„Zuerst will ich fragen: wie ist dieser Verdacht überhaupt aufgekommen?“ begann Hippolyt Kirillowitsch. „Der erste, der gesagt hat, Ssmerdjäkoff sei der Mörder, war kein anderer als der Angeklagte selbst, der die Verdächtigung im Augenblick seiner Verhaftung hinausgeschrien hat, einstweilen aber, bis zur gegenwärtigen Stunde, noch keinen einzigen Beweis für sie oder auch nur eine mehr oder weniger wahrscheinliche Begründung seines Verdachtes hat angeben können. Außerdem wird dieser Verdacht nur noch von drei anderen Personen geteilt: von den beiden Brüdern des Angeklagten und von Agrafena Alexandrowna Sswetlowa. Und von diesen drei hat Iwan Fedorowitsch Karamasoff seinen diesbezüglichen Verdacht erst heute in augenscheinlich krankhaftem Zustande geäußert und zweifellos in einem Augenblick geistiger Anormalität, wahrscheinlich in hohem Fieber. Nun wissen wir aber aufs bestimmteste, daß er während dieser letzten zwei Monate durchaus der entgegengesetzten Ansicht gewesen ist, und das hat er schon allein dadurch bewiesen, daß er uns in dieser Beziehung nicht einmal zu widersprechen versuchte. Doch darauf werden wir noch besonders zu sprechen kommen. Der jüngste Bruder des Angeklagten hat uns vorhin selbst gesagt, daß er keinerlei Beweise zur Bekräftigung seiner Beschuldigung Ssmerdjäkoffs habe, sondern lediglich nach den Worten des Angeklagten, ‚und dem Ausdruck seines Gesichts‘ zu dieser Ansicht gekommen sei. Ja, diese erdrückende Aussage ist sogar zweimal von seinem Bruder gemacht worden. Und die Aussage der Verlobten des Angeklagten ist vielleicht noch erdrückender: ‚Was der Angeklagte Ihnen sagt, daran glauben Sie, das ist kein Mensch, der lügen kann!‘ Und das sind alle vorhandenen Aussagen gegen Ssmerdjäkoff, die zudem noch von drei Personen gemacht werden, die nur zu sehr für das Schicksal des Angeklagten besorgt sind. Trotzdem aber ist die Verdächtigung Ssmerdjäkoffs sehr verbreitet, und sie ist es sogar jetzt noch. Wie ist es möglich, daran zu glauben? Wie stellt man sie sich vor?“
Hippolyt Kirillowitsch hielt es für nötig, zuerst den Charakter Ssmerdjäkoffs, „der sich wahrscheinlich in einem Anfall krankhafter Angst oder in völligem Irrsinn das Leben genommen hat,“ leicht zu skizzieren. Er schilderte ihn als schwachsinnigen Menschen, der sich nach höherer Bildung sehnte, und den philosophische Ideen, die für seinen Verstand zu hoch waren, gänzlich verwirrt hätten – „desgleichen auch gewisse zeitgenössische Auffassungen von Schuld und Pflicht, die ihm überflüssigerweise beigebracht worden waren – praktisch durch das Leben seines verstorbenen Herrn und vielleicht sogar Vaters, an dem von Schuld- und Pflichtgefühlen nichts zu sehen war, und theoretisch durch verschiedene eigenartige philosophische Gespräche mit dem ältesten Sohn aus der zweiten Ehe seines Herrn, mit Iwan Fedorowitsch, dem diese Art Zerstreuung offenbar Vergnügen bereitet hatte – vielleicht auch um die Langeweile zu vertreiben, oder aber aus dem Bedürfnis heraus, andere zu verspotten, und dem daher diese Art Philosophieunterricht die gewünschte Befriedigung geboten zu haben schien. Ssmerdjäkoff hat mir ausführlich seinen Seelenzustand in den letzten Tagen vor der Katastrophe geschildert,“ bemerkte Hippolyt Kirillowitsch beiläufig, „wir besitzen überdies noch die Aussagen des Angeklagten selbst, seines Bruders und sogar des Dieners Grigorij, also dreier Menschen, die ihn sehr gut gekannt haben. Hinzu kommt, daß Ssmerdjäkoff, der mit der Fallsucht belastet war, ‚furchtsam wie ein Huhn‘ gewesen sein soll. ‚Er fiel vor mir nieder und küßte meine Stiefel,‘ sagte uns der Angeklagte beim ersten Verhör, als er noch nicht vermutete, daß eine solche Aussage für ihn selbst nachteilig sein würde, – ‚das ist ein krankes Huhn, das die Fallsucht hat,‘ lautete sein zweiter Ausspruch über den Diener, in seiner charakteristischen Sprache ausgedrückt. Und diesen Menschen erwählt nun der Angeklagte – wie er selbst ausgesagt hat – zu seinem Vertrauten und schüchtert ihn dermaßen ein, daß jener zu guter Letzt einwilligte, für ihn zu spionieren und ihm alles zu hinterbringen. In dieser Eigenschaft eines Hausspions verrät er seinen Herrn und teilt dem Angeklagten sowohl von dem Vorhandensein des Geldpakets, wie von den verabredeten Zeichen alles Nähere mit. Warum hätte er das auch nicht tun sollen! ‚Sie wollten mich erschlagen, das sah ich dazumal ganz genau, und sie hätten mich auch erschlagen,‘ sagte er beim Verhör, und er zitterte sogar vor uns am ganzen Körper, obgleich doch sein Quälgeist schon verhaftet war und ihm folglich nichts mehr antun konnte. ‚Sie verdächtigen mich alleweil, daß ich was verheimlichte, und so bin ich denn von wegen meiner gewaltigen Angst vor ihnen immer von selbst zu ihnen geeilt, um ihnen jedes Geheimnis aufzudecken und sie alsomit von meiner Unschuld zu überzeugen, damit sie mich noch lebendig zur Buße entließen.‘ Das sind seine eigenen Worte, ich habe sie aufgeschrieben und behalten. ‚Und wenn sie mich anschrien, wie selbiges oft vorkam, so fiel ich hinwiederum zitternd auf die Knie vor ihnen.‘ Da nun Ssmerdjäkoff von Natur ein selten ehrlicher Mensch war, und daher seines Herrn volles Vertrauen genoß, so kann man annehmen, daß der unglückliche Mensch sich nicht wenig wegen seines Verrats an seinem Herrn, den er als seinen Wohltäter liebte, gequält hat. Epileptiker, die schwer unter ihrer Krankheit zu leiden haben, sollen, nach dem Ausspruch der bedeutendsten Psychiater, immer geneigt sein zu fortwährender und natürlich krankhafter Selbstanklage. Sie quälen sich wegen ihrer ‚Schuld‘ in irgend etwas und vor irgend jemandem, sie quälen sich mit Gewissensbissen, häufig ohne jede Veranlassung, sie übertreiben alles und denken sich sogar ganze Verbrechen aus, die sie begangen hätten. Und solch ein Geschöpf wird nun in der Tat schuldig, wird es aus lauter Angst nach allen Einschüchterungen, und hintergeht seinen Herrn. Außerdem ahnte Ssmerdjäkoff, daß aus den Szenen, die sich vor seinen Augen abspielten, nichts Gutes hervorgehen werde. Als der zweite Sohn Fedor Pawlowitschs, Iwan Fedorowitsch, kurz vor der Katastrophe nach Moskau abreiste, hat Ssmerdjäkoff ihn flehentlich gebeten, nicht zu verreisen, hat aber in seiner Ängstlichkeit nicht gewagt, ihm alle seine Befürchtungen klar und kategorisch mitzuteilen. Er hat sich mit Anspielungen begnügt, doch diese Anspielungen sind nicht verstanden worden. Ich muß hierzu noch bemerken, daß er in Iwan Fedorowitsch gewissermaßen seinen Verteidiger erblickte, gleichsam eine Garantie dafür, daß, solange derselbe im Hause blieb, kein Unglück geschehen würde. Erinnern Sie sich nur des einen Ausspruchs im ‚trunkenen‘ Brief Dmitrij Karamasoffs: ‚ich werde ihn totschlagen, wenn nur Iwan abreisen würde.‘ Folglich hat die Anwesenheit Iwan Fedorowitschs allen gleichsam eine Garantie für die Ruhe und Ordnung im Hause geschienen. Da aber fährt dieser fort nach Moskau, und Ssmerdjäkoff fällt – noch war keine Stunde seit seiner Abfahrt vergangen – in einem epileptischen Anfall in den Keller. Das aber ist durchaus erklärlich. Hier muß noch erwähnt werden, daß Ssmerdjäkoff, besonders in den letzten Tagen vor der Katastrophe, in denen er durch Furcht und Verzweiflung sowieso schon niedergedrückt gewesen ist, die Möglichkeit eines baldigen Anfalls sehr stark empfunden hat, da ein solcher sich meistens in Augenblicken seelischer Anspannung oder Erschütterung einzustellen pflegt. Tag und Stunde dieser Anfälle kann man natürlich nicht im voraus wissen, dafür aber kann jeder Epileptiker sehr wohl fühlen, ob er zu einem Anfall disponiert ist. Das wird auch von den Ärzten bestätigt. Und nun, kaum hat Iwan Fedorowitsch das Vaterhaus und die Stadt verlassen, als Ssmerdjäkoff, unter dem Eindruck seiner ‚Verwaistheit‘ und Schutzlosigkeit in einer häuslichen Angelegenheit in den Keller geht, und während er die Treppe hinabsteigt, bei sich denkt: ‚Werde ich nun einen Anfall bekommen, oder werde ich nicht, was aber dann, wenn ich ihn jetzt gleich bekomme?‘ Und gerade infolge dieser Stimmung, dieses Zweifels und dieser angstvollen Frage, packt ihn denn auch der Kehlkrampf, der dem Anfall stets vorangeht, und im selben Augenblick fliegt er besinnungslos die Treppe hinab und fällt auf den Boden des Kellers hin. Und nun will man gerade in diesem natürlichen Zusammentreffen eine Verdachtsmöglichkeit sehen, einen Hinweis darauf, daß er sich absichtlich krank gestellt habe! Nehmen wir an, er hat es absichtlich getan, so erhebt sich doch sofort die Frage: warum und wozu denn eigentlich? Aus welcher Berechnung, zu welchem Zweck? Von der medizinischen Wissenschaft will ich weiter nicht reden. Die Wissenschaft, kann man sagen, lügt, die Wissenschaft täuscht sich, und andere, die Ärzte haben es nicht verstanden, Echtheit von Verstellung zu unterscheiden, – schön, schön, aber antworten Sie mir einstweilen auf die eine Frage: wozu hätte er sich verstellen sollen? Etwa um – nachdem er den Mord geplant hat – durch einen Anfall schon vorher die allgemeine Aufmerksamkeit im Hause auf sich zu lenken? Sehen Sie, meine Herren Geschworenen, im Hause Fedor Pawlowitschs waren in der Mordnacht im ganzen nur fünf Menschen: erstens, Fedor Pawlowitsch – aber er hat sich doch nicht selbst erschlagen, das ist ja nur zu offenbar; zweitens, sein Diener Grigorij, aber der ist ja selbst beinahe totgeschlagen worden; drittens, die Frau Grigorijs, die Dienerin Marfa Ignatjewna, – sie sich als Mörderin ihres Herrn vorzustellen, wäre geradezu eine Schande. So bleiben folglich nur noch zwei übrig, die in Frage kämen: der Angeklagte und Ssmerdjäkoff. Da aber der Angeklagte versichert, nicht er habe erschlagen, so muß es folglich Ssmerdjäkoff getan haben, eine andere Lösung der Frage gibt es nicht, denn ein anderer Mörder läßt sich nicht auftreiben: wie man auch suchen wollte, es ist kein anderer da, auf den auch nur der leiseste Verdacht fallen könnte. Daraus, daraus also ist diese ‚schlaue‘ und erdrückende Beschuldigung des unglücklichen Idioten, der gestern seinem Leben ein Ende gemacht hat, entstanden, daraus also, beachten Sie das wohl, meine Herren Geschworenen, nur daraus! Nur aus dem einen, dem einzigen Grunde, weil man keinen anderen finden kann! Gäbe es nur einen Schatten von einem Verdacht auf irgendeinen anderen, einen sechsten, so würde – davon bin ich überzeugt – selbst der Angeklagte sich geschämt haben, einen Verdacht gegen Ssmerdjäkoff auch nur auszusprechen, denn Ssmerdjäkoff dieses Mordes zu beschuldigen, ist einfach absurd!
„Meine Herren Geschworenen, lassen wir einmal die Psychologie beiseite, lassen wir auch die medizinische Wissenschaft und selbst die Logik beiseite, wenden wir uns nur den Tatsachen zu, einzig und allein den Tatsachen, und sehen wir jetzt einmal, was uns diese Tatsachen sagen. Also: Ssmerdjäkoff ist der Mörder, und es fragt sich nur, wie er den Mord begangen hat. Allein oder zusammen mit dem Angeklagten? Untersuchen wir zunächst den ersten Fall, daß Ssmerdjäkoff allein den Mord ausgeführt hat. Wenn er ihn erschlug, so tat er das doch selbstverständlich aus einem bestimmten Grunde, zu einem besonderen Zweck, um einen gewissen Vorteil zu erreichen. Da nun aber bei ihm kein Schatten von ähnlichen Motiven, wie sie der Angeklagte hatte, mitsprechen konnte, als da sind, Eifersucht, Haß usw. usw., hätte Ssmerdjäkoff zweifellos nur des Geldes wegen erschlagen können, um sich diese dreitausend Rubel anzueignen, von denen er wußte, daß der Herr sie ins Kuvert und das Kuvert unter das Kissen gelegt hatte, da er in dem betreffenden Augenblick zugegen gewesen war. Und nun, nachdem er den Mordplan entworfen hat, teilt er unaufgefordert einem anderen Menschen – der zudem noch im höchsten Grade bei der ganzen Sache interessiert ist, nämlich dem Angeklagten – alles Nähere über das Geld und die Zeichen mit: wo das Geld liegt, was auf dem Geldpaket geschrieben steht, womit es zugebunden ist, und teilt ihm vor allen Dingen, vor allen Dingen die ‚Zeichen‘ mit, mittels deren man ins Haus zum Herrn eindringen kann. Wie nun, tat er es speziell, um sich anzugeben? Oder um sich einen Konkurrenten zu schaffen, den es vielleicht gleichfalls gelüsten könnte, hinzugehen und das Geld sich anzueignen? Aber, wird man einwenden, er hat es ihm doch nur aus Furcht mitgeteilt. Wie denn das? Ein Mensch, der sich nicht gescheut hat, eine so tierische Tat auszudenken und später auch auszuführen, – teilt solche Nachrichten mit, die in der ganzen Welt nur ihm allein bekannt sind, und die, wenn er sie nicht verrät, kein einziger Mensch in der ganzen Welt je erraten würde? Nein, wie feig der Mensch auch gewesen sein mag, wenn er selbst einen Mord geplant hätte, so hätte er doch niemals etwas auch nur entfernt Verdächtiges gesagt, am wenigsten natürlich etwas von den Zeichen und dem Geldpaket, oder gar, daß er wüßte, wo es liegt! Das hieße doch, sich im voraus ausliefern. Er hätte sich vielleicht absichtlich etwas anderes ausgedacht, hätte etwas anderes vorgelogen, wenn von ihm nun einmal durchaus Nachrichten verlangt wurden – das aber hätte er unter allen Umständen verschwiegen. Im Gegenteil – ich wiederhole es – wenn er wenigstens von dem Gelde geschwiegen, dann aber gemordet und das Geld sich angeeignet hätte, so hätte natürlich niemand ihn beschuldigen können, wenigstens nicht des Raubmordes, da außer ihm doch niemand das Geld gesehen hatte und niemand außer ihm auch nur wußte, daß es in dieser Weise bereitgehalten wurde. Und selbst wenn man ihn beschuldigt hätte, so wäre er doch immerhin nicht des Raubmordes angeklagt worden, man hätte selbstverständlich geglaubt, er habe es aus irgendeinem anderen, unbekannten Beweggrunde getan. Da nun aber niemand an ihm vorher etwas von solchen eventuellen Beweggründen bemerkt hat, dafür aber alle wußten, daß sein Herr ihn liebte und ihm volles Vertrauen schenkte, so wäre der Verdacht auf jeden anderen eher als auf ihn gefallen, ganz zuerst aber auf denjenigen, bei dem man diese Beweggründe sogar sehr voraussetzen konnte, der sogar selbst überall geschrien hat, daß er diese Motive habe, der sie nicht verheimlicht, sondern allen und jedem aufgedeckt hat. Mit einem Wort, man hätte den Sohn des Erschlagenen verdächtigt, Dmitrij Fedorowitsch. Ssmerdjäkoff wäre der Mörder und Dieb gewesen, den Sohn aber hätte man angeklagt, – ich denke, das wäre für den Mörder Ssmerdjäkoff denn doch ganz vorteilhaft gewesen? Nun, und diesem Sohne Dmitrij Fedorowitsch teilt Ssmerdjäkoff, indem er den Mord plant, alles Nähere über das Geld und die Zeichen mit, – wie logisch, wie klar das ist!!
Es kommt der Tag, an dem Ssmerdjäkoff seinen Plan ausführen will, und er bekommt einen epileptischen Anfall, d. h. er spielt einen Anfall vor. Warum, wozu tut er das? Nun, versteht sich, erstens, damit der Diener Grigorij, der eine Kur vorzunehmen gedenkt, sein Vorhaben aufschiebe und das Haus bewache. Zweitens natürlich zu dem Zweck, damit der Herr, der dann wüßte, daß er nicht bewacht wurde, und aus Angst, der gefürchtete Sohn könnte kommen, sein Mißtrauen und seine Vorsicht verdoppele. Und schließlich – und das ist natürlich der Hauptgrund – damit man ihn, Ssmerdjäkoff, unverzüglich aus seiner Stube neben der Küche, wo er sonst ganz allein schlief, und wohin ein besonderer Eingang führte, in die andere Hälfte, ganz ans andere Ende des Hauses bringe, in Grigorijs und Marfas Zimmer, um dort bei ihnen hinter dem Verschlage hingelegt zu werden, drei Schritt von ihrem Bett, wie das immer geschehen ist, wenn er einen Anfall hatte, sowohl auf Fedor Pawlowitschs Anordnung wie auf Marfa Ignatjewnas Wunsch. Und dann höchstwahrscheinlich deswegen, damit er dort hinter dem Bretterverschlage in möglichst natürlicher Weise den Kranken spielen, stöhnen, d. h. also sie die ganze Nacht immer wieder aufwecken könne – wie es nach Grigorijs und Marfas Aussagen auch geschehen ist. Und alles das, alles das nur zu dem einen Zweck: um bequemer plötzlich aufstehen und dann den Herrn erschlagen zu können!
Aber, wird man vielleicht einwenden, er hat sich gerade deswegen krank gestellt, damit man ihn, den Kranken, nicht verdächtige, dem Angeklagten aber hat er alles Nähere über das Geld und die Zeichen gesagt, um diesen zu verlocken, hinzugehen und totzuschlagen, um dann, sehen Sie mal, wenn jener schon totgeschlagen hat – und mit dem Gelde fortgegangen ist – höchstwahrscheinlich nach einigem Spektakel und Gepolter, das womöglich noch Zeugen herbeirufen könnte – um dann aufzustehen, hinzugehen und – ja was nun noch zu machen? Ganz einfach, um eben noch einmal den Herrn totzuschlagen und das schon fortgetragene Geld nochmals fortzutragen. Meine Herren, Sie lachen? Ich muß gestehen, daß ich mich schäme, solche Voraussetzungen machen zu müssen, indessen ist es gerade das, was der Angeklagte behauptet: ‚Nach mir, als ich aus dem Hause schon hinausgegangen war, Grigorij niedergeschlagen und viel Lärm gemacht hatte, ist er hingegangen und hat den Mord wie den Raub ausgeführt.‘ Hierauf läßt sich natürlich vieles erwidern. Schon allein die eine Frage, auf die ich weiter nicht eingehen will, wie Ssmerdjäkoff gleichsam an den Fingern hätte voraus berechnen und somit vorauswissen können, daß der gereizte und zum Äußersten gebrachte Sohn einzig und allein zu dem Zweck in den Garten kommen würde, um ehrfürchtig durch das Fenster ins Zimmer zu blicken, und (obgleich er die Zeichen in der Hand hat!) sehr sittsam sich wieder zurückzuziehen, und um ihm, dem Diener Ssmerdjäkoff, seine Beute zu überlassen! Meine Herren Geschworenen, ich stelle jetzt nachdrücklich die Frage: Wann war der Augenblick, in dem Ssmerdjäkoff das Verbrechen beging? Geben Sie mir diesen Augenblick an, denn ohne diese Angabe kann man ihn nicht beschuldigen.
Vielleicht aber war der Anfall echt? Der Kranke wachte plötzlich auf, hörte einen Schrei, ging hinaus – nun, und was weiter? Er sah sich um und sagte sich: Ach was, ich werde mal hingehen und den Herrn erschlagen! Woher aber konnte er wissen, was inzwischen geschehen war, er hatte doch bis dahin bewußtlos im Bett gelegen? Ich glaube, meine Herren, daß es auch für Phantasien eine Grenze gibt.
‚Ja, aber,‘ werden scharfsinnige Leute sagen, ‚wenn nun beide im Einverständnis waren, wenn beide den Mord gemeinsam begangen und das Geld geteilt haben, nun, was dann?‘
Ja, das ist allerdings eine wichtige Frage, und – die Hauptsache! – wir haben sofort schwerwiegende Verdachtsgründe, die darauf hinzuweisen scheinen. Der eine erschlägt und nimmt alle Mühen auf sich, der andere aber, der Helfershelfer, liegt auf der Seite und spielt einen epileptischen Anfall vor – um vorher in allen Argwohn zu erwecken, Argwohn im Herrn und Argwohn in Grigorij. Es wäre ungemein interessant zu erfahren, aus welchen Gründen beide Spießgesellen sich einen so verrückten Plan ausgedacht hätten. Doch vielleicht war es durchaus keine aktive Mitwirkung von seiten Ssmerdjäkoffs, sondern sozusagen nur eine passive, duldende: vielleicht hatte der eingeschüchterte Ssmerdjäkoff nur eingewilligt, nichts zu tun, um den Mord zu verhindern. Und so hat er denn, in der Voraussicht, daß man ihn schon allein deswegen bestrafen würde, daß er nicht angegeben, nicht geschrien, sich dem Morde nicht widersetzt hat, von Dmitrij Karamasoff im voraus die Erlaubnis ausgebeten, während dieser ganzen Zeit anscheinend in einem epileptischen Anfall liegen zu dürfen –: ‚Du morde dann soviel du willst, ich bleibe aus dem Spiel.‘ In diesem Falle hätte aber Dmitrij Karamasoff sich doch sagen müssen, daß ein solcher Anfall Ssmerdjäkoffs im Hause eine gewisse Unruhe, Unsicherheit und folglich größere Vorsicht veranlassen werde, und so wäre er denn selbstverständlich auf eine derartige Abmachung nicht eingegangen. Doch nehmen wir selbst an, daß er darauf eingegangen ist. Dann aber käme es doch wieder darauf hinaus, daß Dmitrij Karamasoff der Mörder, der direkte Mörder und Anstifter ist, Ssmerdjäkoff dagegen nur ein passiver Teilnehmer und selbst nicht einmal das, sondern nur ein Hehler, der den Mord aus Angst und wider Willen zugelassen hat. Diesen Unterschied hätte doch das Gericht ohne weiteres eingesehen. Was aber sehen wir? Kaum ist der Angeklagte verhaftet, so wälzt er schon die ganze Schuld auf Ssmerdjäkoff, auf ihn allein. Nicht der Teilhaberschaft mit sich beschuldigt er ihn, sondern ihn allein beschuldigt er: ‚Er hat es allein getan, er hat gemordet und geraubt, seiner Hände Tat ist es!‘ Was sind das nun für Spießgesellen, von denen der eine sofort den anderen hineinlegen will? So etwas ist doch noch nie dagewesen! Und dabei nicht zu vergessen, was für ein Risiko das für Karamasoff gewesen wäre: er ist der Hauptmörder, jener aber nicht, jener ist nur der Hehler, der während der Tat hinter dem Bretterverschlage krank im Bett gelegen hat. Und nun will der Mörder alles auf den Hehler abwälzen! Da müßte er sich doch sagen, daß der andere sich ärgern und schon allein um der Selbsterhaltung willen gar bald die ganze Wahrheit aufdecken könnte. ‚Wir haben es zusammen getan, nur habe nicht ich erschlagen, sondern er, ich habe nur aus Angst den Mord zugelassen.‘ Ssmerdjäkoff hätte sich dann doch sagen müssen, daß das Gericht den Unterschied zwischen dieser und jener Schuld sehr wohl einsehen und folglich auch einen Unterschied in der Strafe machen werde; daß man ihn zwar gleichfalls verurteilen werde, aber immerhin zu einer unvergleichlich geringeren Strafe als den Hauptmörder, der alles auf ihn allein abwälzen will. In diesem Falle hätte also Ssmerdjäkoff unwillkürlich seine geringere Schuld eingestanden und folglich auch den Haupttäter angegeben. Das aber ist nicht geschehen. Ssmerdjäkoff hat nicht die leiseste Andeutung gemacht, die auf eine derartige Abmachung schließen ließe, ungeachtet dessen, daß der Mörder immer wieder hartnäckig ihn allein beschuldigt und auf ihn als den einzigen Mörder hingewiesen hat. Ja, Ssmerdjäkoff hat beim Verhör selbst angegeben, daß er, Ssmerdjäkoff, er selbst dem Angeklagten von dem Gelde und den Zeichen Mitteilung gemacht hat, und jener ohne ihn nichts von alledem erfahren hätte. Wäre er nun wirklich sein Helfershelfer und schuldig gewesen, hätte er dann gleichfalls so offen gesagt, daß er so etwas dem Angeklagten mitgeteilt hat? Im Gegenteil, er hätte vieles zu verschweigen und die Tatsachen zu entstellen gesucht. Er aber hat nichts entstellt, nichts verheimlicht. So kann nur ein Unschuldiger handeln, der nicht zu fürchten braucht, daß man ihn der Teilhaberschaft beschuldigen könnte. Nun hat er sich gestern, wohl in einem Augenblick krankhafter Melancholie, wahrscheinlich infolge seiner starken Anfälle und dieser ganzen Katastrophe – nun hat er sich gestern Nacht erhängt. Das einzige, was er hinterlassen hat, ist ein Zettel mit den kurzen Worten in seinem eigenartigen Stil: ‚Ich vertilge mich aus eigenem Wunsch und Willen, um alsomit niemanden zu beschuldigen.‘ Nun, was hätte es ihm in dem Augenblick ausgemacht, noch hinzuzufügen: der Mörder bin ich und nicht Karamasoff? Er aber hat das nicht hinzugefügt. Ist nun glaubwürdig, daß sein Gewissen, das zu dem einen ausgereicht hat, zu dem anderen nicht ausreichte?
Und weiter: plötzlich wird hierher in diesen Saal Geld gebracht, eine Summe von genau dreitausend Rubel. ‚Das sind dieselben Dreitausend, die in jenem Kuvert, das dort auf dem Tische bei den Sachbeweisen liegt, von Fedor Pawlowitsch geraubt worden sind, ich habe sie gestern von Ssmerdjäkoff erhalten.‘ Sie, meine Herren Geschworenen, Sie erinnern sich wohl noch des betrübenden Bildes von vorhin. Ich werde die Einzelheiten hier nicht wieder auffrischen, ich erlaube mir nur ein paar Einwendungen gegen seine Behauptung zu machen, nur ein paar unbedeutende – denn diese würden, eben weil sie unbedeutend sind, nicht einem jeden einfallen, und außerdem vergessen sie sich leicht. Nehmen wir zunächst einmal an: Ssmerdjäkoff hat gestern, von Gewissensbissen gequält, das Geld herausgegeben und sich darauf erhängt. (Denn ohne Gewissensbisse hätte er das Geld nicht herausgegeben.) Selbstverständlich hat er erst gestern Abend Iwan Karamasoff zum erstenmal seine Schuld eingestanden, wie dieser ja auch vorhin selbst erklärte. Warum hätte er anderenfalls bis jetzt darüber geschwiegen? Also Ssmerdjäkoff hat eingestanden – warum aber hat er denn auf dem hinterlassenen Zettel uns nicht die ganze Wahrheit enthüllt, da er doch wußte, daß am nächsten Tage der unschuldig Angeklagte vielleicht verurteilt werden würde? Dieses Geld allein ist doch noch kein Beweis. Mir und noch zwei anderen Personen hier in diesem Saal ist zum Beispiel ganz zufällig vor einer Woche eine gewisse Tatsache bekannt geworden, nämlich, daß Iwan Fedorowitsch Karamasoff zwei fünfprozentige Bankbillette, jedes von fünftausend Rubel, zusammen folglich zehntausend Rubel, in die Gouvernementsstadt geschickt hat, um sie dort einwechseln zu lassen. Ich führe das nur an, um damit zu sagen, daß ein jeder sich Geld zu einem bestimmten Tage verschaffen kann, und daß man, wenn man genau dreitausend Rubel herbringt, damit noch nicht ausschlaggebend beweist, daß dieses Geld dasselbe Geld ist, das einmal in dem und dem Kasten oder Kuvert gelegen hat. Und dann, wie denn das – Iwan Karamasoff bleibt, nachdem er eine so wichtige Nachricht von dem wirklichen Mörder erhalten hat, ruhig zu Haus? Warum hat er es in dem Falle nicht unverzüglich mitgeteilt? Warum hat er alles bis auf den nächsten Tag hinausgeschoben? Ich glaube mich berechtigt, meine Vermutung über diese Frage auszusprechen: schon vor einer Woche hat er ihm Nahestehenden und auch dem Doktor gestanden, daß er Visionen sehe, daß er Gestorbenen zu begegnen glaube – kurz, am Vorabend des Ausbruchs der Krankheit, wahrscheinlich des Wahnsinns, erfährt er plötzlich den Tod Ssmerdjäkoffs, und er denkt sich sofort folgendes: ‚Der Mann ist jetzt tot, da kann man die Schuld auf ihn schieben, und auf diese Weise werde ich den Bruder retten. Geld aber habe ich selbst genug: ich werde davon Dreitausend nehmen und sagen, daß Ssmerdjäkoff sie mir vor dem Tode übergeben habe.‘ Sie werden sagen, es sei unehrenhaft, auch nur gegen einen Toten falsch auszusagen, es sei unehrenhaft, zu lügen, und wenn es auch zur Rettung des Bruders geschehe und sei folglich von Iwan Fedorowitsch nicht anzunehmen. Schön. Wie aber, wenn er unbewußt gelogen hat, wenn er selbst glaubt, daß es so gewesen ist, gerade nachdem er durch die Nachricht von dem Tode jenes Dieners in seinem Verstande endgültig gestört worden war? Sie haben ja die Szene vorhin gesehen, Sie haben gesehen, in welchem Zustande dieser Mensch sich befand. Wohl stand er aufrecht da und sprach, wo aber war sein Verstand? Und gleich nach dieser Aussage des irre Redenden folgte die Vorweisung des Dokuments, des Briefes, den der Angeklagte an Fräulein Werchoffzeff zwei Tage vor dem Morde geschrieben hat, mit einem so ausführlichen Programm des Verbrechens. Wozu suchen wir nun noch nach einem anderen Programm und anderen Verfassern? Die Tat ist ja Wort für Wort nach diesem Programm geschehen, und zwar hat sie kein anderer ausgeführt als einzig und allein der Verfasser desselben. Ja, meine Herren Geschworenen, ‚es ist geschehen, wie es dort geschrieben steht!‘ Nein, er ist nicht ehrerbietig und ängstlich von dem Fenster fortgelaufen, und dazu noch in der festen Überzeugung, daß die Geliebte dort bei ihm ist! Nein, das widerspricht jeder Wahrscheinlichkeit, das ist absurd. Er ist eingedrungen und hat der Sache ein Ende gemacht. Wahrscheinlich hat er in der Gereiztheit erschlagen, in auflodernder Wut, sobald er den Gegenstand seines Hasses, seinen Nebenbuhler erblickte. Und nachdem er ihn erschlagen hatte, was vielleicht mit einem einzigen Hieb seiner Hand, seiner mit der Mörserkeule bewaffneten Hand geschehen sein kann, und nachdem er sich dann nach einer genauen Untersuchung überzeugt hatte, daß sie nicht im Hause war, hat er natürlich nicht vergessen, die Hand unter das Kissen zu schieben und das Geld hervorzuziehen, dessen Umschlag jetzt hier unter den Sachbeweisstücken auf dem Tisch liegt. Ich sage das nur, um Sie auf einen, meiner Ansicht nach äußerst charakteristischen Umstand aufmerksam zu machen. Wäre der Täter ein geübter Mörder gewesen oder einer, der nur um des Geldes willen erschlagen hätte, – würde der dann das Kuvert so auf dem Fußboden liegen gelassen haben, so unbesonnen, so auffallend ein paar Schritt von der Leiche, wo es später gefunden wurde? Wenn nun Ssmerdjäkoff der Mörder um des Geldes willen gewesen wäre, – so hätte er doch das ganze Paket mitgenommen und fortgebracht und sich nicht zuerst noch die Mühe gegeben, das Paket neben der Leiche seines Opfers zu entsiegeln, da er ja genau wußte, daß gerade in diesem Kuvert das Geld war – hatte doch Fedor Pawlowitsch in seiner Gegenwart das Geld hineingeschoben und das Kuvert versiegelt. Hätte er aber das Paket mit dem Kuvert fortgebracht, so würde doch jetzt niemand sagen können, ob ein Raub stattgefunden habe oder nicht? Ich frage Sie, meine Herren Geschworenen, hätte Ssmerdjäkoff das Kuvert auf dem Fußboden liegen gelassen? Nein, so konnte nur ein Mörder handeln, der übermäßig aufgeregt war und daher nicht mehr überlegte, ein Mörder, der kein Dieb war, der bis dahin noch niemals gestohlen hatte, und der auch dieses Geld nicht wie ein Dieb ‚stiehlt‘, sondern wie einer, der sein Eigentum, das von ihm gestohlen worden ist, dem Diebe wieder abnimmt, – denn das war die Auffassung, die Dmitrij Karamasoff von diesen Dreitausend hatte, und die bei ihm zur ‚fixen Idee‘ geworden war. Und nun, nachdem er das Paket gefunden hat, das er früher nie gesehen, reißt er sofort den Umschlag auf, um sich zu vergewissern, sich zu überzeugen, ob auch wirklich das Geld darin ist, und dann läuft er, mit dem Gelde in der Tasche, aus dem Hause, ohne auch nur daran zu denken, daß er das Kuvert dort liegen gelassen hat, das verhängnisvollste Beweisstück gegen sich. Und das nur deshalb, weil Karamasoff – und nicht Ssmerdjäkoff – nicht mehr nachdenken, nicht mehr überlegen konnte! Wie sollte er das auch? Er läuft fort, er hört den Schrei des ihm nachlaufenden Dieners, der Diener erfaßt ihn, hält ihn fest und – fällt nieder, getroffen von der messingnen Mörserkeule. Der Angeklagte springt vom Zaun ‚aus Mitleid‘ zu ihm herab. Stellen Sie sich das vor, meine Herren, er versichert uns plötzlich, daß er damals aus Mitleid herabgesprungen sei, um nachzusehen, ob er ihm nicht helfen könne. Nun frage ich Sie, war der Augenblick etwa danach beschaffen, daß ein solches Mitleid wahrscheinlich ist? Nein, er sprang nur zu dem einen Zweck herab: um sich zu überzeugen, ob der einzige Zeuge seines Verbrechens tot ist oder noch lebt. Jedes andere Gefühl, jeder andere Beweggrund wäre unnatürlich! Und beachten Sie es wohl: er müht sich ernstlich um Grigorij, er wischt ihm das Blut ab, und nachdem er sich von dessen Leblosigkeit überzeugt zu haben glaubt, läuft er, ganz mit Blut besudelt, wie sinnlos wieder in das Haus des geliebten Weibes. Wie, hat er denn nicht daran gedacht, daß er blutig war und man ihn sofort verhaften könnte? Aber der Angeklagte versichert uns selbst, daß er das Blut überhaupt nicht bemerkt oder wenigstens nicht weiter beachtet habe. Und das ist sehr glaubwürdig, das ist sogar sehr möglich, denn so pflegt es ja meistens in solchen Augenblicken mit Verbrechern zu sein. In dem einen – höllische Berechnung, im anderen – überhaupt keine Überlegungskraft. Er aber dachte in jenem Augenblick nur an eines: wo war sie? Das mußte er so schnell wie möglich erfahren, und so läuft er denn wieder in ihre Wohnung und erfährt dort die unerwartetste, niederschmetternde Nachricht: sie ist nach Mokroje zu ihrem ‚Früheren, Alleinberechtigten‘ gefahren!“