XIII. Der Übertreter des Gebots

„Nicht nur die Verkettung der Tatsachen vernichtet meinen Klienten,“ hub er an, „nein, meine Herren Geschworenen, im Grunde ist es nur eine einzige Unleugbarkeit, die ihm den Hals bricht: das ist – der Leichnam des alten Vaters! Wäre es ein gewöhnlicher Mord, so würden Sie bei der Richtigkeit, Unbewiesenheit und Phantastik der sogenannten Anklagebeweise – wenn man jeden von ihnen einzeln und nicht in der Gesamtheit betrachtet –, so würden Sie, sage ich, die Anklage zurückweisen, oder Sie würden sich mindestens bedenken, das Leben eines Menschen nur auf Grund des Vorurteils, das er leider gar zu sehr verdient hat, zugrunde zu richten! Hier aber handelt es sich nicht um einen gewöhnlichen Mord, sondern um einen Vatermord! Das imponiert! Und zwar in einem solchen Maße, daß selbst die Nichtigkeit und Unbewiesenheit der anklagenden Tatsachen selbst dem Vorurteilslosesten nicht mehr so nichtig und nicht mehr so unbewiesen erscheinen. Wie nun einen solchen Angeklagten rechtfertigen? Wie, wenn er den Mord verübt hat und ungestraft entkommt? – Das ist es, was ein jeder sich in seinem Herzen unwillkürlich, instinktiv fragt. Ja, es ist ein schreckliches Ding, das Blut des Vaters zu vergießen, das Blut desjenigen, der mich gezeugt, geliebt, sein Leben für mich nicht geschont hat, der von meinen ersten Kinderjahren an für mich bei jeder Kinderkrankheit gezittert, sein ganzes Leben lang nur für mein Glück gearbeitet und gelitten, nur von meinen Freuden und Erfolgen gelebt hat! Ja, einen solchen Vater zu erschlagen – das wäre nicht auszudenken! Meine Herren Geschworenen, was ist ein Vater, ein wirklicher Vater, was ist das für ein Wort, was für eine unheimlich große Idee liegt in diesem großen Worte? Wir haben soeben darauf hingewiesen, was ein wahrer Vater ist, und was er sein soll. In dem vorliegenden Falle jedoch, der uns jetzt alle so beschäftigt, und der uns quält und bis ins Herz getroffen hat, in diesem vorliegenden Falle entspricht der Vater, der verstorbene Fedor Pawlowitsch Karamasoff, nicht im geringsten, nicht im allermindesten jenem Begriff von einem Vater, den wir im Herzen tragen. Das ist das Unglück. Ja, in der Tat, gar mancher Vater ist das Unglück seiner Kinder. Betrachten wir dieses Unglück jetzt etwas aus der Nähe, – und wir dürfen doch, meine Herren Geschworenen, im Hinblick auf die Wichtigkeit der bevorstehenden Entscheidung, vor nichts zurückschrecken. Gerade jetzt dürfen wir weniger denn je mit den Händen gewisse Ideen zurückscheuchen, wie Kinder oder ängstliche Frauen, um den treffenden Vergleich des verehrten Anklägers zu gebrauchen. Nun hat mein hochgeachteter Gegner – der schon mein Gegner war, noch bevor ich mein erstes Wort gesprochen hatte – hat mein Gegner mehr als einmal ausgerufen: ‚Nein, ich will die Verteidigung des Angeklagten keinem anderen überlassen –, ich bin der Ankläger, ich will auch der Verteidiger sein!‘ Das hat er, wie gesagt, ein paarmal ausgerufen, indessen hat er aber zu erwähnen vergessen, daß der Angeklagte, wenn er ganze dreiundzwanzig Jahre lang eine solche Dankbarkeit für ein einziges Pfund Nüsse im Herzen bewahrt hat, das ihm der einzige Mensch geschenkt hat, der während seines Aufenthaltes als Kind im Elternhause freundlich zu ihm gewesen ist, daß ein solcher Mensch in diesen dreiundzwanzig Jahren auch nicht hat vergessen können, wie er auf dem Hinterhofe barfüßig umhergelaufen ist, mit bloßen Beinchen und in ‚Höschen an einem Knopf‘, wie dies uns der menschenfreundliche Doktor Herzenstube geschildert hat. Meine Herren Geschworenen, wozu sollen wir noch näher dieses Unglück untersuchen und wiederholen, was doch alle schon wissen! Was hat mein Klient hier vorgefunden, als er nach Haus, zum Vater kam? Und warum, warum nur stellt man meinen Klienten als gefühllosen Egoisten, als Ungeheuer dar? Er ist gewiß zügellos, wild und wüst, und dafür verurteilen wir ihn auch jetzt. Wer aber ist schuld an seinem unglücklichen Leben, wen trifft die Schuld, daß er bei guten Anlagen eine so schlechte Erziehung erhalten hat, dieser kleine verlassene Junge mit dem prächtigen liebebedürftigen Herzen? Hat ihm denn auch nur ein einziger Mensch Vernunft beigebracht, hat ihm denn überhaupt jemand auch nur ein wenig Liebe in seiner freudlosen Kindheit gezeigt? Mein Klient ist nur unter Gottes Obhut aufgewachsen, also mit anderen Worten: wie ein wildes Tier. Vielleicht hat er sich danach gesehnt, seinen Vater nach so langer Zeit wiederzusehen, er hat vielleicht schon tausendmal, wenn er sich seiner Kindheit wie eines Traumes entsann, die widerlichen Erinnerungen verscheucht und sich mit ganzer Seele danach gesehnt, seinen Vater rechtfertigen und umarmen zu können! Und nun, was findet er hier? Mit zynischem Spott, mit Mißtrauen und Betrügereien wegen des strittigen Geldes wird er empfangen. Die Gespräche und die Lebensphilosophie, die er täglich ‚beim Kognak‘ mit anhören muß, verursachen ihm fast Übelkeit. Und alsbald sieht er, wie dieser Vater mit seinem, des Sohnes Gelde, ihm, dem Sohne, die Geliebte abspenstig machen will. Das ist mehr als ekelhaft und grausam, meine Herren Geschworenen. Und dieser selbe alte Vater beklagt sich nun bei allen über die Unehrerbietigkeit des Sohnes, sucht ihn in der ganzen Gesellschaft anzuschwärzen, mit Schmutz zu bewerfen, ihm zu schaden, wo er nur kann, er verleumdet ihn überall, und schließlich kauft er seine Wechsel auf, um ihn, seinen leiblichen Sohn, ins Gefängnis zu bringen! Meine Herren Geschworenen, diese Seelen, diese dem Anscheine nach wilden, heftigen, zügellosen Menschen, wie mein Klient, sind meistenteils sehr zärtlich, nur zeigen sie es nicht. Lachen Sie bitte nicht, lachen Sie nicht über meine Worte! Der verehrte Ankläger hat meinen Klienten vorhin in unbarmherziger Weise zu verspotten gesucht, indem er in ganz besonderer Art andeutete, daß Dmitrij Karamasoff Schiller liebe: alles ‚Schöne und Hehre‘. Ich hätte mich an seiner Stelle darüber nicht lustig gemacht, wenn ich der Ankläger gewesen wäre. Denn diese Herzen, – oh, erlauben Sie mir, daß ich diese Herzen verteidige, die so selten verstanden und so oft ungerecht beurteilt werden! Diese Herzen sehnen sich so oft nach Zärtlichkeit, Schönheit und Gerechtigkeit, sie tun es gleichsam aus Widerspruch zu sich selbst, zu ihrem wüsten Leben, ihrer Wildheit. Sie sehnen sich vielleicht unbewußt danach, aber sie sehnen sich mit ihrer ganzen Leidenschaft. Äußerlich leidenschaftlich und hart, sind sie fähig, bis zur Qual etwas liebzugewinnen, ein Weib zum Beispiel, und das lieben sie dann mit einer geistigen, einer höheren Liebe. Ich bitte Sie wiederum, nicht über mich zu lachen. Ich wiederhole: das pflegt gerade bei diesen Naturen am häufigsten vorzukommen. Nur können sie ihre Leidenschaft, die zuweilen gewiß sehr roh ist, nicht verbergen, und das ist es dann, was allen sofort an ihnen auffällt. Jawohl: das wird sofort bemerkt. Den inneren Menschen aber sieht niemand. Doch ihre Leidenschaften werden schnell gestillt, und dieser anscheinend rohe und grausame Mensch sucht in der Nähe eines edlen und schönen Wesens nur Erneuerung, sucht die Möglichkeit, sich zu bessern, gut zu werden, ehrlich und edel, oder ‚schön und erhaben‘, wie sehr dieses Wort auch verspottet werden mag. Ich habe gesagt, daß ich nicht wage, über den Roman meines Klienten mit Fräulein Werchoffzeff zu sprechen. Ich denke aber, daß mir doch ein halbes Wort über ihn gestattet sein wird. Wir alle haben vorhin gehört – nicht die Aussage, sondern nur das wahnsinnige Geschrei eines Weibes, das sich rächen will. Doch nicht ihr, oh, wahrlich nicht, ihr steht es zu, ihm einen Treubruch vorzuwerfen, denn sie, sie selbst hat ihm die Treue zuerst gebrochen. Hätte sie nur einen Augenblick Zeit gehabt, nachzudenken, so würde sie bestimmt nicht eine solche Aussage gemacht haben. Meine Herren Geschworenen, glauben Sie ihr nicht, nein, mein Klient ist kein ‚Auswurf des Menschengeschlechts‘, kein ‚Ungeheuer‘, wie sie ihn vorhin genannt hat! Der gekreuzigte Menschenfreund hat gesagt: ‚Ich bin der gute Hirt, ein guter Hirt gibt seine Seele hin für seine Schafe, auf daß kein einziges untergehe ...‘ Richten auch wir keine Menschenseele zugrunde! Ich habe soeben gefragt, was das Wort ‚Vater‘ bedeutet, und ich habe gesagt, daß es ein großes Wort, eine uns teure Benennung sei. Doch, meine Herren Geschworenen, mit einem Worte muß man ehrlich umgehen, und ich verlange, daß man jedem Dinge seinen richtigen Namen gibt, nicht aber, daß man Worte, die uns teuer sind, mißbraucht. Und darum sage ich dreist: Ein Vater, wie der erschlagene alte Karamasoff, kann nicht Vater genannt werden, er ist dieses Namens nicht wert! Die Liebe zum Vater ist, wenn sie vom Vater nicht gerechtfertigt wird, eine Albernheit, eine Unmöglichkeit. Liebe kann man nicht aus Nichts schaffen, nur Gott allein vermag aus Nichts etwas zu schaffen. ‚Väter, betrübet nicht eure Kinder‘, schreibt der Apostel aus der Fülle seines liebeglühenden Herzens heraus. Nicht wegen meines Klienten führe ich hier diese heiligen Worte an, um aller Väter willen rufe ich sie uns wieder ins Gedächtnis. Wer hat mir die Macht und das Recht gegeben, den Vätern Liebe zu lehren? Niemand. Aber als Mensch und als Staatsbürger rufe ich die Väter auf – vivos voco! Wir weilen nicht lange hier auf Erden, wir tun viel üble Taten, wir reden viel üble Worte. Darum aber sollten wir alle den geeigneten Augenblick unseres Zusammenseins benutzen, um einander ein gutes Wort zu sagen. So tue denn auch ich: solange ich an diesem Platze stehe, will ich meinen Augenblick benutzen. Nicht umsonst ist uns diese Tribüne durch höchsten Willen geschenkt worden – von ihr aus hört uns ganz Rußland. Nicht nur zu den hier versammelten Vätern rede ich, sondern allen Vätern rufe ich zu: ‚Väter, betrübet nicht eure Kinder!‘ Ja, erfüllen wir zuerst selbst das Gebot Christi – dann erst können wir auch von unseren Kindern die Erfüllung der Gebote verlangen! Andernfalls sind wir nicht die Väter, sondern die Feinde unserer Kinder, und auch sie sind dann nicht unsere Kinder, sondern unsere Feinde, und wir selbst machen sie zu unseren Feinden! ‚Mit welchem Maße du messest, wird dir wiedergemessen werden‘ – das sage nicht ich, das droht uns das Evangelium an: Mit dem Maße sollst du wiedermessen, mit dem dir gemessen wird. Wie soll man nun die Kinder anklagen, wenn sie uns mit demselben Maße wiedermessen, mit dem wir messen? In Finnland kam vor kurzem ein Mädchen, eine Dienstmagd, in den Verdacht, im geheimen ein Kind geboren zu haben. Man fing an, sie zu beobachten, und schließlich fand man auf dem Hausboden, ganz unter dem Dache, in einer Ecke unter Ziegelsteinen ihren Koffer, von dem niemand etwas gewußt hatte. Und in diesem Koffer fand man die kleine Leiche ihres neugeborenen Kindes. Im selben Koffer fand man außerdem noch die Skelette zweier schon früher von ihr geborener und, wie sie selbst eingestanden hat, von ihr im Augenblick der Geburt umgebrachter Kinder. Meine Herren Geschworenen, ist das nun eine Mutter ihrer Kinder? Wohl hat sie sie geboren, aber ist sie ihnen denn eine Mutter gewesen? Wer von uns wird wagen, sie mit dem heiligen Mutternamen zu nennen? Seien wir mutig, meine Herren Geschworenen, seien wir sogar kühn, denn wir sind verpflichtet, es zu sein, besonders in diesem Augenblick, und uns nicht vor gewissen Worten und Ideen zu fürchten, wie die Moskauer Kaufmannsfrauen, die vor ‚Metall‘ und ‚Schwefeläther‘ Angst haben.[31] Nein, beweisen wir, daß auch wir in den letzten zehn Jahren der Entwicklung fortgeschritten sind, und sagen wir gerade heraus: Der Erzeuger ist noch nicht Vater, Vater ist, wer nicht nur erzeugt, sondern den Namen Vater auch verdient hat. Oh, gewiß, es gibt auch noch eine andere Deutung, eine andere Auffassung und Auslegung des Wortes Vater, die verlangt, daß mein Vater auch dann, wenn er ein Ungeheuer ist, wenn er zum Verbrecher an seinem Kinde geworden ist, immer noch mein Vater bleibe, und zwar nur darum, weil er mich erzeugt hat. Doch diese Bedeutung ist sozusagen schon eine mystische, die ich nicht mit dem Verstande begreifen, sondern nur mit dem Glauben annehmen kann, oder richtiger gesagt, auf Treu und Glauben, wie es uns mit vielem anderen ergeht, das wir nicht begreifen können, und an das zu glauben uns lediglich die Religion gebietet. Aber ein solcher Fall mag dann außerhalb des Bereiches des wirklichen Lebens bleiben. Im Bereiche des wirklichen Lebens dagegen, das nicht nur seine besonderen Rechte hat, sondern selbst auch große Pflichten auferlegt, – in diesem Bereiche müssen wir, und sind wir sogar verpflichtet, wenn wir menschlich und Christen sein wollen, nur diejenigen Überzeugungen durchzuführen, die von der Vernunft und der Erfahrung gutgeheißen, die durch den Schmelzofen der Analyse hindurchgegangen sind. Mit einem Wort, wir haben vernünftig zu handeln und nicht unvernünftig, wie etwa im Traum und in der Phantasie, damit wir den Menschen keinen Schaden zufügen, damit wir keinen Menschen unnütz quälen und zugrunde richten. Dann, dann erst wird es eine wirklich christliche Tat sein, nicht nur eine mystische, sondern eine vernünftige und eine bereits wahrhaft menschenfreundliche Tat ...“

Bei diesen Worten erhob sich an vielen Stellen des Saales starker Applaus, aber Fetjukowitsch begann sogleich mit den Armen zu fuchteln, als flehe er darum, ihn nicht zu unterbrechen und ihn ausreden zu lassen. Im Augenblick wurde es still. Der Redner fuhr fort:

„Glauben Sie denn, meine Herren Geschworenen, daß solche Fragen unsere Kinder unberührt lassen können, wenn sie, sagen wir, schon Jünglinge sind, oder, sagen wir, wenn sie schon angefangen haben nachzudenken? Nein, das können sie nicht, und wir können auch keine unmögliche Schonung von ihnen verlangen. Der Anblick eines unwürdigen Vaters, besonders im Vergleich mit anderen, würdigen Vätern seiner Altersgenossen, veranlaßt den Jüngling unwillkürlich zum Nachdenken und gibt ihm unwillkürlich qualvolle Fragen ein. Auf diese Fragen aber wird ihm immer nur die eine Bürokratenantwort zuteil: ‚Er hat dich erzeugt, du bist Blut von seinem Blut, folglich mußt du ihn lieben.‘ Wie soll da der Jüngling nicht ernster darüber nachdenken und sich nicht unwillkürlich fragen: ‚Ja, hat er mich denn geliebt, als er mich zeugte?‘ und er wundert sich selbst immer mehr darüber. ‚Hat er mich denn um meinetwillen erzeugt? Er kannte mich doch gar nicht, er hat ja nicht einmal gewußt, welch eines Geschlechtes ich sein würde, er hat vielleicht überhaupt nicht an mich gedacht, in jenem Augenblick der Leidenschaft, die vielleicht nur vom Weine herrührte, und in dem er mir vielleicht bloß die Neigung zum Trunke vererbte. Das sind seine ganzen Wohltaten an mir ... Warum nun soll ich ihn jetzt mein ganzes Leben lang dafür lieben, daß er mich zwar erzeugt, dann aber, seit dem ersten Tage meines Lebens mich überhaupt nicht geliebt hat?‘ Diese Fragen werden Ihnen vielleicht roh und grausam erscheinen, doch fordern Sie von einem so jungen Geiste nicht Unmögliches, verlangen Sie nicht, daß er sich mäßige und in allem ebenso denke wie seine Lehrer. ‚Jage die Natur zur Tür hinaus, sie fliegt durchs Fenster wieder herein.‘ Und vor allen Dingen, ja, vor allen Dingen fürchten wir uns nicht vor ‚Metall‘ und ‚Schwefeläther‘ und entscheiden wir über die Frage so, wie es Vernunft und Nächstenliebe verlangen, und nicht so, wie mystische Begriffe vorschreiben. Wie aber soll man darüber entscheiden? Sehr einfach: Mag der Sohn vor seinen Vater hintreten und ihn nicht leichtfertig, sondern ernst und bedacht fragen: ‚Vater, sage du mir: Warum soll ich dich lieben? Vater, beweise mir, daß ich dich lieben muß.‘ Und wenn dieser Vater dann imstande und fähig ist, ihm zu antworten und zu beweisen, so wird es eine gute Familie sein, die nicht nur auf mystischem Vorurteil allein beruht, sondern auf vernünftigen, selbstbewußten und streng humanen Grundlagen. Im entgegengesetzten Falle, wenn der Vater es ihm nicht beweisen kann – so ist die Familie aufgelöst, so ist ihr Ende gekommen: Er hört auf, Vater zu sein, und der Sohn erlangt die Freiheit und das Recht, seinen Vater hinfort für einen ihm Fremden und sogar für seinen Feind zu halten. Meine Herren Geschworenen, unsere Tribüne sollte die Schule der Wahrheit und der gesunden Auffassung sein!“

Hier wurde der Redner durch unbändigen, beinahe rasenden Applaus unterbrochen. Selbstverständlich, es applaudierte nicht der ganze Saal, aber immerhin reichlich die Hälfte des ganzen Publikums. Es waren die Väter und Mütter, die Beifall klatschten. Von oben, wo die Damen saßen, hörte man Beifallsrufe, winkte man mit den Taschentüchern. Der Vorsitzende griff nach seiner Glocke und begann aus allen Kräften zu läuten. Das Benehmen des Publikums hatte ihn offenbar sehr empört. Trotzdem wagte er nicht, den Saal räumen zu lassen, wie er noch kurz vorher gedroht hatte: Selbst die ehrwürdigen, hohen Standespersonen, die hinter dem Gerichtshofe auf besonderen Lehnstühlen saßen, die alten Herren mit den Sternen auf den Röcken, selbst die applaudierten und gaben dem Redner ihren Beifall zu erkennen. So begnügte sich denn der Vorsitzende, als der Lärm sich gelegt hatte, mit der strengen Wiederholung derselben Androhung, den Saal „räumen“ zu lassen, und der triumphierende Fetjukowitsch ergriff von neuem das Wort.

„Meine Herren Geschworenen, Sie erinnern sich dieser furchtbaren Nacht, von der heute schon so viel gesprochen worden ist, in der der Sohn über den Zaun geklettert war, der des Vaters Besitztum einschloß, und wie dieser Sohn dann schließlich vor seinen Vater trat und Auge in Auge seinem Erzeuger, seinem Feinde und Beleidiger gegenüberstand. Ich behaupte, und ich bestehe mit ganzem Nachdruck darauf, daß er nicht um des Geldes willen in den Garten gelaufen war. Die Beschuldigung, er habe einen Raubmord verübt, ist vollkommen unsinnig, ist eine Ungereimtheit, wie ich vorhin schon auseinandergesetzt habe. Und auch nicht, um ihn zu erschlagen, ist er bei seinem Vater eingedrungen. Wenn er schon früher diese Absicht gehabt hätte, so würde er sich doch wenigstens mit einer Waffe versehen haben, denn diese kleine Mörserkeule hat er ja doch nur unwillkürlich ergriffen, ohne selbst zu wissen warum und wozu. Nehmen wir jetzt an, daß er das Zeichen an die Tür geklopft hat und ins Haus eingedrungen ist – ich habe ja schon gesagt, daß ich keinen Augenblick an diese Fabel glaube, – aber nehmen wir jetzt einmal an, daß es so gewesen sei! Meine Herren Geschworenen, ich schwöre Ihnen bei allem, was heilig ist: Wäre der Tote nicht sein Vater gewesen, sondern ein Fremder, der ihn gekränkt und beleidigt hat, so wäre er, nachdem er alle Zimmer durchsucht und sich überzeugt hätte, daß das geliebte Weib sich nicht im Hause befand, so wäre er, das sage ich, unverzüglich wieder hinausgelaufen, ohne dem Rivalen etwas anzutun, er hätte ihn vielleicht hart und grob angefahren, doch das wäre dann auch alles gewesen, denn er hätte weiter keine Zeit für ihn gehabt – er mußte doch erfahren, wo sie sich befand! Aber der Vater, der Vater – oh, alles hat nur der Anblick des Vaters getan, seines von Kindheit an verhaßten Feindes, seines Beleidigers, der jetzt – sein ungeheuerlicher Rivale war! Da hat ihn denn der Haß unwillkürlich überwältigt, da war keine Zeit mehr zum Überlegen; alles erhob sich in einem Augenblick! Das war ein Affekt des Wahnsinns oder völliger Sinnlosigkeit, gleichzeitig aber auch ein Affekt der Natur, die für ihre ewigen Gesetze unaufhaltbar und unbewußt Rache nimmt, wie dies die Natur ständig tut. Aber der Mörder hat auch da nicht ermordet – das behaupte ich, das rufe ich dreist aus –, nein, er hat nur in angeekeltem Unwillen mit der Hand einmal ausgeholt, ohne erschlagen zu wollen, ohne zu wissen, daß er erschlagen würde. Hätte er nicht diese verhängnisvolle Mörserkeule in der Hand gehabt, so hätte er den Vater vielleicht nur verprügelt, aber nicht erschlagen. Als er fortlief, wußte er nicht, ob der von ihm niedergestreckte alte Mann wirklich tot war. Ein solcher Todschlag ist kein Mord. Und ein solcher Todschlag ist erst recht kein Vatermord. Nein, den Todschlag eines solchen Vaters kann man nicht Vatermord nennen. Ein solcher Todschlag könnte nur aus Vorurteil Vatermord genannt werden! Und hat nun dieser Todschlag wirklich stattgefunden, ist er denn auch wirklich von dem Angeklagten ausgeführt worden? Das frage ich Sie immer und immer wieder! Das frage ich alle aus der Tiefe meiner Seele unermüdlich, immer wieder! Meine Herren Geschworenen, da werden wir ihn nun verurteilen, und er wird sich dann sagen: ‚Diese Menschen haben nichts für mich getan, nichts für meine Erziehung, meine Bildung, um mich besser zu machen, um mich zum Menschen zu machen. Sie haben mich nicht gespeist und getränkt, im Kerker haben sie den Nackten nicht besucht, und diese selben Menschen haben mich jetzt noch zur Zwangsarbeit verurteilt. Jetzt ist meine Schuld getilgt, jetzt haben wir abgerechnet, ich habe bezahlt, jetzt bin ich weder ihnen noch sonst jemandem etwas schuldig. Sie sind böse – nun, so werde auch ich böse sein. Sie sind grausam – so werde auch ich grausam sein.‘ Sehen Sie, das wird er sich sagen. Und ich schwöre Ihnen, meine Herren Geschworenen: mit Ihrer Schuldigsprechung werden Sie seine Schuld nur erleichtern, denn damit werden Sie seinem Gewissen das Schuldbewußtsein nehmen. Er wird das von ihm vergossene Blut verfluchen, aber nicht bereuen. Und zu gleicher Zeit vernichten Sie den Menschen in ihm, Sie nehmen ihm die Möglichkeit, noch ein Mensch zu werden, denn er würde dann sein Leben lang böse und blind bleiben. Oder wollen Sie ihn lieber schwer, grausam, mit der allerhärtesten Strafe bestrafen, die man sich nur denken kann, um dafür seine Seele aufzurichten und auf ewig zu retten? Wenn Sie das wollen, so erdrücken Sie ihn durch Ihre Barmherzigkeit! Sie werden sehen, Sie werden es hören, wie er zusammenzucken, und wie seine Seele erschrecken wird: ‚Mir diese Güte, mir soviel Liebe! – habe ich denn das verdient?‘ – wird das erste sein, was er ausruft. Oh, ich kenne, ich kenne dieses Herz, dieses stürmische, doch edelmütige Herz, meine Herren Geschworenen. Es wird sich vor Ihrer Tat niederbeugen, es sehnt sich nach einem großen Liebesbeweise, es wird entflammen und auferstehen, um dann nie wieder hinabzusinken. Es gibt Seelen, die in ihrer Begrenztheit die ganze Welt beschuldigen. Doch erdrücken Sie diese Seele mit Ihrer Barmherzigkeit, erweisen Sie ihr nur einmal im Leben Liebe, und sie wird ihre Tat verfluchen, denn es liegen viel, viel gute Keime in ihr. Seine Seele wird sich weiten und wird einsehen, wie barmherzig Gott ist, wie schön und gerecht die Menschen sind. Die Reue und die unermeßliche Schuld, die er von nun an abzutragen haben wird, werden ihn zuerst entsetzen und niederdrücken. Er wird nicht sagen: ‚Wir haben abgerechnet.‘ Er wird sagen: ‚Ich bin vor allen Menschen schuldig und bin der Unwürdigste unter ihnen.‘ Mit Tränen der Reue und brennender, quälender Rührung wird er ausrufen: ‚Die Menschen sind besser als ich, denn sie haben mich nicht verderben, sondern retten wollen.‘ Wie leicht ist es für Sie, diese Barmherzigkeit zu üben, denn bei dem Mangel jeder, auch nur einigermaßen glaubwürdiger Schuldbeweise, wird es Ihnen denn doch zu schwer werden, ihn schuldig zu sprechen. ‚Es ist besser, zehn Schuldige unbestraft zu entlassen, als einen Unschuldigen zu bestrafen‘ – hören Sie sie, meine Herren Geschworenen, hören Sie sie, diese erhabene Stimme aus dem vorigen Jahrhundert unserer ruhmreichen Geschichte? Wie, kommt es denn mir zu, mir geringem Menschen, Sie daran zu erinnern, daß das russische Gericht nicht nur dem Schuldigen eine Sühne auferlegen, sondern daß es den verlorenen Menschen retten will! Mag bei den anderen Völkern nach dem Buchstaben des Strafgesetzes gerichtet werden, wir aber richten nach dem Geist und der Bedeutung des Gesetzes, wir wollen die Rettung und die Wiedergeburt der Gefallenen! Und wenn es so ist, wenn Rußland und sein Gericht wirklich so ist, dann – vorwärts, Rußland! Und lassen wir uns nicht schrecken, oh, ängstigen Sie uns nicht mit rasenden Troiken, vor denen alle Völker voll Abscheu zur Seite treten! Nicht die irrsinnig jagende Troika, sondern der erhabene russische Triumphwagen wird ruhig und majestätisch ans Ziel gelangen. In Ihren Händen liegt das Schicksal meines Klienten, in Ihren Händen liegt auch das Schicksal unserer russischen Wahrheit und Gerechtigkeit. Sie werden sie retten, Sie werden sie verteidigen, Sie werden beweisen, daß wir Männer haben, die sie aufrechterhalten, und daß sie in guten Händen ruht!“

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