Er hatte wirklich ein ernstes Herzeleid, eines, wie er es bis dahin nur selten empfunden. Er hatte sich so dumm in fremde Angelegenheiten hineingemischt und noch dazu in Liebesangelegenheiten! „Aber was verstehe ich denn von solchen Sachen, wie kann ich mich nur in solche Angelegenheiten hineinmischen?“ wiederholte er vorwurfsvoll und immer wieder errötend wohl schon zum hundertstenmal. „Ach, die Schande wäre ja noch nichts, die Schande ist nur wohlverdiente Strafe; das Furchtbare ist nur, daß ich die Ursache neuen Unglücks bin ... Und der Staretz hat mich doch geschickt, um zu versöhnen und zu vereinigen. Vereinigt man denn etwa so?“ Bei diesem Gedanken fiel ihm plötzlich wieder ein, wie er „die Hände vereinigt“ hatte, und heiße Scham stieg in ihm auf. „Wenn ich auch alles aufrichtig getan habe, so muß ich künftig doch klüger sein,“ schloß er plötzlich – und lächelte nicht einmal über diese Folgerung.
Der Auftrag Katerina Iwanownas führte ihn in die Seestraße, da aber Dmitrij Fedorowitschs Wohnung gerade auf dem Wege dorthin lag, beschloß Aljoscha, zuerst noch zum Bruder zu gehen, obgleich er ahnte, daß er ihn nicht zu Hause antreffen werde. Er vermutete sogar, daß Dmitrij sich jetzt vielleicht absichtlich vor ihm versteckte, trotzdem wollte er ihn unbedingt aufsuchen, einerlei wo. Die Zeit aber drängte. Der Gedanke an den sterbenden Staretz hatte ihn seit der Stunde, da er aus dem Kloster gegangen war, keinen Augenblick verlassen.
Es fiel ihm wieder ein, was Katerina Iwanowna von dem Hauptmann erzählt hatte, und wieder fragte sich Aljoscha, ob nicht jener kleine Knabe, der die Schule besuchte und laut weinend neben dem Vater einhergelaufen war, als Dmitrij ihn am Barte gezogen hatte – ob das nicht derselbe kleine Junge sein konnte, der ihn in den Finger gebissen hatte? Wäre das doch die Antwort gewesen auf seine Frage, wodurch er ihn beleidigt hätte. Schließlich war Aljoscha fast überzeugt davon, ohne eigentlich selbst zu wissen warum, daß jener Knabe der Sohn des beleidigten armen Hauptmanns sei. Mit solchen nebensächlichen Gedanken zerstreute er sich und brauchte nicht mehr an das von ihm angestiftete „Unglück“ zu denken und sich mit Vorwürfen zu quälen, sondern konnte etwas Gutes tun. Und bei diesem Gedanken beruhigte er sich schließlich. Als er dann beim Einbiegen in die Querstraße zu Dmitrij plötzlich Hunger verspürte, nahm er aus seiner Kuttentasche das Franzbrot, das er beim Vater eingesteckt hatte, und aß es unterwegs auf. Das stärkte wieder ein wenig seine Lebensgeister.
Der Bruder war natürlich nicht zu Hause. Die Hauswirte – ein alter Tischlermeister, dessen Sohn und die alte Frau – blickten Aljoscha etwas mißtrauisch an. „Er nächtigt schon den dritten Tag nicht hier, es ist möglich, daß er ausgefahren ist,“ antwortete der Alte auf Aljoschas wiederholte Frage. Da sah Aljoscha ein, daß jener offenbar auf einen gegebenen Befehl nicht antworten wollte. Auf seine Frage: „Ist er vielleicht bei Gruschenka, oder versteckt er sich bei Foma?“ (Aljoscha fragte absichtlich so indiskret), blickten ihn alle drei nur höchst erschrocken an. „Müssen ihn wohl gern haben, wenn sie so zu ihm halten,“ dachte Aljoscha, „das ist gut.“
Endlich fand er auch in der Seestraße das Haus der Kleinbürgerin Kalmykowa, ein altes schiefes Häuschen, das nur drei Fenster zur Straße hatte. Der Eingang führte durch den schmutzigen Hof. Als Aljoscha durch die Pforte trat, sah er gerade in der Mitte des Hofes einsam eine unangebundene Kuh stehen. Links vom Flur wohnte die alte Hausbesitzerin mit ihrer gleichfalls alten Tochter; beide waren taub, wie es schien. Auf seine mehrmals wiederholte Frage nach dem Hauptmann wies schließlich die eine von ihnen, die erraten hatte, daß man zu ihren Mietern wollte, auf die gegenüberliegende Tür. Die Wohnung des verabschiedeten Hauptmanns war also tatsächlich in diesem Hause. Aljoscha wollte schon die eiserne Klinke ergreifen und die Tür aufmachen, als ihm plötzlich die ungewöhnliche Stille, die hinter der Tür herrschte, auffiel. Katerina Iwanowna hatte ihm doch gesagt, daß der Hauptmann verheiratet sei und eine ganze Familie habe. „Entweder schlafen sie alle, oder vielleicht haben sie gehört, daß ein Fremder eingetreten ist, und warten jetzt, daß ich eintrete; ich werde doch lieber zuerst klopfen,“ dachte er und klopfte an die Tür. Die Antwort kam aber erst nach einiger Zeit, vielleicht erst nach einer halben Minute.
„Wer da?“ schrie jemand mit lauter und absichtlich wütender Stimme.
Aljoscha machte die Tür auf und trat über die Schwelle. Er befand sich in einer zwar sehr großen Bauernstube, die aber doch von Menschen und verschiedenem Hausgerät ganz eingenommen war. Links stand ein großer russischer Ofen. Von diesem Ofen war zum linken Fenster durch das ganze Zimmer eine Schnur gezogen, auf der verschiedene Lappen hingen. An beiden Wänden rechts und links stand je ein Bett, mit gehäkelter Decke überdeckt. Auf dem Bette links war aus vier Kopfkissen ein ganzer Berg errichtet; von diesen vier, die alle in Kattunbezügen staken, war eines immer kleiner als das andere. Dagegen lag auf dem Bett an der rechten Wand nur ein einziges ganz kleines Kissen. In der vorderen Ecke war ein kleiner Raum durch einen Vorhang abgeteilt, oder richtiger, durch ein Bettuch, das gleichfalls über einer quer vor die Ecke gezogenen Schnur hing. Hinter diesem Vorhang blickte ein drittes, auf einer Truhe und einem vorgeschobenen Stuhl aufgeschlagenes Bett hervor. Ein einfacher viereckiger Bauerntisch war von der vorderen Ecke zum mittleren Fenster geschoben. Alle drei Fenster, von denen jedes nur vier kleine, grüne, von Staub und Regen trübe Fensterscheiben hatte, ließen nicht gerade viel Licht herein und waren zudem so dicht geschlossen, daß man die Zimmerluft als recht drückend empfand. Auf dem Tisch stand eine Bratpfanne mit dem Rest von einem unsauberen Rührei, ein angebissenes Stück Brot und außerdem eine Halbliterflasche, in der nur noch ein wenig von dem übriggeblieben war, was viele Menschen über ihr Leid hinwegbringt. Auf einem Stuhl neben dem Bett links saß eine Frau in einem einfachen Kattunkleide; doch sah sie wie eine Dame aus. Sie war sehr mager und etwas gelblich im Gesicht; ihre stark eingefallenen Wangen verrieten sofort, daß sie krank sein mußte. Am meisten aber fiel Aljoscha der Blick dieser armen Dame auf: er war ungemein forschend und zu gleicher Zeit äußerst hochmütig. Während der ganzen Zeit, in der Aljoscha mit dem Hauptmann sprach, gingen ihre großen braunen Augen unveränderlich stolz und fragend von einem der Sprechenden zum anderen. Neben dieser Dame stand am linken Fenster ein junges Mädchen mit einem nicht gerade schönen Gesicht und dünnem, rötlichem Haar; es war ärmlich, doch sehr sauber gekleidet. Feindselig betrachtete sie den eingetretenen Aljoscha. Rechts, gleichfalls zwischen Bett und Fenster, saß noch ein drittes weibliches Wesen. Das schien ein armes Geschöpf zu sein, gleichfalls ein junges Mädchen, von zwanzig Jahren, doch war es verwachsen und lahm, d. h. ihre Füße waren verdorrt, wie Aljoscha später erfuhr. Ihre Krücken standen neben ihr in der Ecke zwischen der Wand und dem Bett. Die auffallend schönen und guten Augen des armen Mädchens blickten Aljoscha ruhig und sanftmütig an. Am Tisch saß, das Rührei verzehrend, ein Herr von etwa fünfundvierzig Jahren, mittlerer Größe, augenscheinlich ein schwächlicher Mensch mit rötlichem Haar und einem rötlichen, spärlichen Bärtchen, das auffallend einem zerfaserten Lindenbastwisch glich (dieser Vergleich und besonders das Wort „Bastwisch“ zuckten Aljoscha aus irgendeinem Grunde schon beim ersten Blick auf diesen Bart durch den Sinn, dessen erinnerte er sich noch später). Offenbar hatte dieser selbe Herr auch das „Wer da?“ gerufen, da außer ihm nur Frauen im Zimmer waren. Als aber Aljoscha etwas vortrat, sprang der Herr von der Bank, auf der er am Tisch gesessen hatte, auf und flog, sich mit einer durchlöcherten Serviette den Mund wischend, Aljoscha entgegen.
„Ein Mönch, der für ein Kloster bittet – der ist zu den Richtigen gekommen!“ sagte laut das am linken Fenster stehende Mädchen.
Doch der Herr, der Aljoscha entgegengestürzt war, drehte sich im Augenblick auf dem Hacken um und antwortete mit erregter, vor Aufregung fast stockender Stimme:
„Nein, verehrteste Warwara Nikolajewna, diesmal täuschen Sie sich, Verehrteste, haben es nicht erraten! Gestatten Sie“ – damit wandte er sich geschwind wieder zu Aljoscha – „mich nach der Ursache Ihres Besuches meines ... ‚Inneren‘ zu erkundigen?“
Aljoscha betrachtete ihn aufmerksam, da er ihn zum erstenmal sah. Es war etwas Eckiges, Hastendes, Gereiztes an ihm. Er hatte wohl Schnaps getrunken, doch war er nicht betrunken. Sein Gesicht drückte eine gewisse äußerste Frechheit aus, und zu gleicher Zeit – das war wirklich sonderbar – offenbare Feigheit. Er glich einem Menschen, der sich lange Zeit unterworfen und vieles erlitten hat, plötzlich aber vorspringt und auftrumpfen will. Oder richtiger: einem Menschen, der einen maßlos gern schlagen will, und der doch sehr fürchtet, daß man ihn schlagen könnte. In seinen Reden und dem Klang seiner ziemlich schrillen Stimme lag ein gewisser mißratener Humor, der bald boshaft, bald ängstlich war, nie im Ton blieb und immer wieder abbrach. Die Frage nach dem Besuch des „Inneren“ stellte er gleichsam am ganzen Körper zitternd und so nah auf Aljoscha zutretend, daß der unwillkürlich einen Schritt zurückwich. Gekleidet war der Herr in einen dunklen, nankingartigen Überzieher, der sehr schlecht zusammengenadelt und überall geflickt war. Die Beinkleider dagegen waren auffallend hell, wie sie niemand mehr trug, und aus sehr dünnem, karriertem Stoff; unten waren sie stark verknüllt, außerdem sehr kurz, ganz als wäre er aus ihnen wie ein kleiner Junge herausgewachsen.
„Ich bin ... Alexei Karamasoff ...“ antwortete Aljoscha.
„Das begreifen wir vortrefflich,“ unterbrach ihn sofort der Herr, womit er zu verstehen gab, daß er ihn schon kannte. „Ich dagegen bin Hauptmann Ssnegireff; trotzdem wäre es wünschenswert, die Ursache Ihres Besuches ...“
„Ich ... bin nur so hergekommen ... Ich wollte eigentlich von mir aus Ihnen ein paar Worte sagen ... Wenn Sie es nur gestatten ...“
„In diesem Falle – bitte, hier ist ein Stuhl, geruhen Sie, Platz zu nehmen, wie man in den alten Komödien sagt ...“ und der Hauptmann ergriff mit hastiger Bewegung einen gewöhnlichen Bauernstuhl und stellte ihn fast in die Mitte des Zimmers; darauf zog er noch für sich irgendeinen Stuhl herbei und setzte sich Aljoscha gegenüber, und wieder rückte er so nah heran, daß ihre Knie sich fast berührten. Er blickte ihm unbeweglich ins Gesicht.
„Ich bin Nikolai Iljitsch Ssnegireff, gewesener Hauptmann der russischen Infanterie, und wenn ich auch durch meine Laster in Schimpf und Schande geraten bin, so bleibe ich doch gewesener Hauptmann. Eigentlich sollte ich jetzt eher sagen: Hauptmann Sslowojerrssoff[15] und nicht mehr Ssnegireff, denn in der zweiten Hälfte meines Lebens habe ich begonnen, das ‚S‘ anzuhängen.[16] Ja, das lernt man in der Erniedrigung.“
„Das ist schon so,“ meinte Aljoscha lächelnd, „nur fragt es sich, ob man es unwillkürlich oder absichtlich lernt?“
„Bei Gott, unwillkürlich. Zeitlebens habe ich nicht so gesprochen, plötzlich aber fiel ich, und als ich aufstand, sprach ich das ‚S‘ zu Ende der Worte. Das geschieht durch eine höhere Macht ... Ich sehe, daß Sie sich für zeitgenössische Fragen interessieren. Wodurch nun habe ich solch ein Interesse erregt, denn ich lebe, wie Sie sehen, so, daß ich Gäste im allgemeinen nicht empfangen kann.“
„Ich bin ... in derselben Angelegenheit gekommen ...“
„In derselben Angelegenheit?“ unterbrach ihn der Hauptmann ungeduldig.
„Wegen jener Angelegenheit mit meinem Bruder Dmitrij Fedorowitsch,“ sagte Aljoscha ungeschickt.
„Welch eine Angelegenheit meinen Sie? Doch nicht wegen jener selben? Also wegen des Lindenbastwischs, des Badebastwischs?“ Er rückte plötzlich noch näher, so daß er diesmal Aljoscha tatsächlich mit den Knien berührte. Seine Lippen preßten sich ganz absonderlich zusammen; sie wurden so schmal wie ein Bindfaden.
„Was für ein Badebastwisch?“ stotterte Aljoscha.
„Nein, Papa, er ist gekommen, um sich über mich zu beklagen!“ rief plötzlich das Aljoscha schon bekannte Stimmchen seines kleinen Feindes aus der Ecke hinter dem Vorhange. „Ich habe ihn vorhin in den Finger gebissen.“
Der Vorhang wurde zur Seite gezogen, und Aljoscha erblickte seinen kleinen Feind aus der Michailoffstraße auf einem Bettchen, das man dort in der Ecke unter den Heiligenbildern auf der Truhe und dem Stuhl aufgeschlagen hatte. Der Knabe war mit seinem Mäntelchen und einem alten, wattierten Deckchen zugedeckt. Er schien nicht ganz wohl zu sein und, nach den brennenden Augen zu urteilen, Fieber zu haben. Doch jetzt blickte er furchtlos Aljoscha an. „Zu Hause kriegst du mich nicht!“ sagte sein Blick.
„Was hat er gebissen? Wie, einen Finger?“ fragte der Hauptmann erschrocken und wollte schon aufspringen. „Hat er Ihren Finger gebissen?“
„Ja, meinen. Vorhin bewarfen er und seine Mitschüler sich auf der Straße mit Steinen; er war allein, sie aber waren ganze sechs. Als ich darauf zu ihm trat, warf er einen Stein auf mich und dann noch einen. Ich fragte ihn, was ich ihm denn getan hätte; er aber stürzte sich auf mich und biß mich schmerzhaft in den Finger, warum, weiß ich nicht.“
„Werde ihn sofort durchhauen! Sofort, im Augenblick!“ Der Hauptmann sprang erregt von seinem Stuhl auf.
„Aber ich beklage mich doch nicht, ich erzählte es doch nur ... Ich will durchaus nicht, daß Sie ihn dafür durchhauen! Und er ist ja, glaube ich, krank ...“
„Und Sie dachten, daß ich ihn wirklich bestrafen werde? daß ich Iljuschetschka nehmen und ihn sofort vor Ihren Augen schlagen werde, zu Ihrer Genugtuung? sofort? hier auf der Stelle?“ Der Hauptmann wandte sich mit einer Gebärde zu Aljoscha, als wolle er sich auf ihn stürzen. „Es tut mir leid, mein Herr, um Ihren Finger; aber wollen Sie nicht, daß ich, eher als daß ich Iljuschetschka schlage, sofort alle meine vier Finger, hier auf der Stelle, vor Ihren Augen abhacke, sehen Sie, mit diesem Messer, um Ihnen Genugtuung zu gewähren? Vier Finger, denke ich, werden zur Stillung Ihres Rachedurstes genügen, oder wollen Sie auch noch den fünften dazu? ...“
Er verstummte, als ob ihm plötzlich die Stimme versagt hätte. Jeder Nerv seines Gesichtes ging und zuckte, doch blickte er Aljoscha herausfordernd an. Er schien seiner selbst nicht mehr mächtig zu sein.
„Ich glaube jetzt alles zu verstehen,“ sagte Aljoscha, der sitzen blieb, leise und traurig. „Ihr Junge ist also ein guter Knabe, der seinen Vater liebt und mich als Bruder Ihres Beleidigers gebissen hat ... Das sehe ich jetzt wohl ein,“ sagte er nachdenklich. „Mein Bruder Dmitrij Fedorowitsch bereut seine Handlung, das weiß ich, und wenn er nur zu Ihnen kommen könnte, oder besser, wenn er Sie dort in demselben Lokal wieder treffen könnte, so würde er Sie in Gegenwart aller um Verzeihung bitten ... Wenn Sie es wünschen.“
„Also: ‚er hat das Bärtchen ausgerissen und darauf um Verzeihung gebeten‘ – was will man mehr; er hat alles wieder gut gemacht, nicht wahr?“
„O nein, im Gegenteil, er wird alles tun, was Sie wollen, und wie Sie es wollen!“
„Das heißt also, wenn ich Seine Erlaucht bitten würde, in demselben Lokal – ‚Zur Hauptstadt‘ heißt es – oder auf dem Großen Platz gefälligst vor mir niederzuknien, so würde er es tun?“
„Ja, er würde niederknien.“
„Sie entwaffnen mich, Sie rühren und entwaffnen mich! Bin nur gar zu geneigt, die Großmut Ihres Herrn Bruders zu empfinden. Gestatten Sie mir, Ihnen meine Familie vorzustellen: meine beiden Töchter und mein Sohn – mein ganzes Nest. Wenn ich nun sterbe, wer wird sie dann noch lieben? Solange ich aber noch lebe – wer kann mich garstiges Kerlchen außer ihnen lieben? Etwas Großes hat Gott damit für einen jeden kleinen Menschen von meiner Art geschaffen, Verehrtester. Denn, nicht wahr, auch ein Mensch wie ich, muß jemanden zum Lieben haben ...“
„Da sagen Sie ein wahres Wort!“ meinte Aljoscha herzlich.
„Ach, hören Sie doch endlich auf, den Hampelmann zu spielen, Papa! Es braucht nur irgendein Dummkopf herzukommen, so erniedrigen Sie sich sofort!“ rief ganz unerwartet das Mädchen am Fenster ihrem Vater mit gereizter Stimme und verächtlicher Miene zu.
„Gedulden Sie sich noch einen Augenblick, Warwara Nikolajewna, und lassen Sie mich im Stil bleiben,“ rief ihr der Vater, wenn auch in befehlendem Tone, so doch mit billigendem Blicke zu. „Das ist nun einmal so ihr Charakter,“ fügte er darauf, zu Aljoscha gewandt, hinzu.
„‚Kein einziges Ding in dieser Welt fand seine Billigung!‘ wie der Dichter sagt; nur müßte er sich in diesem Falle im Femininum ausdrücken: ‚fand ihre Billigung‘. Jetzt aber gestatten Sie mir, Sie auch meiner Frau vorzustellen: hier, Arina Petrowna, zwar nur eine lahme Dame – von dreiundvierzig Jahren –, die Füße tragen sie nur wenig, gehört zu den Einfachen, Verehrtester. Arina Petrowna, glätten Sie Ihre Züge: – Alexei Fedorowitsch Karamasoff, erheben Sie sich, Verehrtester.“ Damit ergriff er Aljoschas Hand und zog ihn mit einer Kraft, die man ihm gar nicht zugetraut hätte, in die Höhe, noch bevor der sich besinnen konnte. „Sie werden einer Dame vorgestellt, da müssen Sie sich erheben. Das ist nicht jener Karamasoff, Mamachen, der ... hm, und so weiter, sondern sein Bruder, der sich durch demütige Tugenden auszeichnet. Gestatten Sie, Arina Petrowna, gestatten Sie, Mütterchen, Ihnen vorläufig die Hand zu küssen.“
Und er küßte ehrerbietig, sogar zärtlich die Hand seiner Frau. Das Mädchen am Fenster wandte der Szene unwillig den Rücken zu. Der hochmütig-fragende Gesichtsausdruck der Frau dagegen verwandelte sich plötzlich in einen ungewöhnlich freundlichen.
„Guten Tag; setzen Sie sich, Herr Tschernomasoff,“ sagte sie.
„Karamasoff, Mütterchen, Karamasoff – wir sind einfache Leute,“ flüsterte er wieder Aljoscha zu.
„Nun, Karamasoff oder wie sonst, ich sage immer Tschernomasoff ... Setzen Sie sich doch! warum hat er Sie nur belästigt? Eine lahme Dame, sagte er, das ist wohl wahr, denn wenn ich auch meine Füße noch habe, so sind sie doch wie die Eimer geschwollen, ich selbst bin gänzlich verdorrt. Früher war ich so dick, jetzt aber bin ich, als ob ich eine Nadel verschluckt hätte ...“
„Wir sind einfache Leute, einfache Leute,“ sagte noch einmal der Hauptmann.
„Papa, ach Papa!“ sagte plötzlich das bucklige Mädchen, das bis dahin geschwiegen hatte, und bedeckte das Gesicht mit dem Taschentuch.
„Spielt wieder den Bajazzo!“ stieß die andere am Fenster hervor.
„Sehen Sie, was es für Neuigkeiten bei uns gibt,“ sagte die Mama, auf die Töchter weisend, „ganz wie vorüberziehende Wolken; sind die Wolken vorübergezogen, so beginnt von neuem unsere Musik. Früher, als mein Mann noch Militär war, kamen viele Gäste zu uns. Ich will das ja nicht mit dem vergleichen, was jetzt ist. Wenn einmal einer jemanden liebt, so soll er ihn auch lieben. Da kam denn auch die Frau des Diakons zu mir und sagte: Alexander Alexandrowitsch ist in der Seele der beste Mensch, Nastassja Petrowna aber, sagt sie, ist die wahre Höllenbrut. – Nun, antwortete ich, das kommt darauf an, wer wen vergöttert, du aber bist wohl nur ein kleines Häufchen, stinkst jedoch gehörig. – Dich aber, sagte sie, muß man unterm Daumen halten. – Ach du, sage ich, du schwarzer Schleppsäbel, wen bist du hier belehren gekommen? – Ich, sagte sie, ich lasse reine Luft herein, du aber bist unreine Luft. – Frage doch, sage ich ihr, frage doch alle Herren Offiziere, ob in mir schlechte Luft ist, oder was sonst für eine? Und das sitzt mir seit der Zeit so sehr auf dem Herzen, daß ich noch vor einigen Tagen – ich saß ganz so wie jetzt – diesen General hier eintreten sah, denselben, der auch zu Ostern schon hier war: Was, frage ich ihn, Exzellenz, kann man wohl einer vornehmen Dame reine Luft zulassen? – Ja, antwortete er, man müßte hier wirklich ein Klappfenster oder die Tür ein wenig aufmachen, denn auch mir scheint es, daß die Luft hier bei Ihnen nicht sehr frisch ist. Nun, und so sind sie alle. Und was haben sie nur an meiner Luft auszusetzen? Tote riechen doch noch viel schlechter. Ich sagte darauf: Werde eure Luft nicht mehr verderben, werde mir Schuhe bestellen und fortgehen. Meine Lieben, meine Täubchen, macht doch eurer leiblichen Mutter keine Vorwürfe! Nikolai Iljitsch, mein Väterchen, oder mache ich es dir denn nicht recht? Alles, was ich habe, ist doch, daß Iljuschetschka aus der Schule heimkehrt und mich liebt. Gestern hat er mir noch einen Apfel mitgebracht. Verzeiht, verzeiht, meine Lieben, eurer leiblichen Mutter, verzeiht mir Einsamen, aber wodurch ist euch nur meine Luft so zuwider geworden?“
Und die arme Irrsinnige brach in Tränen aus, in Strömen flossen ihre Tränen herab. Der Hauptmann sprang sofort eilig zu ihr hin.
„Mütterchen, Mütterchen, Täubchen, laß gut sein, laß gut sein! Bist doch nicht einsam. Alle lieben dich, alle vergöttern dich!“ Und wieder küßte er ihre Hände und streichelte ihr Gesicht; und plötzlich nahm er die Serviette und begann ihre Tränen abzuwischen. Aljoscha schien es, daß auch seine Augen feucht erglänzten. „Nun, Verehrtester, haben Sie gesehen, gehört?“ fragte er plötzlich, fast jähzornig Aljoscha und wies dabei auf die arme Schwachsinnige.
„Ich sehe und höre,“ sagte Aljoscha leise.
„Papa, Papa! Wie kannst du nur mit ihm ... Laß ihn doch, Papa!“ rief plötzlich der Knabe, der sich auf seinem Lager erhoben hatte und den Vater mit heißem Blick ansah.
„Wann werden Sie endlich aufhören, Ihre dummen Possen zu spielen, die doch nie zu etwas Gescheitem führen! ...“ rief ihm aus derselben Ecke bereits ganz aufgebracht Warwara Nikolajewna zu und stampfte mit dem Fuße auf.
„Diesmal sind Sie vollkommen im Recht, wenn Sie außer sich geraten, Warwara Nikolajewna, und ich werde Sie gern zufriedenstellen. Nun, nehmen Sie mal Ihre Mütze, Alexei Fedorowitsch, und auch ich werde meinen Hut nehmen, und gehen wir, Verehrtester. Ich muß noch ein ernstes Wörtchen mit Ihnen reden, nur außerhalb dieser Wände. Sehen Sie dieses sitzende Mädchen – das ist meine Tochter Nina Nikolajewna, ich vergaß es, Sie ihr vorzustellen: ein leibhaftiger Engel Gottes ... der zu uns Sterblichen herniedergeflogen ist ... wenn Sie das nur begreifen können ...“
„Er zittert ja am ganzen Körper, als ob er Krämpfe hätte,“ stieß Warwara Nikolajewna wieder unwillig hervor.
„Und diese dort, die jetzt vor Unwillen über mich mit den Füßchen stampft und mich vor kurzem Bajazzo betitelte – das ist gleichfalls ein leibhaftiger Engel Gottes, und sie hat mich auch ganz richtig benannt. Doch gehen wir jetzt, Verehrtester, dem muß man ein Ende machen ...“
Sie gingen hinaus auf die Straße.