Er war schon vor Aljoscha aufgerufen worden, doch der Gerichtsvollstrecker hatte dem Vorsitzenden gemeldet, daß der Zeuge infolge plötzlichen Unwohlseins nicht sofort erscheinen könne, sobald er sich aber besser fühle, bereit sein werde, seine Aussagen zu machen. Das war übrigens von niemandem gehört worden, erst später wurde es erzählt. Sein Erscheinen wurde im ersten Augenblick fast gar nicht bemerkt: Die Hauptzeugen, besonders die beiden Gegnerinnen, waren schon verhört worden, die Neugier war vorläufig befriedigt. Im Publikum verspürte man sogar eine leichte Ermüdung. Nur einige Zeugen sollten noch vernommen werden, die aller Wahrscheinlichkeit nach nichts Besonderes mehr aussagen konnten, da doch alles schon ausgesagt worden war. Die Zeit aber rückte vor. Iwan Fedorowitsch näherte sich ganz absonderlich langsam, ohne jemanden anzusehen, den Kopf gesenkt, als dächte er stirnrunzelnd über etwas nach. Er war tadellos gekleidet, doch sein Gesicht machte, wenigstens auf mich, einen krankhaften Eindruck: es war etwas gleichsam Überirdisches in diesem Gesicht, etwas, das dem Gesichte eines sterbenden Menschen ähnlich sah. Seine Augen waren trübe. Da blieb er stehen, erhob seinen Blick und ließ ihn langsam über den ganzen Saal gleiten. Ich sah, wie Aljoscha plötzlich von seinem Stuhl aufsprang und angstvoll ein „Ach!“ hervorstieß. Ich erinnere mich dessen noch ganz genau. Doch nur wenige bemerkten es.
Der Vorsitzende erinnerte ihn zuerst daran, daß er ein unvereidigter Zeuge sei, daß er nach Belieben aussagen oder schweigen könne, doch dafür jedes Wort auf Treu und Gewissen sagen müsse usw. usw. Iwan Fedorowitsch hörte ihm zu und sah ihn mit seinem trüben Blick schweigend an. Plötzlich aber begann sein Gesicht sich allmählich zu verändern, auf seinen Lippen erschien ein Lächeln, und als der Vorsitzende vor Verwunderung zu sprechen aufhörte, da lachte er auch schon laut auf.
„Nun, und was noch?“ fragte er mit lauter Stimme.
Im Saale wurde es totenstill, man schien gleichsam etwas ... etwas vorauszufühlen!
Der Vorsitzende wurde unruhig.
„Sie ... fühlen sich vielleicht noch nicht ganz wohl?“ fragte er unsicher und suchte mit den Augen den Gerichtsvollstrecker.
„Beunruhigen Sie sich nicht, Ew. Exzellenz, ich fühle mich ganz wohl und kann Ihnen etwas sehr Interessantes mitteilen,“ antwortete ihm Iwan Fedorowitsch plötzlich völlig ruhig und ehrerbietig.
„Sie haben also eine besondere Mitteilung zu machen?“ fragte der Vorsitzende immer noch etwas mißtrauisch.
Iwan Fedorowitsch sah wieder zu Boden, zögerte einige Sekunden lang, erhob aber dann seinen Kopf und sagte gleichsam etwas stockend:
„Nein ... ich habe nichts ... Ich habe nichts Besonderes.“
Darauf wurden ihm Fragen vorgelegt. Er antwortete ersichtlich ungern, gezwungen, kurz, sogar mit offenbarem Widerwillen, der sich bei ihm mit jedem Wort noch zu steigern schien – obgleich er übrigens noch ganz verständig antwortete. Auf viele Fragen erklärte er, von den Dingen nicht unterrichtet zu sein. Auch von den Abrechnungen des Vaters mit Dmitrij Fedorowitsch wußte er nichts. „Ich habe mich nicht damit beschäftigt,“ sagte er kurz. Drohungen des Angeklagten gegen den Vater hatte er gehört. Vom Geldpaket hatte er durch Ssmerdjäkoff erfahren ...
„Alles ein und dasselbe,“ unterbrach er sich plötzlich, ersichtlich ganz erschöpft, „ich habe dem Gericht nichts Besonderes mitzuteilen.“
„Ich sehe, daß Sie sich nicht wohl fühlen und begreife Ihre Gefühle ...,“ bemerkte der Vorsitzende, und er wollte sich schon an die Parteien wenden, an den Staatsanwalt und den Verteidiger, mit der Aufforderung, wenn sie es für nötig hielten, an ihn Fragen zu stellen usw. ... als plötzlich Iwan Fedorowitsch mit erschöpfter Stimme sich an ihn wandte:
„Ew. Exzellenz, entlassen Sie mich, bitte, ich fühle mich sehr krank.“
Und mit diesen Worten, ohne die Erlaubnis abzuwarten, wandte er sich plötzlich um und wollte schon aus dem Saal gehen. Kaum aber hatte er einige Schritte gemacht, da blieb er stehen, als hätte er sich plötzlich bedacht, lächelte still und kehrte auf denselben Platz zurück, wo er soeben noch gestanden hatte.
„Ich bin, Ew. Exzellenz, wie jenes Bauernmädchen ... das da singt ... Sie kennen es ... wie war es doch: ‚Will ich – so s-pring ich, will ich nicht – so s-pring ich nicht!‘ Man lockt sie mit dem Sarafan oder mit dem blauen Brautrock, damit sie hineinspringe und man sie binde und zur Trauung führe, sie aber sagt: ‚Will ich – so s-pring ich, will ich nicht – so s-pring ich nicht ...‘ Das ist so ein Brauch bei einem unserer Volksstämme ...“
„Was wollen Sie damit sagen?“ fragte der Vorsitzende streng.
„Sehen Sie hier ...“ Iwan Fedorowitsch zog plötzlich ein Geldpaket hervor, „da ist das Geld ... dasselbe, das in dem Kuvert dort gelegen hat“ (er wies auf den Tisch mit den Sachbeweisen), „und um dessentwillen man den Vater erschlagen hat. Wohin soll ich es tun? Herr Gerichtsvollstrecker, übergeben Sie es.“
Der Gerichtsvollstrecker nahm das Paket in Empfang und übergab es dem Vorsitzenden.
„Auf welche Weise sind Sie in den Besitz dieses Geldes gelangt ... wenn das wirklich dasselbe Geld ist?“ fragte ihn der Vorsitzende verwundert.
„Ich habe es von Ssmerdjäkoff, vom Mörder, erhalten, gestern ... Ich bin bei ihm gewesen, kurz bevor er sich erhängt hat. Er hat den Vater erschlagen und nicht mein Bruder. Er hat ihn erschlagen, ich aber habe ihn zu töten gelehrt ... Wer wünscht denn nicht den Tod des Vaters? ...“
„Sind Sie bei Verstande oder nicht?“ entfuhr es unwillkürlich dem Vorsitzenden.
„Das ist es ja, daß ich bei Verstande bin ... bei gemeinem Verstande, genau so, wie auch Sie und wie alle diese ... Visagen!“ sagte Iwan, indem er sich plötzlich an das ganze Publikum wandte. „Man hat den Vater erschlagen, und plötzlich tun sie alle, als hätte es sie erschreckt!“ rief er knirschend vor Wut und in jähzorniger Verachtung aus. „Der Freund verstellt sich vor dem Freunde! Die Lügner!! Alle wünschen den Tod des Vaters. Das eine Geschmeiß verschlingt das andere Geschmeiß ... Gäbe es keinen Vatermord – so würden Sie sich alle ärgern und sofort wütend auseinandergehen ... Schauspieler! ‚Brot und Schauspiele!‘ Übrigens, auch ich bin gut! Haben Sie hier Wasser, geben Sie mir zu trinken, um Christi willen!“ Er faßte sich plötzlich an den Kopf.
Der Gerichtsvollstrecker näherte sich ihm sofort. Aljoscha sprang auf und rief angstvoll: „Er ist krank, glauben Sie ihm nicht, er ist wahnsinnig!“ Katerina Iwanowna erhob sich von ihrem Stuhle und sah starr vor Schreck Iwan Fedorowitsch an. Auch Mitjä war aufgesprungen, sah ihn mit wildem, bangem Lächeln an und hörte ihm gierig zu.
„Beruhigen Sie sich, ich bin nicht wahnsinnig, ich bin nur der Mörder!“ begann Iwan wiederum. „Von einem Mörder kann man keine schönen Reden verlangen“ ... fügte er plötzlich sinnlos hinzu und lächelte verzerrt.
Der Staatsanwalt beugte sich ersichtlich aufgeregt zum Vorsitzenden. Die Glieder des Gerichtshofes flüsterten erregt und besorgt untereinander. Fetjukowitsch spitzte die Ohren. Der ganze Saal erstarb in fieberhafter Spannung. Der Vorsitzende schien sich plötzlich zu besinnen.
„Zeuge, Ihre Worte sind unverständlich, und hier an diesem Ort unmöglich. Beruhigen Sie sich, wenn Sie können, und erzählen Sie dann ... wenn Sie wirklich etwas zu erzählen haben. Womit können Sie dieses Eingeständnis bezeugen ... wenn Sie nur nicht phantasieren?“
„Das ist es ja, daß ich keine Zeugen habe. Der Hund Ssmerdjäkoff wird aus dem Jenseits keine Beweise schicken ... im Paket. Sie wollen immer nur Pakete haben, und das eine sollte doch genügen. Nein, ich habe keine Zeugen ... Außer dem einen vielleicht ...“ fügte er – mit einem nachdenklichen Lächeln hinzu.
„Wer ist Ihr Zeuge?“
„Mit einem Schwanz, Ew. Exzellenz, das aber würde hier formwidrig sein! Le diable n’existe point! Schenken Sie ihm keine Aufmerksamkeit, er ist ja nur ein ganz elender kleiner Teufel,“ fügte Iwan gleichsam zutraulich hinzu und hörte plötzlich auf zu lachen. „Sicherlich hat er sich hier irgendwo versteckt, sehen Sie dort unter dem Tisch mit den Sachbeweisen! Wo sollte er denn sonst sitzen, wenn nicht dort? Sehen Sie, hören Sie mich an: Ich sagte ihm: ich will nicht schweigen, er aber redet von der geologischen Umwälzung ... Dummheiten! Nun, befreien Sie doch das Ungeheuer! ... Er hat eine Hymne gesungen, und das tut er, weil es ihm leicht ist! ... Was geht es mich an, ob die betrunkene Kanaille grölt ‚Ach, mein Wanjka fuhr nach Piter,‘ ich aber würde für zwei Sekunden Freude eine Quadrillion Quadrillionen geben! Sie kennen mich ja nicht! Oh, wie ist das alles dumm bei Ihnen! So nehmen Sie mich doch jetzt statt seiner! Zu irgend etwas bin ich doch hergekommen ... Warum, warum ist alles, was ist, so dumm, so dumm? ...“
Und er begann wieder langsam und wie tiefsinnig sich im Saal umzusehen. Doch jetzt war alles schon in heller Aufregung. Aljoscha sprang von seinem Platz auf und wollte zu ihm stürzen, doch da hatte der Gerichtsvollstrecker Iwan Fedorowitsch bereits am Arme gefaßt.
„Was soll denn das bedeuten?“ schrie ihn dieser an und blickte dem Gerichtsvollstrecker starr ins Gesicht, – und plötzlich packte er ihn jähzornig an den Schultern und schleuderte ihn zu Boden.
Doch da eilte schon die Polizeiwache herbei und ergriff ihn. Er aber stieß plötzlich einen rasenden Schrei aus. Und die ganze Zeit, während der man ihn bändigte und forttrug, schrie er laut unzusammenhängende Worte.
Es erhob sich ein allgemeiner Tumult. Ich erinnere mich nicht mehr genau aller weiteren Vorgänge, ich war selbst zu aufgeregt, um alles zu verfolgen. Ich weiß nur, daß, als alle sich einigermaßen beruhigt und begriffen hatten, um was es sich handelte, der Gerichtsvollstrecker einen Verweis erhielt, obgleich er dem Gerichtshof aufs bestimmteste versicherte, der Zeuge sei die ganze Zeit über gesund gewesen; der Doktor habe ihn untersucht, als ihm vor einer Stunde etwas schlecht geworden war, vor seinem Eintritt in den Saal habe er aber ganz vernünftig und zusammenhängend gesprochen, so daß etwas Derartiges vorauszusehen unmöglich gewesen wäre; und er fügte noch hinzu, daß der Zeuge selbst sogar darauf bestanden habe, die Aussage zu machen. Doch kaum fing man an, sich zu beruhigen und zu besinnen, als sich schon eine neue Szene abspielte: Katerina Iwanowna bekam einen hysterischen Anfall. Sie weinte und schluchzte laut, wollte aber nicht fortgehen: sie bat und flehte, man solle sie nicht hinausbringen, und plötzlich rief sie dem Vorsitzenden zu:
„Ich muß Ihnen noch etwas mitteilen, sofort ... sofort! ... Hier ist das Papier, der Brief ... nehmen sie ihn, lesen sie ihn, schneller, schneller! Das ist der Brief dieses Ungeheuers, dort, dieses, dieses!“ und sie wies auf Mitjä. „Er hat den Vater erschlagen, Sie werden es sofort sehen, er schreibt mir, wie er den Vater erschlagen würde! Der andere aber ist krank, schwer krank und im Delirium! Ich habe es schon vor drei Tagen bemerkt, daß er wahnsinnig ist!“
So schrie sie außer sich. Der Gerichtsvollstrecker nahm ihr das Papier ab, das er dann dem Vorsitzenden überreichte, sie aber fiel auf ihren Stuhl zurück und bedeckte das Gesicht mit den Händen. Sie schluchzte konvulsivisch und zitterte am ganzen Körper, bemühte sich aber aus aller Kraft, jeden Laut zu unterdrücken, wahrscheinlich aus Furcht, daß man sie sonst aus dem Saale bringen würde. Das Papier, das sie übergeben hatte, war derselbe Brief, den Mitjä im Gasthaus „Zur Hauptstadt“ geschrieben, und den Iwan Fedorowitsch den „mathematischen“ Beweis der Schuld Mitjäs genannt hatte. Und wehe, dieser Brief wurde denn auch als mathematisch klarer Beweis anerkannt! Wenn dieser Brief nicht gewesen wäre, so wäre Mitjä nicht zugrunde gerichtet worden, oder wenigstens wäre das nicht in so furchtbarer Weise geschehen! Ich wiederhole, es war schwer, alle Einzelheiten zu verfolgen. Auch jetzt noch erscheint mir das alles wie ein Chaos. Wahrscheinlich hat der Vorsitzende das neue Dokument darauf dem Gericht übergeben, dem Staatsanwalt, dem Verteidiger und den Geschworenen. Ich erinnere mich nur noch, wie man die Zeugin zu befragen anfing. Auf die Frage, ob sie sich beruhigt habe, die der Vorsitzende sehr höflich und geradezu mitfühlend an sie stellte, rief Katerina Iwanowna eifrig aus:
„Ich bin bereit, ich bin bereit! Ich bin durchaus imstande, Ihnen zu antworten,“ fügte sie hinzu, augenscheinlich in großer Angst, daß man sie aus irgendeinem Grunde nicht anhören werde.
Man bat sie, alles ausführlich zu erklären, was das für ein Brief sei, und unter welchen Umständen sie ihn erhalten habe.
„Ich habe ihn kurz vor seinem Verbrechen erhalten, geschrieben hat er ihn zwei Tage vorher, im Gasthaus ... Sehen Sie die Rückseite, er ist auf eine Rechnung geschrieben!“ rief sie atemlos. „Er haßte mich in dem Augenblick, weil er selbst eine gemeine Handlung begangen hatte, und diesem verworfenen Geschöpf nachlief ... und vor allem, weil er mir diese Dreitausend schuldete ... Oh, diese Dreitausend kränkten ihn, weil er sich ihretwegen so erniedrigt hatte! Mit diesen Dreitausend verhielt es sich so – ich bitte Sie, ich flehe Sie an, mich anzuhören! Vier Wochen vor der Ermordung seines Vaters kam er eines Morgens zu mir. Ich wußte, daß er Geld nötig hatte, und wußte auch, wozu – gerade, gerade dazu, um dieses Geschöpf verführen und mit ihr entfliehen zu können. Ich wußte damals, daß er mir untreu geworden war und mich verlassen wollte, und ich, ich selbst, gab ihm das Geld dazu, gab es ihm unter dem Vorwande, es meiner Schwester nach Moskau zu schicken, – und als ich es ihm übergab, sah ich ihm ins Gesicht und sagte ihm, er möge es absenden, wann er, wann er es wolle, ‚wenn auch erst nach einem Monat‘. Wie, sollte er wirklich nicht verstanden haben, daß ich ihm gerade ins Gesicht sagte: ‚Du hast Geld nötig, um mit jenem Geschöpf an mir zum Verräter zu werden, so nimm hier das Geld dazu, ich gebe es dir selbst, nimm es, wenn du so ehrlos bist, daß du es nehmen kannst!‘ Ich wollte ihn prüfen! Und was glauben Sie? Er nahm es, er nahm das Geld und ging davon! Und noch in derselben Nacht hatte er es mit diesem Geschöpf verschleudert, dort, in einer Nacht ... Doch er fühlte es, fühlte es nur zu gut, daß ich alles wußte, ich versichere Sie, er fühlte auch, daß ich ihn mit dem Gelde nur hatte prüfen wollen: wird er so ehrlos sein, daß er es von mir annimmt, oder nicht? Ich hatte ihm in die Augen gesehen, und er hatte mir in die Augen gesehen und alles verstanden, alles verstanden, und er behielt es doch, behielt es doch, das Geld, und ging zu ihr!“
„Du hast recht, Katjä!“ rief plötzlich Mitjä laut. „Ich sah dir in die Augen und begriff, daß du mich ehrlos machen wolltest, und nahm trotzdem dein Geld! Verachten Sie den Schurken, meine Herren, verachten Sie ihn alle, ich habe es verdient!“
„Angeklagter,“ schrie der Vorsitzende wütend, „noch ein Wort – und ich gebe den Befehl, Sie hinauszuführen!“
„Dieses Geld quälte ihn aber,“ fuhr Katjä krampfhaft sich beeilend fort, „er wollte es mir wiedergeben, er wollte es, das ist wahr, aber er brauchte das Geld für dieses Geschöpf. Und da hat er denn seinen Vater erschlagen, das Geld aber hat er mir doch nicht wiedergegeben, sondern ist zu ihr in jenes Dorf gefahren, wo man ihn ergriffen hat. Dort hat er auch dieses Geld verpraßt, das er vom ermordeten Vater gestohlen hatte. Und am Tage vor der Ermordung des Vaters hat er mir diesen Brief geschrieben, er hat ihn in der Betrunkenheit geschrieben, das habe ich sofort begriffen, hat ihn aus Wut geschrieben, denn er wußte, er wußte zu genau, daß ich diesen Brief niemandem zeigen würde, selbst wenn er den Mord ausführen sollte. Denn sonst hätte er ihn doch nicht geschrieben! Er wußte doch, daß ich mich niemals an ihm rächen, noch ihn zugrunde richten würde. Aber lesen Sie ihn, lesen Sie ihn aufmerksam, bitte, so aufmerksam wie möglich, und Sie werden sehen, daß er im Brief alles schon im voraus beschrieben hat: Wie er den Vater erschlagen wird, und wo das Geld bei ihm liegt. Sehen Sie, bitte, lassen Sie nichts aus, dort steht eine Phrase: ‚Ich werde ihn erschlagen, wenn nur Iwan abreisen würde.‘ Folglich hat er schon im voraus alles bedacht, wie er ihn umbringen könnte!“ Katerina Iwanowna wies schadenfroh und gehässig auf diesen einen Satz hin. Oh, man sah es, daß sie sich in alle Einzelheiten dieses verhängnisvollen Briefes hineingelesen und jedes Wort in ihm studiert hatte. „Wenn er nicht betrunken gewesen wäre, so hätte er ihn nicht geschrieben, doch lesen Sie nur, alles hat er in ihm schon im voraus angegeben, alles, ganz genau, wie er es später auch wirklich ausgeführt hat, das ist das ganze Programm!“
So brachte sie, außer sich, alle ihre Anklagen vor, und jetzt verachtete sie bereits alle Folgen, die sich daraus ergeben mußten, obgleich sie dieselben schon einen ganzen Monat vorausgesehen hatte. Denn schon lange hatte sie, bebend vor Rachegefühlen, darüber nachgedacht, ob sie diesen Brief nicht vor Gericht laut vorlesen sollte? Nun stürzte sie sich ohne Bedenken „kopfüber hinab“. Der Brief wurde dann laut vorgelesen, vom Sekretär, glaube ich, und machte einen erschütternden Eindruck. Man wandte sich an Mitjä mit der Frage, ob er diesen Brief anerkenne.
„Es ist mein Brief, mein Brief!“ rief Mitjä aus. „Wenn ich nicht betrunken gewesen wäre, so hätte ich ihn nicht geschrieben! ... Aus vielen Gründen haben wir uns gegenseitig gehaßt, Katjä, aber ich schwöre es, ich schwöre es, ich habe dich auch hassend geliebt, du aber hast mich – niemals geliebt!“
Er fiel auf seinen Platz zurück und ballte die Hände in der Verzweiflung. Der Staatsanwalt und der Verteidiger begannen ein Kreuzverhör, hauptsächlich über die eine Frage, was sie dazu bewogen hatte, dieses Dokument zu verschweigen und zuerst in einem ganz anderen Sinne und Ton auszusagen.
„Ja, ja, ich habe alles gelogen, ich habe gegen meine Ehre und mein Gewissen gelogen, aber ich wollte ihn retten, gerade darum wollte ich das, weil er mich haßt und verachtet!“ rief Katjä wie eine Wahnsinnige aus. „Oh, er hat mich tief verachtet, er hat mich immer verachtet, und, wissen Sie, wissen Sie, – er hat mich von dem Augenblick an verachtet, als ich ihm damals für das Geld zu Füßen fiel. Das habe ich wohl bemerkt ... Ich habe es damals sofort gefühlt, doch wollte ich es immer nicht glauben. Wie oft habe ich in seinen Augen gelesen: ‚Immerhin bist du damals selbst zu mir gekommen.‘ Oh, er hat es nie verstanden, nie hat er verstanden, warum ich damals zu ihm gelaufen war, er ist nur fähig, mich einer Niedrigkeit zu verdächtigen! Er beurteilt alle nach sich, er denkt, daß alle so niedrig sind wie er,“ knirschte Katjä jähzornig und schon ganz außer sich. „Heiraten aber wollte er mich nur darum, weil ich die Erbschaft machte, nur darum, darum! Ich habe es immer gewußt, daß er es nur darum wollte! Oh, dieses Tier! Er war überzeugt, daß ich dieser Schande wegen ewig vor ihm zittern würde, und daß er mich darum ewig verachten und über mich herrschen könnte – das war es, warum er mich heiraten wollte! So ist es, so ist es! Ich versuchte, ihn mit meiner Liebe zu besiegen, mit einer endlosen, grenzenlosen Liebe, sogar seinen Verrat an mir wollte ich ertragen, doch er verstand das alles nicht, nichts verstand er davon. Ja, kann er denn überhaupt etwas verstehen! Das ist doch ein Ungeheuer, ein Auswurf der Menschheit! Diesen Brief brachte man mir am folgenden Tage erst gegen Abend, und noch am Morgen, am Morgen desselben Tages wollte ich ihm alles verzeihen, alles, sogar seinen Treubruch!“
Der Vorsitzende und der Staatsanwalt beruhigten sie natürlich. Ich bin überzeugt, es war ihnen selbst unangenehm, ihre Aufregung so auszunutzen und diesen Bekenntnissen zuzuhören. Ich weiß noch, wie sie zu ihr sagten: „Wir verstehen Sie, glauben Sie uns, wir fühlen Ihnen nach, wie schwer es Ihnen sein muß,“ usw. usw., aber nichtsdestoweniger wurden noch weitere Aussagen diesem hysterischen und wahnsinnigen Weibe entlockt. Sie erzählte zuletzt mit außerordentlicher Klarheit – die sich in solchen überspannten Augenblicken zuweilen, wenn auch nur vorübergehend plötzlich einstellt –, daß Iwan Fedorowitsch in diesen zwei Monaten darüber fast seinen Verstand verloren habe, wie er „dieses Ungeheuers, diesen Mörder“, seinen Bruder, retten könnte.
„Er quälte sich maßlos,“ rief sie aus, „er wollte dessen Schuld vermindern, indem er mir eingestand, er selbst hätte seinen Vater nicht geliebt und vielleicht sogar seinen Tod gewünscht. Oh, er hat ein tiefes, abgrundtiefes Gewissen! Und wie hat er sich mit diesem Gewissen gequält! Er hat mir alles aufgedeckt, alles! Täglich kam er zu mir und sprach mit mir darüber, wie mit seinem einzigen Freunde. Ich habe die Ehre, sein einziger Freund zu sein!“ rief sie plötzlich aus, und ihre Augen blitzten, als hätte sie jemanden herausgefordert. „Er ist zweimal bei Ssmerdjäkoff gewesen. Eines Tages aber kam er zu mir und sagte: wenn nicht der Bruder, sondern Ssmerdjäkoff den Vater erschlagen hat (denn man hatte doch die Fabel verbreitet, Ssmerdjäkoff sei der Mörder), so bin auch ich vielleicht schuld daran, denn Ssmerdjäkoff wußte, daß ich den Vater nicht liebte, und kann sich daher eingebildet haben, auch ich wünschte den Tod des Vaters. Da nahm ich diesen Brief und zeigte ihn ihm, und er überzeugte sich, daß sein Bruder den Vater erschlagen hatte, und das schien ihn ganz niederzuschmettern. Er konnte es nicht ertragen, daß sein leiblicher Bruder – ein Vatermörder sein sollte! Noch vor einer Woche bemerkte ich, daß er von allen diesen Qualen krank geworden war. In den letzten Tagen, wenn er bei mir war, redete er irre. Ich sah es, wie der Wahnsinn sich bei ihm vorbereitete. Er ging umher und phantasierte, das hat man ihm sogar auf der Straße angesehen. Der angereiste Doktor hat ihn vor drei Tagen auf meine Bitte hin untersucht und mir darauf gesagt, daß er einem gefährlichen Nervenfieber entgegengehe, und das alles durch ihn, durch dieses Ungeheuer! Gestern aber hat er erfahren, daß Ssmerdjäkoff gestorben ist – und das hat ihn so erschüttert, daß er wahnsinnig geworden ist ... und alles wegen dieses Ungeheuers, alles, nur um dieses Ungeheuer zu retten!“
Oh, versteht sich, so sprechen und alles so bekennen, das kann man nur einmal im Leben – vor dem Tode vielleicht, oder wenn man das Schafott schon bestiegen hat. Doch auch Katjä befand sich in diesen Minuten in einer ähnlichen Stimmung. Das war allerdings dieselbe Katjä, die damals zu dem jungen Wüstling gegangen war, um ihren Vater zu retten, dieselbe Katjä, die soeben noch vor dem ganzen Publikum stolz und keusch ihre Mädchenehre zum Opfer gebracht und von der edelmütigen Handlung Mitjäs erzählt hatte, einzig und allein, um das Schicksal, das ihn erwartete, auch nur um ein geringes zu erleichtern. Und ebenso brachte sie sich auch jetzt selbst zum Opfer, diesmal aber für einen anderen, und vielleicht wurde sie sich erst in diesem Augenblick zum erstenmal dessen bewußt, wie teuer ihr dieser andere war! Sie opferte sich aus Angst um ihn, weil sie sich plötzlich einbildete, er hätte sich zugrunde gerichtet, mit der Aussage, daß er der Mörder sei und nicht der Bruder, – sie opferte sich, um ihn zu retten, seinen Namen, seinen Ruf! Indessen war ein verhängnisvoller Zweifel aufgetaucht: hatte sie nun das über Mitjä Ausgesagte erlogen – alles das über ihre früheren Beziehungen zu ihm? Nein, nein, sie hatte ihn nicht etwa absichtlich verleumdet, als sie ausrief, Mitjä verachte sie – wegen ihrer Verbeugung bis zur Erde! Sie glaubte selbst daran, sie war fest davon überzeugt, vielleicht schon von dem Augenblick ihrer Verbeugung an, daß der treuherzige Mitjä, der sie anbetete, im Inneren über sie lache und sie verachte. Und nur aus Stolz hatte sie sich damals mit ihm verlobt, in hysterischer und plötzlich auflodernder Liebe, die jedoch mehr einem Hasse glich, als einer Liebe. Oh, vielleicht hätte sich diese krampfhafte Liebe in eine wirkliche, große Liebe verwandelt: Katjä hatte ja nichts so sehr als das gewünscht! Doch jetzt hatte Mitjä sie bis in ihre tiefste Seele durch seinen Treubruch beleidigt, ihre Seele aber verstand nicht, zu verzeihen. Der Augenblick der Rache kam für sie so unerwartet, und alles, was sich solange schon und so schmerzhaft in dem beleidigten Mädchen angesammelt hatte, brach jetzt mit einemmal und ganz unerwartet aus ihr hervor. Sie gab Mitjä preis, aber zugleich gab sie auch sich selbst preis! Und versteht sich, kaum war ihr gelungen, endlich sich auszusprechen, als die Spannung auch schon nachließ, und die Scham sie überwältigte. Wieder bekam sie einen Anfall: sie fiel schluchzend und aufschreiend hin. Man trug sie hinaus. In demselben Augenblick aber, als man sie hinaustrug, stürzte Gruschenka mit einem Aufschrei zu Mitjä, so unerwartet und so schnell, daß sie niemand mehr zurückhalten konnte.
„Mitjä!“ schrie sie, „Mitjä, sieh, jetzt hat dich deine Schlange zugrunde gerichtet! Jetzt hat sie euch allen ihr wahres Gesicht gezeigt!“ schrie sie zitternd vor Wut dem Gerichtshof zu.
Auf einen Wink des Vorsitzenden ergriff man sie, um sie aus dem Saal hinauszuführen. Doch sie wollte sich nicht ergeben, sie schlug um sich und wollte zu Mitjä stürzen. Und Mitjä sprang mit einem Schrei auf und wollte gleichfalls zu ihr hin. Sie wurden beide überwältigt.
Ich denke, unsere Zuschauer, besonders die Damen, müssen befriedigt gewesen sein: das Schauspiel war reichhaltig und aufregend genug. Darauf, erinnere ich mich, trat der Moskauer Doktor ein. Ich glaube, der Vorsitzende hatte schon früher den Gerichtsvollstrecker zu ihm hinausgeschickt, damit Iwan Fedorowitsch Hilfe geleistet werde. Der Doktor meldete dem Gericht, daß Iwan Karamasoff an einem Nervenfieber gefährlich erkrankt sei und man ihn unverzüglich fortschaffen müsse. Auf die Fragen des Staatsanwalts und des Verteidigers sagte er aus, daß der Patient vor drei Tagen selbst zu ihm gekommen sei, und daß er ihm damals den nahe bevorstehenden Ausbruch eines Nervenfiebers vorausgesagt habe, doch habe der Patient nichts für sich tun wollen. „Er war schon damals nicht mehr ganz bei gesunder Vernunft und gestand mir selbst, daß er Halluzinationen habe, verschiedenen Personen, die schon gestorben seien, auf der Straße begegne, und daß zu ihm jeden Abend der Satan zu Gaste komme,“ schloß der Doktor. Nach diesem Bericht entfernte sich der berühmte Arzt. Der Brief, den Katerina Iwanowna vorgezeigt hatte, kam zu den übrigen Sachbeweisen. Nach einer kurzen Beratung beschloß der Gerichtshof, die gerichtliche Verhandlung fortzuführen, die beiden unerwarteten Aussagen Katerina Iwanownas und Iwan Fedorowitschs aber zu Protokoll zu nehmen.
Ich werde den weiteren Verlauf der Gerichtsverhandlungen nicht ausführlich beschreiben, denn die Aussagen der übrigen Zeugen waren nur Wiederholungen oder Bestätigungen der vorangegangenen, abgesehen von einzelnen Merkwürdigkeiten. Doch, ich wiederhole es, alles Wichtige ist in der Rede des Staatsanwalts, die ich jetzt sofort wiedergeben werde, übersichtlich zusammengefaßt. Alle waren durch die letzte Katastrophe erregt und wie elektrisiert und warteten mit brennender Ungeduld auf die Lösung, auf die Auseinandersetzung der Parteien und auf das Urteil. Fetjukowitsch war durch die Aussagen Katerina Iwanownas ersichtlich sehr erschüttert. Um so mehr triumphierte der Staatsanwalt. Als die Gerichtsverhandlung beendet war, wurde eine Unterbrechung der Sitzung angesagt, dieselbe dauerte fast eine Stunde. Schließlich eröffnete der Vorsitzende die Plaidoyers. Es war, glaube ich, gerade acht Uhr abends, als unser Staatsanwalt, Hippolyt Kirillowitsch, seine Anklagerede begann.