, überall horchte und fragte. Doch damals beachtete er ihn nicht weiter; erst später fiel es ihm wieder ein ... Und war ihm doch auch an jenem Tage nicht darum zu tun: dem Staretz Sossima, der sich wieder sehr müde gefühlt und sich hingelegt hatte, war plötzlich, schon im Einschlafen, Aljoscha eingefallen, und so hatte er ihn sofort zu sich rufen lassen. Aljoscha eilte zu ihm. Beim Staretz befanden sich gerade nur Pater Paissij, der Priestermönch Pater Jossiff und der Novize Porfirij. Der Staretz schlug seine müden Augen auf, blickte Aljoscha aufmerksam an und fragte ihn plötzlich:
„Erwarten dich nicht die Deinen, mein Sohn?“
Aljoscha erschrak und stotterte etwas.
„Bedürfen sie nicht deiner? Hast du gestern nicht jemandem versprochen, heute hinzukommen?“
„Ja ... meinem Vater ... den Brüdern ... auch anderen ...“
„Siehst du, geh unbedingt hin, sei nicht traurig. Wisse, daß ich nicht sterben werde, ohne in deiner Gegenwart mein letztes Wort hier auf Erden gesagt zu haben. Dir werde ich dieses Wort sagen, dir vermache ich es, dir, mein geliebter Sohn, denn ich weiß, daß du mich liebst. Jetzt aber geh zu denen, welchen du versprochen hast zu kommen.“
Wie schwer es Aljoscha auch war, jetzt fortzugehen, so gehorchte er doch widerspruchslos. Aber die Verheißung, das letzte Wort des Staretz hier auf Erden zu hören, und zwar als ein Vermächtnis an ihn, Aljoscha, erschütterte und begeisterte seine Seele. Er beeilte sich, schneller in die Stadt zu gehen, um schneller wieder zurückkehren zu können. Da sprach noch Pater Paissij, als Aljoscha mit ihm die Zelle des Staretz verließ, einige Worte zu ihm, die einen tiefen und unerwarteten Eindruck auf ihn machten.
„Denke daran, Jüngling,“ sagte der Pater, „daß die weltliche Wissenschaft, die zu einer großen Macht geworden ist, namentlich im letzten Jahrhundert alles niedergerissen hat, was uns Himmlisches in den Büchern der Heiligen vermacht worden. Nach einer grausamen Analyse scheint bei den Gelehrten dieser Welt vom ganzen früheren Heiligtum überhaupt nichts übriggeblieben zu sein. Sie haben es aber stückweise analysiert, doch der Geist des Ganzen ist ihnen entgangen. Man kann sich wirklich nur wundern, wie blind sie in der Beziehung sind. So steht denn das Ganze auch jetzt noch unerschüttert vor ihnen, und die Geister der Hölle können ihm nichts anhaben. Hat es denn nicht neunzehn Jahrhunderte gelebt, lebt es denn nicht auch jetzt noch in Regungen der Seelen einzelner wie in den Bewegungen ganzer Volksmassen? Sogar in den Regungen dieser selben, die alles zerstört haben, in den Seelen der Atheisten, lebt es wie früher unzerstört und unerschütterlich fort. Denn auch die, die sich vom Christentum losgesagt haben und gegen dasselbe eifern, haben in ihrem Innersten doch das Wesen dieses selben Christus behalten, denn bis jetzt ist weder ihre Weisheit, noch die Glut ihres Herzens fähig gewesen, ein anderes, höheres Ideal des Menschen und seiner Menschenwürde hervorzubringen, als das von Christus gegebene. Was sie aber an Versuchen hervorgebracht haben, ist nichts als Mißgestalt. Behalte das besonders, Knabe, denn dein scheidender Staretz hat dich für die Welt bestimmt. Vielleicht wirst du, wenn du dieses großen Tages gedenkst, auch meiner Worte gedenken, die ich dir von Herzen als Geleit gebe, denn jung bist du, die Welt aber ist voll schwerer Versuchungen, und ihnen sind deine Kräfte nicht gewachsen. Jetzt geh, mein verwaister Junge.“
Mit diesen Worten segnete ihn Pater Paissij. Als Aljoscha das Kloster verließ und noch all diese unerwarteten Worte überdachte, begriff er plötzlich, daß er in diesem sonst so strengen Mönche einen neuen herzlichen Freund und ihn heiß liebenden neuen Führer gefunden hatte – ganz, als ob sein Staretz ihm Pater Paissij als Vermächtnis hinterlassen wollte. „Vielleicht ist auch wirklich so etwas zwischen ihnen verabredet worden,“ dachte Aljoscha. Die unerwarteten und lehrreichen Worte Pater Paissijs, die er soeben vernommen hatte, zeugten jedenfalls von dem Anteil desselben: Er beeilte sich offenbar, den jungen Geist zum Kampf mit den Versuchungen zu wappnen und die ihm anvertraute junge Seele unter seinen Schutz zu nehmen.