Als Hippolyt Kirillowitsch seine Rede begann, zitterte er am ganzen Körper. Kalter, krankhafter Schweiß trat auf seiner Stirn und an den Schläfen hervor, und er fühlte, wie ihn Frostschauer und Hitze abwechselnd überkamen. So erzählte er später selbst. Er hielt diese Rede für sein Chef-dœuvre, für das Chef-d’œuvre seines ganzen Lebens. Neun Monate darauf starb er an der galoppierenden Schwindsucht. So hatte er denn so unrecht nicht, wenn er diese Rede mit dem letzten Schwanengesang verglich, denn er fühlte schon damals sein Ende voraus. In diese Rede legte er sein ganzes Herz hinein und alles, was er an Verstand und Geist besaß. Zugleich bewies er damit ganz unerwarteterweise, daß er nicht nur alle Gefühle eines guten Staatsbürgers in sich getragen, sondern sich auch mit unseren „verdammten“ Fragen – wenigstens insoweit sie an unseren armen Hippolyt Kirillowitsch im Leben und in der Praxis herangetreten waren – beschäftigt hatte. Doch den größten Eindruck machten seine Worte dadurch, daß sie aufrichtig waren: er selbst war von der Schuld des Angeklagten überzeugt. Nicht auf Befehl, nicht weil ihn seine Stellung dazu zwang, klagte er ihn an. Nein, als er zur „Sühne“ aufrief, sah man ihm an, daß ihn der Wunsch, „die Gesellschaft zu retten“, erbeben machte. Selbst unser Damenpublikum, das doch schließlich Hippolyt Kirillowitsch feindlich gesinnt war, gab zu, einen außerordentlichen Eindruck davongetragen zu haben. Er begann mit einer schrillen, fortwährend gleichsam abreißenden Stimme, doch bald erstarkte sie und klang dann über den ganzen Saal hin, und so blieb sie bis zum Schluß der Rede. Als er aber seine Rede beendet hatte, war er einer Ohnmacht nahe.
„Meine Herren Geschworenen,“ begann der Ankläger, „die Kunde von der Tat, über die hier Gericht gehalten werden soll, ist wie Donnerschall durch ganz Rußland gezogen. Aber worüber, fragt es sich, ist man denn so erstaunt, weswegen braucht man sich denn so besonders zu entsetzen? Und noch dazu wir, gerade wir? Wir sind doch so gewöhnt an alles! Aber gerade darin liegt ja unser Entsetzen, daß solche dunkle Taten für uns fast aufgehört haben, furchtbar zu sein! Das ist der Grund, warum man sich entsetzen muß: daß wir uns an solche Taten schon gewöhnt haben – und nicht wegen eines einzelnen Verbrechens des einen oder anderen Individuums! Wo liegen nun die Gründe, die Ursachen unserer Gleichgültigkeit, unseres lauwarmen Verhaltens zu solchen Taten, zu solchen Kennzeichen der Zeit, die uns eine wahrlich nicht beneidenswerte Zukunft ankünden? Liegen sie etwa in unserem Zynismus oder in der frühzeitigen Erschöpfung des Geistes und der Vorstellungskraft unserer noch so jungen, doch dafür so frühzeitig gebrechlich gewordenen Gesellschaft? Oder liegen sie in unseren schwer erschütterten sittlichen Grundlagen, oder schließlich darin, daß es diese sittlichen Grundlagen vielleicht überhaupt nicht gibt? Ich will darüber nicht entscheiden, doch nichtsdestoweniger sind diese Fragen qualvoll, und jeder Bürger muß nicht nur, sondern ist sogar verpflichtet, unter ihnen zu leiden. Unsere Presse ist ja allerdings noch etwas zaghaft, aber sie hat doch schon der Gesellschaft gewisse Dienste geleistet, denn niemals hätten wir ohne sie eine einigermaßen zutreffende Kenntnis erlangt von jenen Schrecken des zügellosen Willens und der sittlichen Gesunkenheit, die sie ununterbrochen in ihren Spalten Allen kundtut, – nicht nur den Wenigen, die die Säle des neuen öffentlichen, uns von der gegenwärtigen Regierung geschenkten Gerichts besuchen. Und was lesen wir jetzt fast täglich? Oh, von Dingen, vor denen selbst diese uns jetzt vorliegende Tat erbleicht und fast zu etwas ganz Gewöhnlichem wird. Doch das Wichtigste dabei ist, daß die Mehrzahl unserer russischen, unserer nationalen Kriminalsachen gerade von etwas ganz Allgemeinem Zeugnis ablegt, von einem gewissen allgemeinen Übel, das mit uns verwachsen ist, und von dem uns zu heilen sehr schwer ist, da es eben als allgemeines Übel auftritt. Da haben wir einen jungen glänzenden Offizier aus der höheren Gesellschaft, der kaum erst sein Leben und seine Laufbahn begonnen hat. Und dieser Aristokrat geht hin und ermordet heimlich, gemein, ohne die geringsten Gewissensskrupel, einen kleinen Beamten, der teilweise sein Wohltäter gewesen war, ermordet auch dessen Dienstmagd, um sein Schulddokument und mit diesem zusammen noch das übrige bißchen Geld des kleinen Beamten zu rauben! ‚Das Sümmchen ist doch immerhin nicht zu verachten, es wird mir schon bei meinen Lebemannvergnügungen zustatten kommen oder bei meiner ferneren Laufbahn.‘ Und nachdem er sie beide erdrosselt hat, schiebt er jeder Leiche noch ein Kissen unter den Kopf und macht sich dann davon. Da haben wir einen jungen Helden, der mit Ehrenzeichen für Tapferkeit behangen ist und räuberisch auf der Landstraße die Mutter seines Anführers und Wohltäters ermordet. Indem er seine Helfershelfer zur Mitwirkung überredet, gesteht er noch selbst, daß diese Frau ihn wie einen leiblichen Sohn liebe und daher, wenn sie mit ihm reist, allen seinen Ratschlägen folgen und keine Vorsichtsmaßregeln ergreifen werde. Mag das ein Ungeheuer sein – ich wage jetzt, in unserer Zeit, nicht mehr zu sagen, daß jener ein vereinzelt dastehendes Ungeheuer sei. Ein anderer wird vielleicht nicht ermorden, denkt und fühlt aber ganz so wie jener, ist in seiner Seele ebenso verbrecherisch wie jener. In der Stille, wenn er mit seinem Gewissen allein ist, fragt vielleicht auch er sich: ‚Ja, was ist denn nun die Ehre, und ist Blut nicht nur ein Vorurteil?‘ Vielleicht wird man von mir sagen, ich sei ein kranker, ein hysterischer Mensch, ich verleumde und übertreibe maßlos, ich phantasiere. Mag sein, schön ... Gott, ich wäre der erste, der sich darüber freute, wie gern würde ich das alles sein wollen! Oh, glauben Sie mir meinetwegen nicht, halten Sie mich für einen Kranken, aber behalten Sie nur meine Worte: selbst wenn nur ein Zehntel, nur ein Zwanzigstel meiner Worte wahr ist, – so ist es schon furchtbar! Sehen Sie doch nur, meine Damen und Herren, sehen Sie doch nur, wie die heranwachsende Jugend sich bei uns erschießt – und das geschieht ohne die geringste Hamletfrage nach dem, was dort sein wird, ohne das geringste Anzeichen eines Vorhandenseins solcher Fragen, als wäre dieses Kapitel über unseren Geist und über alles, was uns nach dem Grabe erwartet, schon längst aus ihrer Natur getilgt, als wäre es schon längst begraben und mit Sand zugeschüttet. Und nehmen Sie jetzt unsere Sittenverderbnis, unsere Wollüstlinge. Fedor Pawlowitsch, das unglückliche Opfer des vorliegenden Prozesses, ist ja im Vergleich mit manchen von ihnen fast ein unschuldiges Kindlein, wir aber kannten ihn doch alle, er – ‚lebte doch unter uns‘! ... Ja, mit der Psychologie des russischen Verbrechens werden sich einmal vielleicht die hervorragendsten Geister beschäftigen, sowohl unsere als die europäischen, denn wahrlich, das Thema ist es wert. Doch diese Studien werden erst später einmal gemacht werden, dereinst, wenn die Muße dazu vorhanden und diese ganze tragische Abgeschmacktheit des gegenwärtigen Augenblicks in einen entfernteren Hintergrund zurückgetreten ist, so daß man sie klarer und leidenschaftsloser wird betrachten können, als z. B. Leute, wie ich, dies zu tun vermögen. Jetzt jedoch sind wir entweder entsetzt oder wir tun, als wenn wir entsetzt wären, im Grunde aber kosten wir mit Hochgenuß das Schauspiel, wie eben Liebhaber starker, exzentrischer Empfindungen, die in unseren zynisch-faulen Müßiggang etwas Bewegung bringen, oder schließlich, wir scheuchen die Gespenster wie kleine Kinder mit den Händen von uns fort und pressen den Kopf ins Kissen, bis die furchtbare Erscheinung vergeht, um sie darauf sofort in Heiterkeit und Spielen zu vergessen. Aber irgend einmal müssen doch auch wir unser Leben nüchtern und denkend beginnen, auch wir müssen einmal einen Blick auf uns, als auf eine Gesellschaft, werfen, auch wir müssen doch wenigstens etwas über unser gesellschaftliches Leben nachdenken, wir müssen uns doch etwas unter ihm denken oder auch nur mit dem Nachdenken beginnen. Unser großer Schriftsteller[30] der vergangenen Epoche ruft zum Schluß seines größten Werkes aus, wo er ganz Rußland mit einer Troika, die zu einem unbekannten Ziele jagt, vergleicht: ‚Ach Troika, wilde Troika, wer hat dich erdacht!‘ – und in stolzer Begeisterung fügt er noch hinzu, daß vor der jagenden Troika alle Völker ehrerbietig ausweichen werden. Schön, mag das so sein, mögen sie ausweichen, ehrerbietig oder nicht, doch meinem sündigen Blick will scheinen, daß der geniale Künstler diesen Schluß entweder in einem Anfall kindlich unschuldiger Schönträumerei geschrieben hat oder einfach aus Furcht vor der Zensur. Denn wenn man in seine Troika nur seine Helden einspannen wollte, seine Ssobakewitschs, Nosdreffs und Tschitschikoffs, so würde man mit diesen Trabern nicht weit kommen, wen immer man auch als Lenker in den Schlitten setzen wollte! Und das sind noch Traber von damals, die noch lange nicht an unsere jetzigen heranreichen. Jetzt ist man gewandter ...“
Hier wurde die Rede Hippolyt Kirillowitschs durch Applaus unterbrochen. Der Liberalismus in der Auslegung der Troika hatte gefallen. Zwar wurde nur hier und da vereinzelt ein paarmal in die Hände geklatscht, so daß selbst der Vorsitzende es nicht für nötig fand, sich mit der Drohung, den Saal räumen zu lassen, an das Publikum zu wenden, und sich nur mit einem strengen Blick auf die Ruhestörer begnügte. Doch für Hippolyt Kirillowitsch war es eine Ermunterung: bis jetzt hatte man ihm noch niemals applaudiert! So viele Jahre hatte man ihn nicht hören wollen, und da war plötzlich die Möglichkeit gegeben, zu ganz Rußland zu sprechen!
„In der Tat,“ fuhr er fort, „was ist nun diese Familie der Karamasoffs, die plötzlich eine so traurige Berühmtheit erlangt hat, sogar bis in die fernsten Gegenden Rußlands? Vielleicht übertreibe ich, aber es will mir scheinen, daß in dem Bilde dieser kleinen Familie einige allgemeine Grundelemente unserer gegenwärtigen intelligenten Gesellschaft gleichsam flüchtig festgehalten sind, – oh, nicht alle Elemente, und selbst die flüchtig darin auftauchenden erscheinen nur in mikroskopischer Gestalt, ‚wie die Sonne in einem kleinen Tropfen Wassers‘, aber es spiegelt sich doch etwas darin wieder, es spricht sich doch etwas darin aus. Nehmen wir zuerst diesen unglücklichen, zügellosen und verderbten Alten, diesen ‚Familienvater‘, der ein so trauriges Ende gefunden hat. Von Geburt ist er ein Edelmann; seine Laufbahn beginnt er als mittelloser junger Mann, der bei gastfreundlichen Bekannten sein Leben fristet. Darauf erwischt er durch die plötzliche, unerwartete Heirat ein kleines Kapital, nämlich die Mitgift seiner Frau, und entpuppt sich als geriebener Geschäftsmann, ist aber dabei ein schmeichlerischer Hausnarr mit einem Keim geistiger Begabungen, die übrigens nicht schwach waren. Vor allem aber wird er ein Wucherer. Mit den Jahren, d. h. mit dem Anwachsen des Kapitals, wird er mutiger und stolzer. Die Unterwürfigkeit und das Sicheinschmeichelnwollen verschwinden, es bleibt nur ein spöttischer, boshafter Zyniker und Wollüstling in ihm übrig. Die geistige Seite ist ganz und gar getilgt, die Lebensgier aber ist ungeheuerlich geworden. Das ganze Leben reduziert sich für ihn darauf, daß er in ihm nichts anderes mehr sieht und sucht als Lüstlingsgenüsse. Und sie lehrt er auch seinen Kindern. Von irgendwelchen geistigen Vaterpflichten sehen wir nichts. Er lacht über sie, läßt seine kleinen Kinder auf dem Hinterhof erziehen und ist froh, wenn man kommt und sie ihm fortnimmt. Er vergißt sie vollständig. Alle sittlichen oder vielmehr unsittlichen Grundsätze des Alten laufen darauf hinaus: après moi le déluge. Er ist der Typ alles dessen, was dem Begriffe, den wir von einem Staatsbürger haben, entgegengesetzt ist, die ausgesprochenste Ausscheidung, die krasseste und sogar feindlichste Absonderung von der Gesellschaft: ‚Mag meinetwegen die ganze Welt in Flammen aufgehen, wenn nur ich es gut habe.‘ Und er hat es gut, er ist vollkommen zufrieden, er will noch mit Vergnügen so weiterleben, zwanzig Jahre, dreißig Jahre! Er betrügt seinen leiblichen Sohn um dessen Geld, um das Erbteil seiner Mutter, und mit diesem Gelde, das er dem Sohne nicht auszahlt, will er ihm, seinem leiblichen Sohne, die Geliebte abspenstig machen! Nein, ich will die Verteidigung des Angeklagten nicht dem hochtalentvollen Herrn Verteidiger abtreten. Auch ich werde die Wahrheit sagen, auch ich begreife, wie groß der Zorn gewesen sein muß, den der Vater im Herzen seines Sohnes aufgehäuft hat. Doch genug, genug von diesem Vater, er hat seine Strafe erhalten. Vergessen wir nur nicht, daß das ein Vater war, und zwar einer von den zeitgenössischen Vätern. Oder betrüge ich vielleicht die Gesellschaft, wenn ich sage, daß er einer von – sogar vielen zeitgenössischen Vätern war? Leider nicht! Viele von den zeitgenössischen Vätern drücken sich nur nicht so zynisch aus, wie jener tat, denn sie sind wohlerzogener, gebildeter, im geheimsten Innern aber huldigen sie fast alle – ‚derselben Philosophie‘. Doch schön, mag ich ein Pessimist sein, meinetwegen. Wir sind doch schon übereingekommen, daß Sie mir dies verzeihen werden. Wir können also im voraus abmachen: Sie werden mir nicht glauben, und ich werde reden ... Doch abgesehen davon, erlauben Sie mir, daß ich mich ausspreche, vielleicht werden Sie einige meiner Worte behalten. Da haben wir nun die Kinder dieses Alten, dieses Familienvaters: der eine ist vor uns auf der Anklagebank, von ihm wird später die Rede sein; der anderen will ich nur flüchtig Erwähnung tun. Von diesen anderen ist der ältere einer der zeitgenössischen jungen Männer mit glänzender Bildung und einem recht starken Verstande, der aber an nichts mehr glaubt, der schon vieles, gar zu vieles über Bord geworfen und aus dem Leben ausgestrichen hat, ganz genau so, wie es auch sein Vater getan. Wir alle haben ihn gehört, unsere Gesellschaft hat ihn freundlich aufgenommen. Seine Meinungen hat er nicht verheimlicht, im Gegenteil, sogar ganz im Gegenteil, weswegen ich denn auch jetzt wage, ein wenig aufrichtig über ihn zu sprechen – doch natürlich nicht über ihn als Privatperson, sondern nur über ihn als Familienglied der Karamasoffs. Gestern endete hier, an der Peripherie der Stadt, durch Selbstmord ein kränklicher Idiot, der gewesene Diener und vielleicht der illegitime Sohn Fedor Pawlowitschs: Ssmerdjäkoff. Er hat mir in der Voruntersuchung unter hysterischen Tränen erzählt, wie dieser junge Karamasoff, Iwan Fedorowitsch, ihn durch seine geistige Haltlosigkeit entsetzt habe: ‚Alles ist ihrer Meinung nach erlaubt,‘ sagte der Arme zitternd, ‚alles, was es in der Welt nur gibt, und nichts darf hinfort mehr verboten sein, – das haben sie mir die ganze Zeit über gesagt und gelehrt.‘ Es scheint, daß der Idiot über dieser These endgültig den Verstand verloren hat, obgleich natürlich auch seine Fallsucht und diese ganz schreckliche Katastrophe, die über das Haus hereingebrochen ist, das Ihrige zu seiner Geisteszerrüttung beigetragen haben werden. Trotzdem hat dieser Idiot eine äußerst, äußerst interessante Bemerkung gemacht, die auch einem klügeren Beobachter, als er sein konnte, Ehre gemacht hätte, und eigentlich habe ich nur wegen dieser Bemerkung seiner erwähnt. ‚Wenn es einen von den Söhnen gibt,‘ sagte er mir wortwörtlich, ‚der am meisten Fedor Pawlowitsch dem Charakter nach gleicht, so sind gerade Sie es, Iwan Fedorowitsch.‘ Mit dieser Bemerkung breche ich die begonnene Charakteristik ab, da ich eine Fortsetzung derselben nach dem Gesagten für unzart halten würde. Oh, ich will keine weiteren Schlüsse ziehen und seinem jungen Leben nur Unheil verkünden, wie ein pessimistischer Unglücksrabe. Wir alle haben heute hier in diesem Saal gesehen, daß noch eine unmittelbare Kraft der Wahrheit in seinem jungen Herzen lebt, daß das Gefühl der Familienbande noch nicht durch Unglauben erstickt ist, oder durch sittlichen Zynismus, den er mehr durch Erbschaft erlangt haben mag als durch die eigene Gedankenverirrung. Und nun der andere Sohn. Oh, das ist noch ein Jüngling, ein gottesfürchtiger und demütiger, der, im Gegensatz zur finsteren, zerstörenden Weltanschauung seines Bruders, sucht, sozusagen in den ‚Grundlagen des Volkes‘ Fuß zu fassen, oder in dem, was bei uns mit diesem wohlweisen Ausdruck in gewissen theoretischen Winkeln unserer denkenden Intelligenz so genannt wird. Er, ja sehen Sie mal, er hat sich ans Kloster gehangen: viel fehlte nicht, und er hätte sich scheren lassen, wäre Mönch geworden. In ihm hat sich, wie mir scheinen will, gleichsam unbewußt schon früh jene zaghafte Verzweiflung ausgedrückt, in der sich heutzutage so viele in unserer Gesellschaft – da sie sich vor deren Zynismus und Verderbnis fürchten und dieses ganze Übel der europäischen Aufklärung zuschreiben – an den ‚Heimatboden‘, wie sie sagen, anschmiegen. Das heißt also, daß sie sich in die mütterlichen Arme des Heimatbodens flüchten. Sie sind wie Kinder, die von Gespenstern geschreckt werden, und die es dann an der verdorrten Brust der geschwächten Mutter schließlich nur noch danach verlangt, ruhig einschlafen zu können und womöglich das ganze Leben zu verschlafen, nur um nicht mehr die sie schreckenden Erscheinungen sehen zu müssen. Meinerseits wünsche ich dem guten, begabten Jüngling das Beste, wünsche ihm vor allem, daß seine jugendliche Seelenschönheit und sein Streben zu dem sogenannten Volksboden sich fernerhin nicht, wie es so oft geschieht, von der sittlichen Seite her in einen finsteren Mystizismus und von der staatsbürgerlichen in einen stumpfen Chauvinismus verwandle, – zwei Eigenschaften, die die Nation vielleicht mit noch größerem Unheil bedrohen, als es selbst die frühe Zersetzung durch eine falsch verstandene und umsonst erworbene europäische Aufklärung ist, an der sein älterer Bruder leidet.“
Für den Chauvinismus und Mystizismus wurde wieder ein paarmal in die Hände geklatscht. Hippolyt Kirillowitsch hatte sich natürlich hinreißen lassen. Im Grunde hatte das alles wenig mit der Sache zu tun, ganz abgesehen davon, daß es ziemlich unklar war. Doch der arme schwindsüchtige und verbitterte Mensch wollte sich gar zu gern wenigstens einmal im Leben aussprechen. Später meinte man bei uns, daß er sich bei der Charakterisierung Iwan Fedorowitschs von einem sogar unfeinen Gefühl habe leiten lassen, da jener ihn zwei- oder dreimal in der Gesellschaft gelegentlich eines Disputs festgelegt hatte, und Hippolyt Kirillowitsch in Erinnerung dessen die Gelegenheit benutzt habe, um sich dafür zu rächen. Ich weiß nicht, ob man recht hatte, wenn man das annahm. Jedenfalls war dies erst die Einleitung der Rede. Späterhin sprach er sachlicher.
„Und nun ist da der dritte Sohn dieses zeitgenössischen Familienvaters,“ fuhr Hippolyt Kirillowitsch fort, „er sitzt vor uns auf der Anklagebank. Vor uns liegen seine Taten, sein Leben und sein Charakter: die Zeit kam und alles rollte sich auf, alles wurde offenbar. Im Gegensatz zum ‚Europäismus‘ und dem ‚Volklichen‘ seiner Brüder, stellt er gleichsam das unmittelbare Rußland dar, – oh, nicht das ganze, nicht das ganze, und Gott bewahre uns davor, daß es das ganze sei! Und doch – hier ist es, unser Rußland, hier fühlt und hört man unser Mütterchen. Oh, wir sind ja so unmittelbar, wir sind zugleich gut und böse, in wundernehmender Mischung, wir sind Verehrer Schillers und der Aufklärung, und zu gleicher Zeit toben wir in Gasthäusern umher und reißen unseren trunkenen Zechkumpanen die Bärte aus. Oh, wir pflegen auch sonst gut und edel zu sein, nicht nur dann allein, wenn wir es selbst gut haben. Im Gegenteil, wir lassen uns sogar leidenschaftlich – gerade leidenschaftlich – für die edelsten Ideale begeistern, doch nur unter der Bedingung, daß sie sich ohne unser Dazutun erreichen lassen, daß sie von selbst vor uns auf den Tisch fallen, meinetwegen gleich vom Himmel herab, und die Hauptsache: daß es umsonst, umsonst geschehe, daß wir nichts dafür zu zahlen brauchen. Zu zahlen lieben wir ganz und gar nicht, dafür aber lieben wir sehr, zu bekommen, – in jeder Beziehung. Oh, gebt, gebt uns alle möglichen Lebensgüter – unbedingt alle möglichen, unter dem tun wir es nicht – und vor allem, setzt unserem Temperament nichts in den Weg, in keiner Beziehung, dann werden wir beweisen, daß auch wir gut und edel sein können! Wir sind nicht habsüchtig, o nein, aber einstweilen, gebt uns nur Geld, mehr, mehr, so viel wie möglich Geld, und ihr werdet sehen, wie großmütig, mit welch einer Verachtung für das verächtliche Metall, wir es in einer einzigen Nacht, während eines zügellosen Gelages, um uns werfen werden. Gibt man uns aber kein Geld, so werden wir zeigen, wie wir es uns zu verschaffen wissen, wenn wir dies nur wollen! Doch davon wird noch später die Rede sein; ich will die Reihenfolge nicht unterbrechen. Ganz zuerst sehen wir einen armen, verlassenen Knaben ‚auf dem Hinterhof ohne Stiefelchen‘, wie sich vorhin unser verehrter Mitbürger, leider ausländischer Herkunft, ausdrückte. Ich sage nochmals, – ich trete niemandem die Verteidigung des Angeklagten ab! Ich bin der Ankläger, ich will auch der Verteidiger sein. Ja, auch wir sind Menschen, auch wir verstehen nachzuempfinden, wie tief und schmerzlich sich ihm die ersten Kindheitseindrücke im Vaterhause einprägen mußten, und wir verstehen nur zu gut, wie diese dann auf seinen Charakter eingewirkt haben. Doch da sehen wir den Knaben schon als Jüngling, als jungen Mann, als Offizier. Für wilde Streiche und für die Herausforderung zum Duell wird er in eine der fernen Grenzstädte unseres gesegneten Rußlands geschickt. Dort dient er, dort lebt er wüst drauflos, und, versteht sich, – ein großes Schiff braucht ein großes Fahrwasser. Wir brauchen Mittel, zuerst und vor allem Mittel, und da kommt es denn nach langem Hin und Her zwischen ihm und dem Vater zur Abmachung, daß ihm die letzten sechstausend Rubel von der Erbschaft ausgezahlt werden sollen, dann aber auch nichts mehr. Er erhält das Geld. Beachten Sie wohl: er stellt ein Dokument aus, und es liegt außerdem noch ein Brief von ihm vor, in dem er sich von dem Rest fast lossagt und mit diesen Sechstausend die Streitigkeiten mit dem Vater wegen der Erbschaft abbricht. Darauf kommt es zu jener Begegnung zwischen ihm und dem jungen Mädchen, dessen edlen Charakter wir alle kennen. Oh, ich unterfange mich nicht, die Einzelheiten zu wiederholen, wir haben sie ja soeben gehört: hierbei handelt es sich um Ehre, um Selbstaufopferung, und ich übergehe das weitere. Die Gestalt des jungen Mannes, der zwar leichtsinnig und verderbt ist, der sich aber trotzdem vor dem wahren Edelmut, vor der höheren Idee beugt, trat außerordentlich sympathisch vor unser geistiges Auge. Doch gleich darauf wurde uns in diesem selben Saale ganz unerwartet die andere Seite gezeigt. Wiederum wage ich nicht, mich auf Vermutungen oder Untersuchungen einzulassen, warum das geschah. Dieselbe Dame, die ihn uns zuerst so sympathisch geschildert hatte, sagt uns unter Tränen lange unterdrückten Unwillens, daß er, gerade er der erste war, der sie wegen ihrer unvorsichtigen, immerhin edelmütigen, immerhin großmütigen Handlung verachtete. Bei ihm, bei dem Verlobten dieses Mädchens, erscheint früher als bei allen anderen jenes spöttische Lächeln, daß sie nur von ihm allein nicht ertragen konnte. Und als sie schon wußte, daß er ihr untreu geworden war, im Herzen ihr schon die Treue gebrochen hatte, als sie schon wußte, daß sie alles von ihm werde hinnehmen müssen, selbst seinen Treubruch – bietet sie ihm absichtlich dreitausend Rubel an und gibt ihm dabei deutlich, nur zu deutlich zu verstehen, daß sie ihm das Geld zur Ausführung des Treubruchs anbietet! ‚Wirst du es annehmen, wirst du so zynisch sein?‘ fragt sie stumm mit ihrem kritischen, prüfenden Blick. Er sieht sie an, begreift ihren Gedanken vollkommen – er hat doch selbst hier vor allen Anwesenden gestanden, daß er alles begriffen habe – und eignet sich einwandlos diese Dreitausend an und verpraßt sie in zwei Tagen mit seiner neuen Geliebten! Woran soll man jetzt glauben? Der ersten Legende – dem Ausbruch hohen Edelmuts, der ihn die letzten Mittel, die ihm noch zum Leben übrig geblieben sind, fortgeben und vor der Tugend sich verbeugen läßt, oder der so widerlichen Kehrseite der Medaille? Gewöhnlich pflegt es im Leben so zu sein, daß man bei zwei Gegensätzen die Wahrheit in der Mitte suchen muß. Im vorliegenden Fall ist es aber nicht so. Am wahrscheinlichsten ist, daß er das erstemal aufrichtig edelmütig und das zweitemal aufrichtig niedrig gehandelt hat. Warum? Weil wir eben weite Naturen sind, Karamasoffsche Naturen – darauf gehe ich ja hinaus – Naturen, sage ich, die fähig sind, alle möglichen Widersprüche in sich zu vereinigen und zu gleicher Zeit beide Abgründe zu erfassen, den Abgrund über uns, den Abgrund der höchsten Ideale, und den Abgrund unter uns, den Abgrund der schändlichsten Gesunkenheit. Erinnern Sie sich, meine Herren, des glänzenden Gedankens, den vorhin ein junger Beobachter aussprach, Herr Rakitin, der tief und eingreifend das Wesen der ganzen Familie der Karamasoffs erfaßt hat: ‚Für diese zügellosen, haltlosen Naturen ist die Empfindung der Niedrigkeit ihrer Gesunkenheit ein ebenso großes Bedürfnis, wie die Empfindung des höheren Edelmuts‘. – Und das ist wahr: gerade dieser widernatürlichen Mischung bedürfen sie jederzeit, zu jeder Stunde. Zwei Abgründe, zwei Abgründe in ein und demselben Augenblick, meine Damen und Herren, ohne diese Gleichzeitigkeit sind wir unglücklich und unbefriedigt, ist unser Leben nicht ausgefüllt. Wir sind weite Naturen, weit wie unser Mütterchen Rußland, wir umfangen alles, wir leben uns mit allem ein! ... Übrigens, meine Herren Geschworenen, wir sind jetzt auf diese Dreitausend zu sprechen gekommen und so will ich bei der Gelegenheit etwas vorgreifen. Können Sie glauben, meine Herren Geschworenen, daß er bei seinem Charakter, damals, als er das Geld erhalten hatte, und dazu noch in dieser Weise, für diese Schande, diese Schmach, diese tiefste Erniedrigung, – können Sie glauben, daß er am selben Tage fähig gewesen sei, wie er sagt, die Hälfte des Geldes in ein Zeug einzunähen und darauf die Charakterfestigkeit zu haben, dieses Geld einen ganzen Monat lang am Halse zu tragen, trotz aller Versuchungen und trotz seiner fatalen Geldverlegenheit? Weder bei wüsten Gelagen im Gasthause, noch selbst in den Stunden, als er die Stadt verlassen mußte, um sich von Gott weiß was für Subjekten dieses notwendige Geld zu verschaffen, – um die Geliebte endlich vor den Versuchungen seines Rivalen, seines alten Vaters, in Sicherheit zu bringen – selbst in diesen Augenblicken will er nicht gewagt haben, das eingenähte Geld anzurühren! Meine Herren, ist das glaubwürdig – bei diesem Charakter? Meiner Meinung nach hätte er schon allein aus dem einen Grunde, um die Geliebte vor den Versuchungen des Alten zu beschützen, sein eingenähtes Geld herausnehmen und selbst in der Stadt bleiben müssen, um sie unausgesetzt bewachen zu können, und um dann, wenn sie ihm zusagt: ‚Ich bin dein‘, unverzüglich mit ihr irgendwohin fortziehen zu können, fort aus diesen verhängnisvollen Verhältnissen. Doch nein, er rührt seinen Talisman nicht an. Und aus welchem Grunde will er dies nicht getan haben? Der erste Grund war, daß er, wenn sie ihm gesagt hätte: ‚Ich bin dein, bring mich fort, wohin du willst‘, daß er dann kein Geld zum Fortbringen gehabt hätte. Doch dieser erste Grund trat, nach den Worten des Angeklagten, weit zurück vor dem zweiten. ‚Solange,‘ sagt er, ‚so lange ich dieses Geld noch an meinem Halse trage – bin ich ein Schuft, aber kein Dieb, denn ich kann dann jederzeit zu meiner von mir beleidigten Braut gehen, kann die Hälfte der betrügerisch von ihr angeeigneten Summe zurückgeben und immer noch sagen: ‚Sieh, ich habe die Hälfte der Dreitausend durchgebracht und damit bewiesen, daß ich ein schwacher und unsittlicher Mensch bin, und, wenn du willst, sogar ein Schuft‘ (ich bediene mich der Worte des Angeklagten selbst), ‚aber wenn ich auch ein Schuft bin, so bin ich doch noch kein Dieb, denn wenn ich ein Dieb wäre, so würde ich dieses übriggebliebene Geld, die Hälfte des Ganzen, nicht zurückgebracht, sondern mir gleichfalls, wie die erste Hälfte, angeeignet haben.‘ Wahrlich – eine sonderbare Erklärung der Tatsache! Dieser Wildeste aller Wilden, dieser Leidenschaftsmensch, der so schwach ist, daß er der Versuchung, die dreitausend Rubel zu nehmen, trotz der ganzen für ihn darin enthaltenen Schmach nicht hat widerstehen können, – dieser selbe Mensch findet plötzlich so viel stoische Festigkeit in sich, daß er dieses notwendige Geld einen ganzen Monat unangetastet mit sich herumträgt! Stimmt das mit dem geschilderten Charakter auch nur ein wenig überein? Nein, und ich erlaube mir darzustellen, wie der wirkliche Dmitrij Karamasoff in solchem Falle gehandelt haben würde, selbst wenn er sich wirklich zum Einnähen der Hälfte entschlossen hätte. Schon bei der ersten Versuchung – sagen wir, um der Liebgewonnenen, mit der er bereits die erste Hälfte verpraßt hat, irgendeine Freude zu bereiten – also schon bei der ersten Versuchung hätte er zunächst, nehmen wir an, nur hundert Rubel von dem eingenähten Gelde abgeteilt, denn: ‚Wozu muß ich genau die Hälfte zurückbringen, warum genau tausendfünfhundert? Tausendvierhundert werden doch ganz dasselbe tun, denn, nicht wahr, dann kann ich doch immer noch sagen: Ich bin vielleicht ein Schuft, aber ich bin kein Dieb, da ich doch immerhin tausendvierhundert Rubel zurückgebracht habe, ein Dieb dagegen alles behalten und nichts zurückbringen würde!‘ Darauf wird er nach einiger Zeit wieder das Säckchen auftrennen und einen zweiten Hundertrubelschein herausnehmen, darauf einen dritten, darauf einen vierten und so weiter, bis er spätestens zu Ende des Monats den vorletzten Schein dem Säckchen entnommen hat, denn, nicht wahr, selbst wenn ich nur noch hundert Rubel zurückbringe, kommt es doch immer noch auf dasselbe hinaus: ‚Ein Schuft bin ich, aber ich bin kein Dieb, denn wenn ich auch zweitausendneunhundert Rubel durchgebracht habe, so bringe ich doch wenigstens das letzte Hundert zurück, ein Dieb aber würde das nicht tun.‘ Und schließlich, wenn er auch dieses vorletzte Hundert durchgebracht hätte, würde er das letzte betrachtet und sich gesagt haben: ‚Weiß Gott, es lohnt sich ja wahrlich nicht, diesen lumpigen Hundertrubelschein noch zurückzubringen! Ach was! – gehen wir auch damit noch mal durch!‘ So würde der wirkliche Dmitrij Karamasoff gehandelt haben, derjenige, den wir kennen! Die Fabel jedoch von dem Säckchen mit dem eingenähten Gelde – steht in solchem Widerspruch zu der Wirklichkeit, wie man ihn größer sich nicht gut denken könnte. Alles könnte man sich schließlich noch vorstellen, das aber nicht. Doch davon wird noch später die Rede sein.“
Darauf führte Hippolyt Kirillowitsch der Reihe nach alles an, was der gerichtlichen Untersuchung über die Vermögensstreitigkeiten zwischen Vater und Sohn bekannt geworden war, und nachdem er nochmals darauf hingewiesen hatte, daß man aus den vorhandenen Daten unmöglich ersehen könne, wer in dieser Angelegenheit den anderen übervorteilt habe, kam Hippolyt Kirillowitsch, bei Erwähnung der bei Mitjä zur „fixen Idee“ gewordenen Dreitausend, auch auf die medizinische Expertise zu sprechen.