„Meine Herren Geschworenen, es handelt sich um ein Menschenleben, da müssen wir vorsichtiger sein. Wie wir gehört haben, hat der Ankläger selbst zugegeben, daß er bis auf den heutigen Tag, bis zur heutigen Gerichtsverhandlung, nicht gewagt habe, den Angeklagten eines vollständig bewußten und beabsichtigten Mordes zu beschuldigen, bis vorhin dieser verhängnisvolle ‚trunkene‘ Brief dem Gericht übergeben wurde! ‚Es ist geschehen, wie es dort geschrieben steht,‘ sagt die Anklage. Ich aber wiederhole noch einmal: Er ist zu ihr gelaufen, nur um zu erfahren, wo sie ist. Das ist doch eine unwiderlegbare Tatsache. Hätte er sie zu Hause gefunden, so wäre er bei ihr geblieben und hätte das im Brief Angedrohte nicht gehalten. Er ist ganz plötzlich und unvorbedachterweise hingelaufen und seines ‚trunkenen‘ Briefes hat er sich in dem Augenblick überhaupt nicht mehr erinnert. ‚Er ergriff aber die Mörserkeule,‘ wird die Anklage hier einwenden. Erinnern Sie sich doch nur, meine Herren, was für eine Psychologie einzig und allein aus dieser einen Mörserkeule entwickelt worden ist, warum er diese Mörserkeule als Waffe angesehen, als Waffe ergriffen haben soll usw. usw. Hierbei ging mir nun der allergewöhnlichste Gedanke durch den Kopf: Wie, wenn diese Mörserkeule nicht auf dem Küchentisch gelegen hätte, von wo der Angeklagte sie ergriffen hat, sondern wenn sie im Schrank gewesen wäre, – so wäre sie doch dem Angeklagten nicht in die Augen gefallen, und er wäre mit leeren Händen, ohne Waffe, davongelaufen und hätte dann überhaupt niemanden erschlagen können. Wie kann denn die Mörserkeule als Beweis dafür genügen, daß er sich vorsätzlich bewaffnet und vorsätzlich ermordet habe? Er hat in den Gasthäusern herumgeschrien, er werde den Vater erschlagen; zwei Tage vorher aber, als er diesen trunkenen Brief geschrieben, ist er ruhig gewesen und hat im Gasthause nur einen Kommis um seinen Platz gebracht, ‚denn ohne Streit konnte Karamasoff doch nicht auskommen‘. Darauf jedoch antworte ich, daß, wenn er sich schon einen Mord ausgedacht, wenn er sogar schon den ganzen Mordplan entworfen hätte, so würde er sich nicht mehr mit dem Kommis gestritten haben, ja, vielleicht wäre er dann überhaupt nicht in das Gasthaus gegangen, denn ein Mensch, der sich mit solchen Dingen beschäftigt, sucht Stille, Heimlichkeit, der möchte unsichtbar sein, damit man nichts von ihm sieht noch hört, ihn womöglich ganz und gar vergißt, und zwar nicht etwa aus Berechnung, sondern aus Instinkt. Meine Herren Geschworenen, die Psychologie hat zwei Enden, und auch wir können Psychologie treiben. Was alle diese trunkenen Schreie im Laufe des ganzen Monats anbelangt, nun, so schreien Betrunkene und Kinder immer viel, besonders wenn sie sich miteinander streiten oder zanken: ‚Ich werde dich erschlagen!‘ sagen sie schon beim kleinsten Ärger, aber gerade sie tun es hinterher nicht. Und selbst dieser verhängnisvolle Brief, – ist er denn nicht auch der Schrei eines Gereizten, der das Gasthaus in betrunkenem Zustande verläßt? Ist das nicht gleichfalls wie: ‚Ich werde euch alle totschlagen, alle ohne Ausnahme!‘ Warum sollte dem nicht so sein? Warum soll dieser verhängnisvolle Brief, warum soll er, im Gegenteil, nicht geradezu – lächerlich sein? Darum, weil man den Vater erschlagen vorgefunden hat, weil ein Zeuge den Angeklagten im Garten, bewaffnet und fortlaufend, gesehen hat und selbst von ihm niedergestreckt worden ist. Darum hat sich alles nach dem schwarz auf weiß Geschriebenen buchstäblich erfüllt, und darum ist der Brief nicht bloß lächerlich, sondern verhängnisvoll! Gott sei Dank, jetzt sind wir beim I-punkte angelangt: ‚Er ist im Garten gewesen, folglich ist er der Mörder.‘ Mit diesen beiden Sätzen: ‚er ist im Garten gewesen‘ – ‚folglich ist er der Mörder‘, scheint mir alles erschöpft zu sein, die ganze Anklage. Aber wie nun, wenn er ihn nicht erschlagen hat, obgleich er dagewesen ist? Oh, ich gebe ja zu, daß die Verkettung der Tatsachen, das Zusammentreffen aller verdächtigen Aussagen von einer gewissen Bedeutsamkeit sein kann. Betrachten Sie jedoch die Tatsachen einzeln, ohne sich von ihrer Verkettung beeinflussen zu lassen: warum, zum Beispiel, will die Anklage die Aussage des Angeklagten, daß er vom Fenster des Vaters fortgelaufen sei, unter keiner Bedingung auch nur als wahrscheinlich zulassen? Denken Sie an die Sarkasmen, die der Ankläger hier in bezug auf die Ehrerbietung und die ‚frommen‘ Gefühle gemacht hat, die sich plötzlich des Mörders bemächtigt haben sollen. Wie aber, wenn in der Tat sich etwas Ähnliches zugetragen hat: und wenn ihn auch keine Ehrerbietung veranlaßt hat, fortzugehen, so kann es doch ein gewisses heiliges Gefühl gewesen sein ...? ‚Meine Mutter muß in diesem Augenblick für mich gebetet haben,‘ sagt der Angeklagte, und behauptet, daß er fortgelaufen sei, sobald er sich überzeugt habe, daß die Sswetlowa nicht beim Vater war. ‚Er konnte sich aber doch nicht durch das Fenster überzeugen,‘ entgegnet uns die Anklage. Warum konnte er denn das nicht? Das Fenster wurde doch auf das vom Angeklagten gegebene Zeichen geöffnet. Bei der Gelegenheit kann Fedor Pawlowitsch ein Wort entschlüpft sein, ein Ausruf hat vielleicht genügt – und das hat den Angeklagten vielleicht sofort davon überzeugt, daß die Sswetlowa nicht bei ihm war. Warum muß man durchaus voraussetzen, daß eine Sache so gewesen sei, wie wir sie uns vorstellen, oder richtiger, wie wir sie uns unbedingt vorstellen wollen? In der Wirklichkeit können tausend Dinge vorübergehend auftauchen, die selbst der feinsten Beobachtung eines Romanschriftstellers entgehen würden. ‚Ja, aber Grigorij hat die Tür offen gesehen, folglich muß der Angeklagte im Hause gewesen sein, und – folglich hat er ihn erschlagen.‘ Von dieser Tür, meine Herren Geschworenen ... Sehen Sie, diese offenstehende Tür hat nur eine Person gesehen, die sich indessen zu der Zeit selbst in einem Zustande befunden hat, der ... nun – möge auch die Tür offen gestanden haben, möge der Angeklagte sie geöffnet und aus dem Gefühl der Selbsterhaltung gelogen haben, ‚was ja so verständlich in seiner Lage wäre,‘ möge er, gut, möge er ins Haus eingedrungen sein – warum muß er ihn dann auch erschlagen haben? Er kann durch die Zimmer gelaufen sein, den Vater sogar gestoßen, geschlagen haben, doch deswegen kann er noch immer, nachdem er sich überzeugt hatte, daß die Sswetlowa nicht bei ihm war, ohne zu erschlagen, wieder fortgelaufen sein, froh darüber, daß sie nicht da war und er den Vater nicht zu erschlagen brauchte. Darum ist er vielleicht einige Minuten später vom Zaun zum alten Grigorij, den er im Jähzorn beschädigt hatte, hinabgesprungen – eben weil er imstande war, ein reines Gefühl, ein Gefühl des Mitleids und des Bedauerns zu empfinden. Er, der soeben der Versuchung, den Vater zu erschlagen, entgangen war, und der nun in seinem reinen Herzen Freude darüber empfand, daß er den Vater nicht getötet hatte! Schön bis zum Entsetzen beschreibt uns der Ankläger den schrecklichen Zustand des Angeklagten im Dorfe Mokroje, als die Liebe sich ihm plötzlich zuwandte und ihn zu neuem Leben aufrief, und als es ihm nun zu lieben unmöglich war, weil vor seinem Bewußtsein die blutige Leiche des Vaters lag und diese Leiche auch schon das Gericht hinter ihm herschickte. Nun hat aber der Ankläger die Möglichkeit einer solchen Liebesleidenschaft in diesem Augenblick immerhin zugelassen und sie nach seiner Psychologie folgendermaßen erklärt: ‚Ein trunkener Zustand war es, noch muß der Verbrecher durch zwei Straßen fahren, bis zum Richtplatze ist noch weit‘ usw. usw. Haben Sie da vielleicht nicht eine andere Person geschaffen, Herr Ankläger? Das möchte ich Sie denn doch fragen. Sollte der Angeklagte wirklich so roh und herzlos sein, daß er in diesem Augenblick an Liebe und Winkelzüge vor Gericht denken konnte, wenn auf seinem Gewissen das Blut seines Vaters lag? Nein, nein und abermals nein! Anderenfalls hätte er, sobald er sich gesagt, daß sie ihn liebte, ‚ihn zu sich heranzog, ihm ein neues Glück verhieß,‘ – oh, ich schwöre es, dann hätte er ein zweifaches, dreifaches Bedürfnis empfunden, sich zu töten, und er hätte sich auch getötet, wenn, wie gesagt, die Leiche des Vaters vor seinem Bewußtsein gelegen hätte! O nein, dann hätte er nicht vergessen, wo seine Pistolen lagen! Ich kenne den Angeklagten: die rohe Herzlosigkeit, die ihm vom Ankläger zugesprochen wird, stimmt nicht mit seinem Charakter überein. Er hätte sich getötet, das ist sicher; er hat sich aber nicht getötet, weil ‚die Mutter für ihn gebetet hatte‘ und sein Herz unschuldig am Blute seines Vaters war. Er quälte sich in dieser Nacht in Mokroje nur um den verwundeten Grigorij und betete zu Gott, daß der Alte wieder zu sich kommen möge, daß der Schlag nicht tödlich sein möge! Warum soll man nicht diese Auslegung der Ereignisse als wahr annehmen? Welch einen sicheren Beweis haben wir dafür, daß der Angeklagte uns belügt? Aber da ist ja die Leiche des Vaters, und man wird uns sofort wieder auf sie hinweisen. Gut, er ist hinausgelaufen, ohne ihn zu erschlagen, wer aber hat dann den Alten erschlagen?
Ich wiederhole es, die ganze Logik der Anklage besteht nur in dieser Frage: wer hat erschlagen, wenn nicht er? Man sagt, daß man niemanden an seine Stelle setzen könne. Meine Herren Geschworenen, verhält es sich wirklich so? Kann man denn wirklich niemand statt seiner beschuldigen? Wir haben gehört, wie der Ankläger alle Personen, die sich in dieser Nacht im Hause befunden haben, an den Fingern aufgezählt hat. Im ganzen waren es fünf Menschen. Ich gebe vollkommen zu, daß drei von ihnen außerhalb jedes Verdachtes stehen: der Erschlagene selbst, der alte Grigorij und seine Frau. Es bleiben also nur noch der Angeklagte und Ssmerdjäkoff übrig. Und siehe da, der Ankläger behauptet mit Pathos, daß der Angeklagte nur deshalb auf Ssmerdjäkoff hinweise, weil er doch auf niemand anderen mehr hinweisen könne, daß aber, wenn noch irgendeine sechste Person oder nur ein Schatten von einer sechsten Person da wäre, der Angeklagte sofort aufgeben würde, Ssmerdjäkoff zu beschuldigen, daß er sich sogar schämen würde, einen so lächerlichen Verdacht auszusprechen, und gegen den Sechsten aussagen würde. Meine Herren Geschworenen, warum kann ich nicht genau das Entgegengesetzte behaupten? Es stehen zwei Menschen vor uns: der Angeklagte und Ssmerdjäkoff, – warum kann ich nicht sagen, daß Sie meinen Klienten nur darum beschuldigen, weil Sie niemand anders zu beschuldigen haben? Und nur darum haben Sie niemanden zu beschuldigen, weil Sie voreingenommen Ssmerdjäkoff von jedem Verdacht ausgeschlossen haben. Ja, es ist wahr, auf Ssmerdjäkoff weisen nur der Angeklagte, seine beiden Brüder und die Sswetlowa hin, sonst niemand. Aber es ist doch noch ein Etwas vorhanden, das auf ihn hinweist! Das ist eine gewisse, wenn auch unklare Gärung, eine Stimmung, eine Frage, die wie ein Verdacht durch die Gesellschaft geht: ein Gerücht verbreitet sich ... es ist da eine allgemeine Erwartung. Schließlich sind da auch noch einige sehr bemerkenswerte Tatsachen, die zeugen könnten, wenn sie auch ein wenig unbestimmt sind, was ich zugeben muß: erstens ist da dieser epileptische Anfall gerade am Tage der Katastrophe, ein Anfall, den der Ankläger so sehr zu verteidigen sich bemüht hat. Dann ist da dieser plötzliche Selbstmord Ssmerdjäkoffs am Vorabend der Gerichtsverhandlung. Und ebenso unerwartet kommt nun, heute vor Gericht, die Aussage des einen Bruders des Angeklagten, der bis dahin an die Schuld des Bruders geglaubt hatte, und der nun plötzlich das Geld bringt und Ssmerdjäkoff als den Mörder angibt. Oh, ich bin vollkommen überzeugt, genau so wie der Gerichtshof und die Staatsanwaltschaft, daß Iwan Karamasoff an einem Nervenfieber erkrankt ist, daß seine Aussage in der Tat nur ein verzweifelter, im Fieber ersonnener Versuch, seinen Bruder zu retten, sein kann, und er bloß die Schuld auf den Erhängten abwälzen wollte. Immerhin ist abermals der Name Ssmerdjäkoff genannt worden, und abermals scheint man etwas Rätselhaftes gehört zu haben. Da ist irgend etwas noch nicht zu Ende gesprochen, meine Herren Geschworenen! Da fehlt noch ein Schluß, und das letzte Wort wird vielleicht noch einmal gesagt werden! Doch lassen wir das jetzt beiseite. Es ist eine Sache, die uns noch bevorsteht. Der Gerichtshof hat nichtsdestoweniger beschlossen, die Verhandlung fortzuführen. Und so will ich denn vorläufig etwas zu der Charakteristik des verstorbenen Ssmerdjäkoff bemerken, die der Ankläger mit solchem Geschick vor uns entrollt hat. Obgleich ich das Talent meines Widersachers aufrichtig bewundert habe, kann ich nicht mit den Grundzügen dieser seiner Charakteristik übereinstimmen. Ich bin bei Ssmerdjäkoff gewesen, ich habe ihn gesehen und mit ihm gesprochen, und ich muß gestehen, er hat auf mich einen ganz anderen Eindruck gemacht. Gesundheitlich war er schwach, das ist wahr, aber was seinen Charakter und sein Herz anbelangt – oh, da war er nicht schwach, nein, in diesen beiden Dingen war der Mensch durchaus nicht so schwach, wie der Ankläger von ihm glaubt! Auch habe ich durchaus keine Schüchternheit an ihm wahrgenommen, jene Schüchternheit, die der Ankläger für so charakteristisch an ihm hält. Treuherzigkeit habe ich an ihm erst recht nicht bemerkt, im Gegenteil, ich fand ihn schrecklich mißtrauisch, was er nur durch Naivität zu verbergen suchte. Seinen Verstand fand ich geradezu hoch entwickelt, während die Anklage ihn im Gegenteil als einen Schwachsinnigen hinstellte. Auf mich hat er einen ganz bestimmten Eindruck gemacht: ich bin mit der Überzeugung fortgegangen, daß er ein durchaus schlechter, maßlos ehrgeiziger, rachsüchtiger, ein boshafter und neidischer Mensch ist. Ich habe einige Erkundigungen über ihn eingezogen, und ich habe folgendes erfahren: Er hat seine Herkunft gehaßt, hat sich ihrer geschämt und hat vor Wut geknirscht bei dem Gedanken, daß er von der ‚Stinkenden‘ abstammte. Gegen den Diener Grigorij und dessen Frau, seine beiden Wohltäter von Kindheit an, hat er sich unehrerbietig betragen. Rußland hat er verflucht und verspottet. Er hat davon geträumt, nach Frankreich zu fahren und einen Franzosen aus sich zu machen. Er hat oft davon gesprochen, daß ihm dazu die Mittel fehlten. Mir scheint, daß er niemanden geliebt hat, außer sich selbst. Jedenfalls hat er sich bis zur Krankhaftigkeit hochgeschätzt. Bildung hat er nur in guten Kleidern, reinen Plätthemden und gewichsten Stiefeln gesehen. Er hat sich – und dafür gibt es Beweise – für den unehelichen Sohn Fedor Pawlowitschs gehalten und hat seine Stellung im Vergleich zu den ehelichen Kindern seines Herrn gehaßt: ‚Ihnen gehört alles, mir aber nichts, sie haben alle Rechte, sind die Erben, ich aber bin nur der Koch.‘ Er hat mir mitgeteilt, daß er mit Fedor Pawlowitsch zusammen das Geld ins Kuvert getan habe. Die Bestimmung dieser Summe – mit dreitausend Rubeln hätte er seine Karriere machen können – war ihm natürlich gleichfalls verhaßt. Dazu hat er noch die dreitausend Rubel in hellen regenbogenfarbenen Kreditbilletten gesehen – danach habe ich ihn ausdrücklich gefragt. Oh, zeigen Sie niemals einem neidischen und eigensüchtigen Menschen viel Geld auf einmal! Er aber hat damals zum erstenmal eine so große Summe in der Hand gehalten. Der Eindruck dieses regenbogenfarbenen Pakets konnte sich in seiner Einbildungskraft widerspiegeln, bis zur höchsten Erregung, wenn auch zunächst ohne Folgen. Der verehrte Ankläger hat mit außergewöhnlicher Feinheit alle pro und contra Annahmen der Möglichkeit, Ssmerdjäkoff des Mordes zu beschuldigen, vor uns skizziert und uns noch besonders gefragt: Wozu sollte er einen Epilepsieanfall simuliert haben? Aber er braucht ihn ja gar nicht simuliert zu haben, der Anfall konnte doch auch ganz von selbst und natürlich gekommen sein. Doch ebenso natürlich kann der Anfall dann auch wieder vorübergegangen und kann der Kranke aufgewacht sein. Nehmen wir an, er hat sich nicht sofort erholt, aber er ist vielleicht zu sich gekommen und aufgewacht, wie das bei den Fallsüchtigen häufig vorkommt. Die Anklage fragt: In welchem Augenblick hat denn Ssmerdjäkoff den Mord verübt? Diesen Augenblick festzustellen, ist außerordentlich leicht. Er ist aus tiefem Schlaf erwacht – denn er schlief doch nur: nach einem Anfalle verfällt der Epileptiker immer in einen tiefen Schlaf – genau in dem Augenblick, als der alte Grigorij den fortlaufenden Angeklagten auf dem Zaune am Fuß packte und über den ganzen Garten hin: ‚Vatermörder!‘ schrie. Dieser ungewöhnliche Schrei durch die Stille und Dunkelheit kann Ssmerdjäkoff sehr wohl aufgeweckt haben, da sein Schlaf zu der Zeit durchaus nicht mehr so fest zu sein brauchte: er hätte schon eine Stunde vorher erwachen können. Daraufhin kann er sehr wohl aus dem Bett aufgestanden und unbewußt, ohne jegliche Absicht, hinausgegangen sein, um zu sehen, was dieser Schrei auf sich hatte. In seinem Kopf ist noch krankhafter Dunst, das Bewußtsein schlummert noch, – da ist er aber schon im Garten: Er tritt an die erleuchteten Fenster heran und erfährt von seinem Herrn, der natürlich über sein Erscheinen sehr erfreut ist, die schreckliche Nachricht. Er überlegt sofort. Von dem erschrockenen Herrn erfährt er alle Einzelheiten. Und plötzlich durchzuckt sein zerstörtes und krankes Gehirn ein Gedanke, – ein schrecklicher, aber verführerischer und unabweisbarer Gedanke: den Herrn zu ermorden, die Dreitausend zu nehmen und später alles auf den jungen Herrn zu wälzen! Wen würde man verdächtigen, wenn nicht den jungen Herrn, denn er war dagewesen, das konnte man beweisen?! Eine schreckliche Gier nach Geld, nach der Beute, konnte ihn, zusammen mit der Vorstellung von der Straflosigkeit, gepackt haben. Oh, diese plötzlichen und unabweisbaren Ausbrüche stellen sich so oft bei einer sich darbietenden Gelegenheit ein – hauptsächlich bei Mördern, die sich noch vor einer Minute nicht bewußt waren, daß sie töten würden! Und nun: Ssmerdjäkoff konnte zum Herrn hineingehen und seinen Plan ausführen, aber womit, mit welcher Waffe? Mit dem ersten besten Stein, den er im Garten ergriffen hatte. Aber wozu, zu welchem Zweck? Nun, mit dreitausend Rubeln kann man doch Karriere machen! Bitte, ich widerspreche mir durchaus nicht: Das Geld kann ja doch existiert haben. Und Ssmerdjäkoff wußte sogar ganz allein, wo es zu finden war, wo es beim Herrn lag. – Aber der Umschlag des Geldes, das zerrissene Kuvert ‚auf dem Fußboden‘? Der Ankläger machte, als er vom Paket sprach, eine außerordentlich feine Bemerkung darüber, daß nur ein ungewohnter Dieb, wie z. B. Karamasoff, das Kuvert auf dem Fußboden hätte liegen lassen können, Ssmerdjäkoff dagegen niemals ein Beweisstück seines Verbrechens liegen gelassen haben würde. Meine Herren Geschworenen, als ich das hörte, fühlte ich plötzlich, daß er mir etwas bereits Bekanntes sagte. Stellen Sie sich vor: Genau dieselbe Bemerkung, diesen Hinweis darauf, daß nur Karamasoff mit dem Paket so hätte verfahren können, habe ich genau vor zwei Tagen von Ssmerdjäkoff selbst gehört, und er hat mich damit sogar in Erstaunen gesetzt: Mir fiel nämlich sofort auf, daß er sich naiv stellte, um mir diesen Gedanken aufzubinden. Ich sollte selbst zu diesem Schluß kommen. Jawohl, er hat sich ordentlich bemüht, mir diesen Gedanken einzugeben. Und jetzt frage ich: Hat er nicht auch dem verehrten Ankläger diesen Gedanken in derselben Weise eingeflüstert? Man wird sagen: Aber die Alte, die Frau Grigorijs? Sie hat doch gehört, wie der Kranke neben ihr die ganze Nacht gestöhnt hat. Es ist möglich, daß sie es gehört hat, aber die Einbildungskraft ist oft sehr stark. Ich kannte eine Dame, die sich bitter beklagte, daß die ganze Nacht ein Hund auf dem Hofe sie durch fortwährendes Bellen gestört und sie daher fast überhaupt nicht geschlafen habe. Dabei hatte das arme Tier, wie sich später herausstellte, im ganzen nur zwei oder dreimal gebellt. Aber das ist ja ganz natürlich! Der Mensch schläft, und plötzlich hört er ein Stöhnen, er erwacht und ärgert sich, daß man ihn gestört hat, schläft aber augenblicklich wieder ein. Nach zwei Stunden hört er wieder ein Stöhnen, wieder wacht er auf, und wieder schläft er ein; schließlich wieder ein Stöhnen, und zwar wiederum nach zwei Stunden, im ganzen also nur dreimal in der Nacht. Am Morgen steht er auf und beklagt sich, daß er in der Nacht ununterbrochen gestört worden sei. So muß es ihm auch durchaus erscheinen! die Zwischenräume von zwei Stunden hat er verschlafen und erinnert sich ihrer nicht, erinnert sich nur der Minuten des Erwachens, und da scheint es ihm denn, er sei die ganze Nacht gestört worden. Aber warum, warum, ruft die Anklage aus, warum hat Ssmerdjäkoff in seinem Schreiben vor dem Tode nicht alles eingestanden? ‚Zu dem einen reichte das Gewissen,‘ haben wir doch noch vor kurzem gehört, ‚zum anderen aber nicht.‘ Aber erlauben Sie: Gewissen – das ist doch schon Reue, und Reue konnte bei diesem Selbstmörder vielleicht überhaupt nicht vorhanden gewesen sein, sondern nur Verzweiflung. Verzweiflung aber und Reue sind zwei ganz verschiedene Dinge. Die Verzweiflung kann boshaft und unstillbar sein, und der Selbstmörder kann in dem Augenblick, als er Hand an sich legte, diejenigen sogar doppelt gehaßt haben, die er sein ganzes Leben lang beneidet hat. Meine Herren Geschworenen, vermeiden Sie es, einen Justizirrtum zu begehen! Warum soll das unwahrscheinlich sein, was ich Ihnen soeben vorgelegt und geschildert habe? Finden Sie einen Fehler in meiner Auslegung, finden Sie, daß sie unmöglich, absurd ist? Wenn nur ein Schatten von Möglichkeit, nur ein Schatten von Wahrheit in meiner Annahme ist – so enthalten Sie sich einer Verurteilung! Und kann denn hier nur von einem Schatten die Rede sein? Ich schwöre bei allem, was mir heilig ist, ich glaube an meine Auslegung, die ich Ihnen soeben auseinandergesetzt habe, an meine Erklärung des Mordes! Doch hauptsächlich, hauptsächlich regt es mich auf, und der Gedanke erbittert mich geradezu, daß aus der ganzen Menge von Tatsachen, die die Anklage gegen den Angeklagten auftürmt, nicht eine einzige Tatsache bewiesen und daher unwiderruflich ist, und daß der Unglückliche nur durch die Verkettung der Tatsachen zugrunde gehen soll. Ja, diese Verkettung der Tatsachen ist schrecklich! Dieses Blut, dieses von den Fingern herabfließende Blut, die blutdurchtränkte Wäsche, die schwarze Nacht, durch die der Schrei ‚Vatermörder!‘ gellt, und der mit verwundetem Schädel am Boden Liegende, darauf diese Unmenge von Hinweisen, Gesten, Ausrufen des Angeklagten – oh, alles das kann stark beeinflussen! Kann das aber auch Ihre Überzeugung beeinflussen, kann das auch Ihre Überzeugung bestechen, meine Herren Geschworenen? Denken Sie daran, daß Ihnen die unumschränkte Macht zu binden und zu lösen gegeben ist. Doch je größer die Gewalt ist, um so schwerer ist ihre Anwendung. Nicht ein Jota werde ich von dem aufgeben, was ich soeben gesagt habe. Doch möge es sein, nehmen wir an, daß ich auf einen Augenblick mit der Anklage übereinstimme: Daß mein unglücklicher Klient seine Hände mit dem Blute des Vaters befleckt hat. Das ist nur eine Annahme, meine Herren. Ich wiederhole es, daß ich auch nicht einen Augenblick an seiner Unschuld zweifle. Aber nehmen wir einmal an, daß der Angeklagte des Vatermordes schuldig ist. So hören Sie bitte meine Rede bis zu Ende, selbst wenn ich sogar diese Annahme zulasse. Mir liegt etwas auf dem Herzen, was ich aussprechen möchte, denn ich fühle auch in Ihren Herzen und Gedanken diesen großen Kampf ... Verzeihen Sie mir dieses Wort, meine Herren Geschworenen, von Ihren Herzen und Gedanken. Doch ich möchte bis zum Ende wahr und aufrichtig bleiben. Meine Herren, seien wir es einmal alle – seien wir wahr und aufrichtig!“
An dieser Stelle wurde der Verteidiger durch ziemlich starken Applaus unterbrochen. In der Tat, seine letzten Worte hatte er in einem so ehrlich klingenden Tone gesprochen. Alle fühlten, daß er wirklich etwas zu sagen hatte, und daß das, was er jetzt sagen würde, vielleicht das allerwichtigste war. Als aber der Vorsitzende den Applaus hörte, klingelte er sofort und drohte mit erhobener Stimme an, daß er den Saal „räumen“ lassen werde, falls Ähnliches noch einmal vorkommen sollte. Alles wurde still, und Fetjukowitsch begann von neuem – diesmal mit einer geradezu beseelten Stimme, die jetzt ganz anders klang als vorhin.